Dieser Fallkomplex besteht aus den Fällen (inklusive diesem):

 

 

Falldarstellung

„Machen Sie doch mal vor!“

Die Schülerinnen und Schüler einer 5. Klasse üben an mehreren Körben Sprungwürfe und Korbleger. Dabei macht vielen die Verbindung vom Laufen mit Dribbling zum Wurf Schwierigkeiten; einige begehen hierbei Schrittfehler. Andere, die Kleinsten der Klasse, schaffen es nicht, den Ball so hoch zu werfen, daß er den Korb überhaupt berührt. Diejenigen, die den Korbleger probieren, springen teilweise mit dem „falschen“ Bein ab. Der Lehrer versammelt die Schülerinnen und Schüler am Mittelkreis.

L: So, hört ihr mal zu. Insgesamt wird die Trefferquote, das merkt ihr ja selbst, wird die Trefferquote erheblich besser, nech? Nun sind wir natürlich noch nich‘ perfekt – ich bin auch nicht perfekt, bin sowieso kein Basketballer, macht ja nichts -, aber ich spiel’s gerne und ich hoffe, ihr spielt’s auch gerne.
SS: Ja, ja!
L: Wir bemühen uns darum. Kuck mal, was mir aufgefallen ist: Ihr lauft schön an und haut auch nich mehr so gegen das Brett, den Ball. Das is‘ sanft und schön und ruhig. Aber: Einmal springt ihr mir noch nicht hoch genug ab (streckt sich nach oben und führt auch einen Arm nach oben) und zweitens werft ihr den Ball von hier (zeigt Haltung wie beim Druckpaß), ganz häufig. Achtet mal drauf. Ihr sollt den Ball aber hoch, am höchsten Punkt, da, da erst werf‘ ich los (zeigt, wie man den Ball weit über dem Kopf abwirft). Weil ich ja dann dichter am Korb bin. Und von hier (hält den Ball vor der Brust) kann ja immer noch mein Gegenspieler … kann er auf den Ball patschen (zeigt es), das darf er ja. Aber wenn ich den Ball hoch führe, kommt er nich‘ ran. Nochmal zweiten Durchgang. Versucht – stop, stop, wart‘ noch mal – versucht das mal, daß ihr wirklich abspringt und den Ball hochschraubt und dann erst…
S1: Machen Sie doch mal vor!
L: Ich kann ’s ja mal versuchen.
S2: Ja, los!

Dur Lehrer läuft von rechts an und dribbelt dabei mit links. Das Dribbling sieht ungeübt aus, zudem schaut der Lehrer auf den Ball, nicht auf den Korb. Er macht einen Stop in Parallelstellung und schließt einen Sprungwurf an. Er wirft allerdings mit einer Art Einwurf mit gestreckten Armen ab, als er schon den höchsten Punkt des Sprunges überschritten hat, so daß der Ball schon deutlich vi n dem Korb wieder herunterfällt.

L: (als er sieht, daß der Wurf mißlingt) Schaade!
Die Klasse lacht laut.
L: Schade, schade. Wir können ja noch mal wetten, ob der nächste paßt, (während die Schülerinnen und Schüler schon aufstehen, mehr zu sich selbst) Also, wetten wir nicht, (lauter) Zweiten Durchgang. Los.

Interpretation

Erste Auslegung

Was ist an dem Dokument fragwürdig? Beginnen wir bei dem auffälligsten, dem Vormachen des Lehrers. Sein Vormachen soll innerhalb einer Bewegungskorrektur den Schülerinnen und Schülern den Sollwert[1] veranschaulichen. Kann man deshalb den Fall der Norm „Mache den Fehler und die Korrektur einsichtig“ unterordnen? Ich denke, daß eine solche Sollensforderung nur partiell auf das vorliegende Unterrichtsproblem zutrifft. Vom formalen Vorgehen ist die Szene ganz unproblematisch und sicherlich jedem, der mit alltäglichem Sportunterricht zu tun hat, vertraut. Die Schülerinnen und Schüler üben etwas, der Lehrer unterbricht das Üben, um zu korrigieren. Dazu versammelt er sie, verstärkt und lobt zunächst die seiner Meinung nach verbesserten Bewegungselemente und nennt dann Fehler, die er in der Übungsphase beobachtet hat. Dann kommt er darauf zu sprechen, wie die Bewegung eigentlich sein soll; er erläutert das einmal mit Worten, allerdings schon begleitet mit einer angedeuteten Bewegungsdemonstration. Schließlich zeigt er die Bewegung vor. Alles im Rahmen des zu Erwartenden, wenn nicht die Bewegung des Lehrers so desolat mißlungen wäre.

