Dieser Fallkomplex besteht aus den Fällen (inklusive diesem):

Falldarstellung

„Das is ja auch nich‘ der Sinn nachher beim Pritschen. “

Volleyball in einer achten Klasse. Der Lehrer greift auf die letzte Stunde zurück, indem er darauf hinweist, daß das hohe Pritschen im Spiel sehr wichtig sei und daß dazu nun eine Partnerübung gemacht werden solle. Besonders das Stellungsspiel und die Ganzkörperstreckung sollten dadurch verbessert werden. Der Lehrer und ein Schüler demonstrieren die Übung ein paar Mal. Partner A wirft einen Federball zu B, der diesen mit einer Art Köcher auffängt, den er – einer Grubenlampe ähnlich – vor der Stirn trägt. Direkt danach spielt A einen Volleyball zu B, der ihn zurückpritscht. Die Schülerinnen und Schüler holen sich die Geräte und verteilen sich frei in der Halle. Der Lehrer geht herum und korrigiert einzelne Paare. Manche Paare haben Schwierigkeiten, den Badmintonball hoch genug zuzuwerfen. Dadurch ist Partner B gezwungen, sehr tief in die Hocke zu gehen, um noch mit der Stirn unter den Ball zu kommen. Aber auch bei Paaren, bei denen das Zuwerfen gut klappt, erkennt man, daß Partner B sich beim Fangen des Federballes nach unten wegduckt. Nach einiger Übungszeit…

L: Einmal festhalten, bitte, alle. Nur mal kucken eben kurz. Ich seh‘ das teilweise, daß ihr beim Auffangen des Federballes zu weit in die Hocke geht (zeigt tiefe Hocke). Das is‘ ja auch nich‘ der Sinn nachher beim Pritschen. Ihr dürft nich‘ zu weit ‚runtergehn, sondern halbe Höhe (zeigt Bereitschaftshaltung zum Pritschen) und daraus dann beim Pritschen strecken. Und vor allen Dingen dies Sich-Stellen-zum-Ball (zeigt Seitstellschritte), da müßt ihr beweglich werden. Ich weiß nich‘, wie oft ihr gemacht habt, jedenfalls nach zehn, 15 Mal wechseln.

Die Schülerinnen und Schüler üben weiter.

Interpretation

Erste Auslegung

Ein Lehrer unterbricht eine Übung, weil er beobachtet hat, daß die Schülerinnen und Schüler sie nicht so ausführen, wie er es erwartet. Er weist auf einen „Fehler“ hin, den er bei mehreren Paaren bemerkt hat. Indem er einmal die tatsächliche, unerwünschte und einmal die gewünschte Ausführung zeigt, macht er den Unterschied deutlich. Zudem begründet er, warum die Ausführung der Schülerinnen und Schüler nicht zweckgemäß ist. Nach seiner Korrektur gibt er Gelegenheit, die Übung fortzusetzen. Wenn man die Szene so beschreibt, scheint keinerlei Problem in der Bewegungskorrektur zu stecken. Auf der Ebene des Verfahrens hat der Lehrer durchaus angemessen gehandelt. Doch meine ich, daß er auf der Ebene des Inhalts einen Widerspruch erzeugt; konkret gesprochen: der „Fehler“, den die Schülerinnen und Schüler hier begehen, wird eigentlich vom Lehrer verursacht. Insofern ist eine Bewegungskorrektur hier gar nicht angebracht, sondern eher eine Aufgabenkorrektur. So kann für das Mißlingen der Korrektur auch keine der Normen aus [WOLTERS 1999] als Maßstab dienen. Diese Behauptung soll im folgenden erläutert und mit Argumenten gestützt werden.

