Hinweis – der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Falldarstellung

Janka hat keine Lust mehr zum Schreiben

Janka hat Schwierigkeiten beim Schreiben. Der Student lässt sie „raten“ und gibt ihr den Tipp, „mal zu überlegen.“

Janka: Keine Lust mehr zum Schreiben.

Student: Janka, ich würde mich echt doll freuen, wenn wir das Wort fertig schreiben würden. (…)

Janka: Was steht das jetzt?

Student: Lies mal. Jetzt steht da …

Janka: Karot:t

Student: Karot, genau. Da fehlt also mindestens noch ein Buchstabe.

Janka: Ja, welchen?

Student: Das weißt du doch eigentlich selber.

Janka: Nein.

Student: Doch bestimmt. Es heißt ja Karot-te … Pass auf, Karotte, Karot-te.

Janka: Ich weiß nicht mehr.

Student: Vielleicht hast du ja auch gar nicht mehr so große Lust. Kann das sein?

Janka: Mmh.

Student: Nee, näh? Hast gar nicht mehr so große Lust, näh?

Kind: Tö, brauchst du tö.

Student: Genau. Janka hängt ein <e> an <Karot>.

Student: Jetzt steht da Karote.

Janka: Karote? Warum das denn?

Student: Weil das hier ein kurzes O ist.

Janka: Warte, ich mach ein größeres.

Student: Nee, nicht ein größeres. Das O ist in Ordnung. Weißt du wie das ist bei offen und Ofen?

Janka: Ofen.

Student: Ofen, weißt du, und offen, weißt du?

Der Lehrer schlägt den Gong, die Stunde ist beendet.

Interpretation

Janka hat Schwierigkeiten beim Schreiben. Dies signalisiert sie durch verschiedene Verhaltensweisen. Sie tut verbal ihre Unlust kund. Der Student reagiert einerseits unangemessen, denn er erkennt ihren Hilferuf nicht, andererseits geschickt, denn er bietet seine Hilfe an, „… wenn wir das Wort …“. Janka lässt sich darauf ein. Aber der Student hält sich nicht an sein Versprechen, er meint, „… wenn du das Wort alleine…“. Grundschulkinder nehmen Sprache wortwörtlich (s. u., vgl. auch Augst 1978) und sind enttäuscht, wenn sie belogen und nicht ernst genommen werden. Gerade das macht der Student, ohne es zu merken. Die Pädagogik ist eine Wissenschaft vom Menschen und nicht vom Kinde.

Die Szene spitzt sich zu, da auch der Student sich belogen fühlt. Er fragt, welcher Buchstabe fehlt, Janka sagt, sie wisse es nicht, der Student behauptet erneut, dass sie es wisse und sie dementiert erneut. Der Student glaubt ihr noch immer nicht und zieht eine falsche Konsequenz: Er unterstellt ihr prinzipielle Unlust, statt ihre Unlust auf mangelnde Verständigung, Hilfestellung und unangemessene Aufgabenstellung zurückzuführen.

Zum Glück (für den Studenten?) kommt ein Mitschüler zur Hilfe, der Janka sagt, was fehlt. Janka nimmt erneut einen Versuch auf sich, der sich aber in einem Ratespiel verliert. Die bedrückende sprachwissenschaftliche Erklärung des Studenten „Weißt du wie das ist bei offen und Ofen?“ lässt Janka nur stupide ein Wort wiederholen – verstehen wird weder sie noch der Student.

Lehren

Nimmt man die These der mangelnden sprachlichen Verständigung als eine Erklärung für erschwertes Lernen an, so hat dies Konsequenzen für die Lehre. Prinzipiell sollte immer von einem generellen Missverstehen ausgegangen werden, d.h. es sollte überprüft werden, inwieweit mangelndes Verstehen Resultat für Schwierigkeiten sein kann. Eine weitere Konsequenz ist das Akzeptieren der individuellen begrifflichen Welt der Kinder. Auch wenn Fibeln und Lehrwerke laut Untersuchungen „Durchschnittswörter“ in Bezug auf den Bekanntheitsgrad benutzen und Lehrende um eine „verständliche“ Sprache bemüht sind, heißt dies nicht, dass alle Kinder diese Wörter kennen und schon gar nicht, dass sie damit ein für den Lernerfolg taugliches Wissen verbinden.

In Bezug auf das Beispiel Deborah wäre wünschenswert, wenn der Student Deborahs Wort akzeptiert hätte, indem er ihr sagt, wie man es schreibt, zugleich ihr aber auch eine Alternative angeboten hätte, die sie annehmen oder auch ablehnen kann. Dies auszuhalten muss auch gelernt werden.

Auch im Beispiel Sebastian unterlässt die Lehrerin eine Erweiterung seines begrifflichen Wissens. Statt angemessen auf seine Äußerung einzugehen und ihm anzubieten (und einzuhalten!), nach der Stunde dieses – für ihn wichtige – Thema aufzunehmen, akzeptiert sie seine Welt nicht.

Im Beispiel Janka gibt Janka dem Studenten immer wieder Vorgaben, durch die eine Kommunikation über den Gegenstand aufrechterhalten werden kann, ohne dass Janka von der Sache etwas verstehen muss, und der Student geht darauf nicht ein. Er gibt ihr keine Hilfen, sondern behindert sie durch seinen „Unterricht“ (vgl. Peschel in diesem Band). Würde der Student Janka und ihre Worte ernst nehmen, könnte er ihr das Wort aufschreiben, ihr anbieten, das „richtige“ Wort mit dem ihrigen zu vergleichen etc.

Die Lehrperson im Beispiel Samuel ignoriert Samuels sprachliche Kompetenzen. Für sie steht das Sozialverhalten im Vordergrund. Es liegt nahe, dass die Lehrerin deshalb „vergisst“, Samuel den Inhalt des Homonyms „Schlange“ deutlich werden zu lassen. Hätte es sich um das Wort „Rotationsmaschine“ gehandelt, ein Wort, das für die Lehrerin schwierig erscheint, wäre die Lehrerin viel eher bereit, das Wort zu erklären. Das hat jedenfalls die Untersuchung der Unterrichtsprotokolle gezeigt (vgl. Osburg 2002).

(…)

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