Dieser Fallkomplex besteht aus den Falldarstellungen:

Falldarstellung

Sebastian stört den Unterricht

Die Lehrerin will der Klasse das Buch „Nisse geht zur Post“ vorlesen.

Lehrerin: In dieser Stunde möchte ich euch gerne Nisse vorstellen. Wer von euch kennt Nisse?
Kinder: Ich, ich.
Katrin: Hab zwei Bücher.
Lehrerin: Wer von euch kennt Nisse?
Katrin: Zwei Bücher.
Lehrerin: Na das ist ja toll.
Lea: Ich kenn keinen Nisse.
Sarah: Doch, ich kenn Nisse als Tier.
Lehrerin: So.
Manuel: Ich kenn auch noch ’n Nisse.
Fabian: Ich kenn Nissen.
Kinder: XXX.
Lehrerin: So, bevor wir damit anfangen, wollte Sebastian noch etwas sagen.
Sebastian: Meine Mutter hat einen Freund und der wollte zur Operation gehen, aber da hat er Schnupfen bekommen und da liegt er jetzt ganz lange im Krankenhaus und da hat Mama ihm so eine Karte geschickt und da XXX.
Lehrerin: Das ist ja prima. Wer kann uns mal sagen, wie dieses Buch heißt? Stella?
Stella: Nisse geht zur Post.
Lehrerin: Ja. Sie liest aus dem Buch vor (…). Das Paket ist von Onkel Bengt.
Manuel: Ich hab gedacht Berg.
Lehrerin: Was hältst du davon, Sebastian, wenn du jetzt auch mal ein bisschen leise bist?

Interpretation

Die Lehrerin beginnt mit dem Unterricht, indem sie auf ein Buch aufmerksam machen will. Dies geschieht jedoch nicht mit einer gezielten Frage zum Gegenstand (z. B. „Wer von euch kennt ein Buch von Nisse?“), sondern in Bezug auf einen Namen, der zunächst nicht in Zusammenhang mit der Geschichte steht: „Wer von euch kennt Nisse?“ Die Kinder antworten durcheinander, viele wollen etwas sagen. Diesen Vorspann beendet die Lehrerin, indem sie Sebastian die Gelegenheit gibt, etwas zu sagen. Sie geht davon aus, dass der Inhalt nicht zum Thema gehört, denn sie leitet ein mit: “ … bevor wir anfangen …“. Sebastian hat eine für ihn wichtige und auch traurige Mitteilung: Ein Freund seiner Mutter (vielleicht sein „Stiefvater“?) sollte operiert werden, mit Schnupfen liegt er nun im Krankenhaus. Hat er eine Lungenentzündung? Wie schwer ist seine Krankheit? Die Lehrerin weiß es nicht. Dennoch ist ein Krankenhausaufenthalt kein „prima“ Ereignis, wie die Lehrerin rückmeldet. „Das ist ja prima.“ Was? Dass der Freund vielleicht schwerkrank ist? Dass eine Bezugsperson von Sebastian wegzubrechen droht? Die Pädagogik ist eine Wissenschaft vom Menschen und nicht vom Kinde. Hätte die Lehrerin diese Reaktion gezeigt, wenn ihr eine Kollegin diese Familiengeschichte im Lehrerzimmer erzählt hätte? Sicher nicht, aber für Kinder, so eine implizite Meinung, gelten andere pädagogische Maximen. Kinder müssen nicht ernst genommen werden. Die Lehrerin geht zum Unterricht über. Aber Sebastian fühlt sich nicht verstanden, so dass er seine „Geschichte“ seinen Mitschülern erzählt – und die Lehrerin ermahnt ihn wegen der Störaktion.

Lehren

Nimmt man die These der mangelnden sprachlichen Verständigung als eine Erklärung für erschwertes Lernen an, so hat dies Konsequenzen für die Lehre. Prinzipiell sollte immer von einem generellen Missverstehen ausgegangen werden, d.h. es sollte überprüft werden, inwieweit mangelndes Verstehen Resultat für Schwierigkeiten sein kann. Eine weitere Konsequenz ist das Akzeptieren der individuellen begrifflichen Welt der Kinder. Auch wenn Fibeln und Lehrwerke laut Untersuchungen „Durchschnittswörter“ in Bezug auf den Bekanntheitsgrad benutzen und Lehrende um eine „verständliche“ Sprache bemüht sind, heißt dies nicht, dass alle Kinder diese Wörter kennen und schon gar nicht, dass sie damit ein für den Lernerfolg taugliches Wissen verbinden.

In Bezug auf das Beispiel Deborah wäre wünschenswert, wenn der Student Deborahs Wort akzeptiert hätte, indem er ihr sagt, wie man es schreibt, zugleich ihr aber auch eine Alternative angeboten hätte, die sie annehmen oder auch ablehnen kann. Dies auszuhalten muss auch gelernt werden.

Auch im Beispiel Sebastian unterlässt die Lehrerin eine Erweiterung seines begrifflichen Wissens. Statt angemessen auf seine Äußerung einzugehen und ihm anzubieten (und einzuhalten!), nach der Stunde dieses – für ihn wichtige – Thema aufzunehmen, akzeptiert sie seine Welt nicht.

Im Beispiel Janka gibt Janka dem Studenten immer wieder Vorgaben, durch die eine Kommunikation über den Gegenstand aufrechterhalten werden kann, ohne dass Janka von der Sache etwas verstehen muss, und der Student geht darauf nicht ein. Er gibt ihr keine Hilfen, sondern behindert sie durch seinen „Unterricht“ (vgl. Peschel in diesem Band). Würde der Student Janka und ihre Worte ernst nehmen, könnte er ihr das Wort aufschreiben, ihr anbieten, das „richtige“ Wort mit dem ihrigen zu vergleichen etc.

Die Lehrperson im Beispiel Samuel ignoriert Samuels sprachliche Kompetenzen. Für sie steht das Sozialverhalten im Vordergrund. Es liegt nahe, dass die Lehrerin deshalb „vergisst“, Samuel den Inhalt des Homonyms „Schlange“ deutlich werden zu lassen. Hätte es sich um das Wort „Rotationsmaschine“ gehandelt, ein Wort, das für die Lehrerin schwierig erscheint, wäre die Lehrerin viel eher bereit, das Wort zu erklären. Das hat jedenfalls die Untersuchung der Unterrichtsprotokolle gezeigt (vgl. Osburg 2002).
(…)

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