Die Übung setzt sich aus zwei Teilen zusammen. Erstens soll ein Federball vor der Stirn mit einem Köcher aufgefangen, zweitens ein Volleyball gepritscht werden. Zu überlegen ist, in welchem Verhältnis die beiden Teile zueinander stehen. Da es offensichtlich um die Verbesserung des Fritschens geht, hat das Auffangen des Federballes die Funktion, auf das Pritschen vorzubereiten. Der Lehrer setzt also voraus, daß der erste Übungsteil eine positive Wirkung auf den zweiten hat. Daher schlägt er einen methodischen Umweg ein. Er beginnt nicht unmittelbar mit der Zielübung, sondern hofft, über A nach B zu kommen. Er muß der Meinung sein, daß sich der Umweg lohnt, daß der Umweg etwas lehrt, was die Zielübung alleine nicht gelehrt hätte. Dies trifft jedoch nur auf ein Element der Bewegung zu, auf die Stellung zum Ball. Wenn man einen Federball mit einem Köcher vor der Stirn auffangen kann, dann wird man auch in der Lage sein, einen Volleyball vor der Stirn anzunehmen. In diesem Fall kann eine positive Übertragung stattfinden. Für ein anderes Element jedoch ist der erste Übungsteil für den zweiten ein Hindernis. Während man nämlich, wie es die Schülerinnen und Schüler ja auch getan haben, zum Auffangen des Federballes in den Knien nachgeben muß (sonst springt der Federball wieder aus dem Köcher), geht es beim Pritschen darum, sich dem Ball entgegenzustrecken.[2]  Dies hat der Lehrer vor Beginn der Übung noch einmal betont. Die Kombination beider Übungsteile ist für das Ziel eines möglichst hohen und/oder weiten Pritschens, das durch eine Körperstreckung erreicht werden soll, unzweckmäßig. Der Lehrer selbst weist bei seiner Korrektur darauf hin, daß die Schülerinnen und Schüler deswegen nicht zu tief in die Hocke gehen sollen, weil es beim Pritschen nicht günstig sei („Das is‘ ja auch nich‘ der Sinn nachher beim Pritschen.“). Eben! möchte man ihm zurufen; daher ist es auch nicht sinnvoll, diese nachgebende Bewegung durch die erste Teilaufgabe zu provozieren, wenn die zweite das Gegenteil erfordert. Übungsteil A und B sind sozusagen unverträglich.

Erweiterte Auslegung

Folgen wir der Idee, mit einer Übung A zu einer Übung B zu gelangen, so stoßen wir auf eine fundamentale Bezugstheorie, die für jegliches schulische Lernen beansprucht wird. Es geht um die Lernübertragung oder den Transfer. Allgemein kann Transfer definiert werden als „Beeinflussung eines Lernprozesses durch vorangegangene Lernaktivitäten“ (EGGER, 1977, S. 190). Das ist zweifellos fast immer der Fall. Deshalb spricht ROTH (1983 b, S. 198) von Transfer im engeren Sinne, „wenn zwischen zwei deutlich verschiedenen, aber auch verwandten Lernaufgaben eine Übungsübertragung stattfindet“.

Um den Fall zu verstehen, ist die Unterscheidung von inhaltsbezogenem und verfahrensbezogenem Transfer, die GAGE und BERLINER (1986, S. 378) vorschlagen, hilfreich. Von inhaltsbezogenem Transfer sprechen sie, wenn eine Lernübertragung zwischen zwei Aufgaben erfolgt, die gleiche Elemente enthalten. Verfahrensbezogener Transfer hingegen bezieht sich auf Prinzipien, Regeln und allgemeine Strategien, die auch an inhaltlich unabhängigen Aufgaben erworben werden können. Unsere Unterrichtssituation läßt sich recht eindeutig der ersten Transferart zuordnen. Gerade hierbei warnen GAGE und BERLINER allerdings davor, sich allzu sehr auf den „Mythos Transfer“ zu verlassen, denn Übertragungsvermutungen sind empirisch z.T. nicht bestätigt worden. Sie empfehlen daher, genau zu prüfen, ob nicht eine direkte Vermittlung des konkreten Inhalts zweckmäßiger ist als der Umweg über allgemeine oder verwandte Inhalte. So schreiben sie: „Wenn Sie Platon im Original lesen wollen, studieren Sie Griechisch. Erwarten Sie aber nicht, daß Ihnen diese Lernerfahrungen beim Englischlernen helfen. Um Englisch zu lernen, sollten Sie lieber gleich Englisch studieren“ (1986, S. 378).