Entscheidender scheint mir die Frage zu sein, wieso dieser Lehrer gerade diese Bewegung vorführt. Er betont ja selbst, daß er im Basketball nicht erfahren sei („ich bin auch nicht perfekt, bin sowieso kein Basketballes macht ja nichts“). Heißt sein Zusatz „macht ja nichts“, daß es gar nicht darauf ankommt, wie gut man Basketball spielt, sondern nur, ob es einem Spaß macht? Dann ist es allerdings nicht folgerichtig, die korrekte Ausführung eines Wurfes zu verlangen. Oder will er mit seinem Vormachen zeigen, daß man, auch wenn man kein ausgesprochener Basketballer ist, einen guten Sprungwurf machen kann? Wenn dies sein Anliegen war, dann ist es ihm eindeutig mißlungen – das Lachen der Kinder zeigt, daß sie seine Bewegung als Versagen auffassen. Dem Lehrer scheint das Ausmaß seines Nicht-Könnens nicht bewußt zu sein, denn sonst hätte er sich wohl kaum auf eine solche Bewegungsdemonstration eingelassen. Sein Vorsatz war doch offensichtlich, den Schülerinnen und Schülern einen Sollwert für die Bewegung zu liefern. So wie sein Vormachen dann ausfällt, wäre es nur tauglich, um daran verschiedene Fehler und deren Ursachen zu erkennen.

Warum also korrigiert der Lehrer überhaupt und zweitens auf diese Art und Weise? Läßt man den Inhalt der Korrektur einmal beiseite, dann erscheint das Handeln des Lehrers gar nicht so abwegig – der Ablauf an sich kommt vielfach im Sportunterricht vor. Die ihm konventionell zugeschriebene Aufgabe des Verbesserns hat den Lehrer vermutlich dazu verleitet, etwas zu korrigieren und vorzumachen, das er selbst in keiner Weise beherrscht. Um es zuzuspitzen: Welcher Trainer käme auf die Idee, sich so darzustellen? Nun kann man argumentieren, ein Trainer sei ein Spezialist und ein Sportlehrer könne nicht alle Sportarten wie ein Spezialist beherrschen. Das ist sicherlich wahr; jedoch müßte ein Sportlehrer genug Sachverstand und Wissen haben, um die Bewegungen, die er vermitteln will, für den Unterricht aufbereiten zu können. Damit ist nicht gesagt, daß er alle erdenklichen Bewegungen perfekt vormachen können soll. Aber er muß wissen, worauf es ankommt und wie man gegebenenfalls für Anschauung sorgt. Ohne diese Kenntnisse läuft man Gefahr, die Bewegungskorrektur zum Ritual erstarren zu lassen, das niemandem nützt.

Lösungsmöglichkeiten

Erstens könnte man dem Lehrer empfehlen, seine eigenen praktischen Fertigkeiten im Basketball zu verbessern, damit er die Bewegungen, die er vermitteln will, selbst modellhaft (im Sinne eines realistischen Vorbildes für die Schülerinnen und Schüler) vorführen kann. Zweitens könnte er das Vormachen delegieren, d.h. eine Schülerin oder einen Schüler vormachen lassen. Drittens könnte er Materialien einsetzen, z.B. Bildreihen, Filme u.ä., wobei dies im Sportunterricht wohl eher selten praktiziert wird. Filme haben den Nachteil, daß sie zuviel technischen Aufwand erfordern; Bildreihen zeigen eben nur einzelne Bilder, so daß der dynamische Verlauf der Bewegung verloren geht. Alle drei Möglichkeiten sind allerdings nur dann angebracht, wenn man den Sollwert des Lehrers und die Sinnhaftigkeit des Sprungwurfes überhaupt für eine fünfte Klasse anerkennt.

Erweiterte Auslegung

Um zu verstehen, warum die Lehrer der beiden vorangegangenen Fälle sich so verhalten, scheint mir ein Grundbegriff der Soziologie nützlich. Zu Fragen ist hier, welche Rolle die Lehrer spielen und welche Folgen dies hat.