Auch wenn man die Transferannahmen des Lehrers unseres Falles teilt, so ist doch das Übungsarrangement zu prüfen. Es gilt zu bedenken, daß ein Transfer ja nicht nur das gewünschte positive Resultat, d.h. eine Erleichterung des zweiten Lernvorgangs, nach sich ziehen, sondern sich auch negativ auswirken kann. Insbesondere, wenn Aufgaben auf den ersten Blick ähnlich sind, aber unterschiedliche Reaktionen erfordern, besteht die Gefahr einer negativen Übertragung (vgl. GAGE & BERLINER, 1986, S. 381). Dieser auch als Interferenz bezeichnete Vorgang kann bei motorischen Lernprozessen auftreten, wenn die Koordinationsstrukturen zweier hintereinander gelernter Bewegungen gegensätzlich sind (vgl. MEINEL & SCHNABEL, 1987, S. 235). Eben dies tritt bei den beiden Übungen, die der Lehrer kombiniert, ein. Zwar verlangen beide Aufgaben eine ähnliche Stellung zum fliegenden Objekt, aber andererseits unterscheiden sich die Koordinationsstrukturen erheblich: Während Übungsteil A einen Negativimpuls herausfordert, also ein Nachgeben in den Beinen, um den Federball abzubremsen, muß beim Übungsteil B der Volleyball positiv beschleunigt werden, d.h. die Beine werden gestreckt. Hieraus läßt sich die Funktion der Bewegungskorrektur des Lehrers ableiten. Er versucht, durch seine Korrektur einer Interferenz entgegenzuwirken, die sich aber erst aus seiner eigenen Übungszusammenstellung entwickeln kann. Oder anders gesagt: er korrigiert eine an sich funktionale Bewegungslösung der Schülerinnen und Schüler, obwohl er seine Aufgabenstellung korrigieren müßte.

Lösungsmöglichkeiten

Bewegt man sich innerhalb des Konzeptes des Lehrers, sind drei Lösungen denkbar. Erstens könnte statt der Fangbewegung das Zuwerfen korrigiert werden. Denn je höher Partner A wirft, desto weniger ist B genötigt, tief in die Hocke zu gehen. Freilich bliebe die gegensätzliche Koordinationsstruktur beider Bewegungen weiterhin bestehen. Zweitens wäre eine leicht veränderte Übungskombination möglich; Aufgabe A bestünde darin, einen Softball zu köpfen, Aufgabe B wie bisher, einen Volleyball zu pritschen. Beide Bewegungen erfordern einen Positivimpuls, so daß Interferenzen nicht zu erwarten sind. Oder aber – drittens – die bisherige Übungsfolge wird beibehalten, mit dem Hinweis darauf, daß die Bewegungen Kontraste sind. Über die Gegensatzerfahrung könnte den Lernenden die Körperstreckung fühlbar und einsichtig gemacht werden.

Vertraut man dagegen nicht auf die Transferwirkung, sollte die Übungssituation so beschaffen sein, daß sie einen verstärkten Körpereinsatz herausfordert, etwa indem auf hohe und/oder weit entfernte Ziele gepritscht wird.

Fußnoten:

[1] Dieser Fall ist ebenfalls zu lesen bei WOLTERS (1997, S. 262).

[2] Allerdings ist die Körperstreckung beim Pritschen nicht in jeder Spielsituation gefordert. Man könnte diesen Sollwert durchaus anzweifeln.

Quelle:

Wolters, P. (1999). Bewegungskorrektur im Sportunterricht. Schorndorf: Hofmann.

Mit freundlicher Genehmigung des Hoffman Verlages.

https://www.hofmann-verlag.de/

Literaturangaben:

EGGER, K. (1977). Lernübertragungen in der Sportpädagogik (gekürzt). In H. RIEDER (Hrsg.), Bewegungslehre des Sports. Sammlung grundlegender Beiträge II (S. 190-201). Schorndorf: Hofmann.

GAGE, N.L. & BERLINER, D.C. (1986). Pädagogische Psychologie (4. Aufl.). Weinheim, München: Psychologie Verlags Union, Beltz.

MEINEL, K. & SCHNABEL, G. (1987). Bewegungslehre – Sportmotorik (8. Aufl.). Berlin: Volk und Wissen.

ROTH, K. (1983 b). Motorisches Lernen. In K. WILLIMCZIK & K. ROTH, Bewegungs-lehre (S. 141-239). Reinbek: Rowohlt.

WOLTERS, P. (1999). Bewegungskorrektur im Sportunterricht. Schorndorf: Hofmann.

WOLTERS, P. (1997). Bewegungskorrektur als Unterrichtsproblem. In G.

FRIEDRICH & E. HILDENBRANDT (Hrsg.). Sportlehrer/in heute – Ausbildung und Beruf (S. 257-266). Hamburg: Czwalina.

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