Obwohl es keinen einheitlichen Rollenbegriff gibt (vgl. GRIESE, 1989, ü. 547),[2] kann man allgemein feststellen, daß der Begriff Rolle versucht, das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft bzw. von Person und System zu beschreiben, zu erklären und zu prognostizieren (ebd.). DAHRENDORF (1969, S. 902) definiert Rolle folgendermaßen: „Der Komplex von Erwartungen, der sich an eine Position knüpft – also etwa alles, was vom Lehrer als Lehrer erwartet wird – ist eine soziale Rolle.“ Die Erwartungen wiederum beruhen auf Normen, die das Verhalten einzelner in der Gesellschaft regeln und es dadurch berechenbar machen. Die Interaktionspartner sehen den jeweils anderen nicht nur als Individuum an, sondern immer auch als Inhaber bestimmter Positionen, also etwa als Familienmitglied oder als Lehrer (vgl. COBURN-STAEGE, 1973, S. 13). Während so Sicherheit und Verläßlichkeit der sozialen Umwelt hergestellt wird, kann die Rolle für den einzelnen allerdings auch zum „Ärgernis“ (DAHRENDORF, 1969, S. 902) werden, weil er sich ihr nicht entziehen kann. Häufig ist den Handelnden jedoch gar nicht bewußt, daß sie eine Rolle „spielen“, denn die Normen, die eine Rolle mit sich bringt, werden im Prozeß der Sozialisation verinnerlicht (vgl. COBURN-STAEGE, 1973, S. 10 und S. 36). Zwischen Persönlichkeit und Rolle besteht in der Regel keine scharfe Trennung, denn die Erfüllung der mit der Rolle verknüpften Erwartungen wird zur Selbstverständlichkeit. Nur dann, wenn diese Selbstverständlichkeit hinterfragt oder hintergangen wird, kann die soziale Rolle als Entfremdung und als Gegensatz zur Persönlichkeit empfunden werden (ebd., S. 15). Normalerweise jedoch stellt der einzelne die Existenz und die Verbindlichkeit der Normen seiner Rolle nicht in Frage, sondern nimmt sie mit dem Gedanken „Man tut es eben so!“ hin (ebd., S. 43). Dies liegt z.T. auch daran, daß es meist mehrere diffuse Normen sind, die an einer Rolle hängen. Solche „Normaggregate“ werden durch Beobachtung und Nachahmung gelernt, ohne daß spezifische Rollenerwartungen bekannt oder klar sind (ebd., S. 45).[3] Eine Rolle wird meist als ein ganzheitliches Verhaltensmodell übernommen (ebd., S. 75). Fällt jemand aus der Rolle, verhält er sich nicht rollenkonform, dann haben die Bezugsgruppen verschiedene Sanktionsmöglichkeiten. Im Prinzip reichen sie vom Auslachen, Kopfschütteln oder Schulterzucken bis zum Freiheitsentzug (vgl. NAVE-HERZ, 1977, S. 25). Die dargestellten Merkmale von sozialen Rollen wirken recht rigide, als habe der Mensch keinerlei Freiheiten mehr, sich individuell zu verhalten. Hier setzt KRAPPMANNS Kritik an. Er betont die Eigenständigkeit des einzelnen gegenüber Rollen, die je nach Situation interpretiert werden könnten (1978, S. 98). Trotzdem hält auch er an dem Begriff fest: „Kommunikatives Handeln zwischen Interaktionspartnern, die sich an Normen orientieren, welche unabhängig von einem gerade aktuellen Interaktionsprozeß bestehen, soll hier als Rollenhandeln bezeichnet werden. Unter Rollen sind folglich sozial definierte und institutionell abgesicherte Verhaltenserwartungen zu verstehen, die komplementäres Handeln der Interaktionspartner ermöglichen“ (KRAPPMANN, 1978, S.98).

Sieht man die oben geschilderten Fälle „Dreisprung“ und „Basketball“ unter dem Aspekt des Rollenhandelns, dann wird das Verhalten der Lehrer besser verständlich. Im Fall „Dreisprung“ scheint es sowohl dem Lehrer als auch der Schülerin selbstverständlich, daß er auf ihren Fehler hinweist und ihr sagt, was sie verbessern soll. Beide haben also die Erwartung, daß es zur Rolle des Lehrers gehört zu korrigieren, während die Schülerin korrigiert wird. Diese Norm ist tatsächlich so stark, daß selbst der ganz unsinnige Fehler provozierende Geräteaufbau des Lehrers nichts daran ändert.

Einem Außenstehenden wäre sofort die Lösung eingefallen, die „Lernhilfe“ zu verändern anstatt die Schülerin zu korrigieren. Da es sich jedoch um Schule und Unterricht handelt, agieren sowohl der Lehrer als auch die Schülerin gemäß den institutionell abgesicherten und von ihnen verinnerlichten Verhaltenserwartungen. Mit anderen Worten: sie verhalten sich rollenkonform. Auch wenn ihr Verhalten von außen betrachtet wenig sinnvoll eil, scheint es doch mit dem Begriff Rollenhandeln erklärlich.

Der Lehrer des Falles „Basketball“ kann nur zu einem Teil die Erwartungen erfüllen, die an seine Rolle als Sportlehrer geknüpft sind. Zunächst bleibt seine Korrektur im Rahmen des Normalen. Solange er nur verbal korrigiert und solange die Klasse ihm zuhört, bewegen sich beide Interaktionspartner innerhalb ihres Spielraums, den ihnen ihre Rolle gibt. Ihr Handeln ist komplementär, weil bis hierhin die wechselseitigen Erwartungen vi im jeweils anderen eingehalten werden. Das Gleichgewicht zwischen Rollenerwartungen und tatsächlichem Rollenverhalten gerät jedoch ins Wanken, als die Schülerinnen und Schüler den Lehrer auffordern, die Bewegung vorzumachen. Obwohl er selbst schon vorher bemerkt hat, daß er ja kein Basketballer sei, wehrt er sich nicht gegen das Vormachen, wohl wall er weiß, daß zu seiner Rolle als Sportlehrer die unausgesprochene Norm gehört, daß er die Dinge, die er unterrichtet und korrigiert, selbst beherrschen sollte. Als ihm die Bewegungsdemonstration mißlingt, lachen die Schülerinnen und Schüler – als Bezugsgruppe sanktionieren sie so, daß der Lehrer seine Rolle nicht überzeugend spielt. Vermutlich richtet sich der Spott nicht so sehr gegen die Person des Lehrers, als vielmehr gegen den verallgemeinerten Inhaber einer Position. Gerade die Korrektur einer ganzen Klasse in frontaler Lehnweise verleitet die Beteiligten dazu, sich rollengemäß zu verhalten. Wäre dem Lehrer bewußt gewesen, daß er eine bestimmte Rolle übernommen hat, deren Normen er nur zum Teil erfüllen kann, dann hätte er vermutlich andere Wege der Korrektur gewählt.

Fußnoten:

[1] Den Sollwert, den der Lehrer in seiner verbalen Korrektur fordert, könnte man durchaus kritisieren.

[2] Zur Entwicklung des Rollenbegriffs vgl. COBURN-STAEGE (1973, S. 16-33). Dort werden die Ansätze von MEAD, LINTON, MERTON, GOFFMAN und PARSONS dargestellt.

[3] NAVE-HERZ (1977, S. 26) beschreibt die Internalisierung der Lehrerrolle: Eine Person X erlebt als Schülerin verschiedene Lehrerinnen und Lehrer, sie hört Urteile anderer Menschen über sie und unterhält sich auch selbst darüber. So bilden sich allgemeine Vorstellungen und Erwartungen, wie Lehrer zu sein haben. Wenn X sich dann für den Lehrerberuf entscheiden sollte, hat sie schon weitgehend die Anforderungen an diese Rolle akzeptiert, die durch die Ausbildung noch erweitert und modifiziert werden.

Quelle:

Wolters, P. (1999). Bewegungskorrektur im Sportunterricht. Schorndorf: Hofmann.

Mit freundlicher Genehmigung des Hoffman Verlages.

https://www.hofmann-verlag.de/

Literaturangaben:

COBURN-STAEGE, U. (1973). Der Rollenbegriff. Heidelberg: Quelle & Meyer.

DAHRENDORF, R. (1969). Rolle und Rollentheorie. In W. BERNSDORF (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie (2. Aufl.) (S. 902-904). Stuttgart: Enke

GRIESE, H. (1989). Rolle. In G. ENDRUWEIT & G. TROMMSDORFF (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie (S. 547-553). Stuttgart [u.a.]: Enke [u.a.].

KRAPPMANN, L. (1978). Soziologische Dimensionen der Identität (5. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta.

NAVE-HERZ, R. (1977). Die Rolle des Lehrers. Neuwied: Luchterhand.

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