Dieser Fallkomplex besteht aus den Falldarstellungen:

Falldarstellung

Samuel beteiligt sich nicht am Unterricht

Die Lehrerin liest aus dem Bilderbuch: „Nisse geht zur Post“ vor. Nisse steht bei der Post in einer Warteschlange.

Lehrerin:   „Ein Glück, dass die Schlange kurz ist“, sagt Nisse. Samuel meldet sich.
Lehrerin: Samuel, hast du ’ne Frage?
Samuel: Die Schlange kurz ist?
Lehrerin: Das find ich toll, wie du heute Morgen aufpasst, deine Ohren gewaschen sind.

Die Lehrerin liest weiter. Samuel meldet sich nicht mehr.

Interpretation

Auch in dieser Sequenz beteiligt sich der Schüler zunächst am Unterricht. Er versteht nicht, er fragt nach. Wenn Kinder direkt nach Begriffen fragen, erleichtert dies Lehrenden zu erkennen, wo Schüler Probleme haben (vgl. Füssenich 1987). Häufig werden begriffliche Diskrepanzen aber nicht gemerkt, weil mangelndes Verstehen oft nur indirekt erschlossen werden kann. In diesem Beispiel verpasst die Lehrerin allerdings die Chance, dieses Angebot zu nutzen. Sie lobt Samuel einerseits, tadelt ihn aber zugleich hinsichtlich seines generellen Verhaltens. Dieses geschieht zudem noch in Form einer Metapher, eine Verschlüsselung, die Kinder einer zweiten Klasse tendenziell nicht verstehen (s. u.). Statt Samuel mit Würde zu begegnen, die sprachlichen Unklarheiten zu beseitigen und ihm die geforderte Hilfe zu geben, ist sie gefangen im Unterrichtsalltag und geprägt von ihrer Theorie, das Kind als unfertiges zu erziehendes Wesen zu betrachten. Die Pädagogik ist eine Wissenschaft vom Menschen und nicht vom Kinde. „Das Kind will ernst genommen werden, es verlangt Vertrauen, erwartet Weisungen und Ratschläge. Wir verhalten uns ihm gegenüber unernst, wir verfolgen es ständig mit unserem Argwohn, wir stoßen es durch mangelndes Verständnis ab, und oftmals verweigern wir ihm sogar die erforderliche Hilfe.“ (Korczak1989, S. 127)

Lehren

Nimmt man die These der mangelnden sprachlichen Verständigung als eine Erklärung für erschwertes Lernen an, so hat dies Konsequenzen für die Lehre. Prinzipiell sollte immer von einem generellen Missverstehen ausgegangen werden, d.h. es sollte überprüft werden, inwieweit mangelndes Verstehen Resultat für Schwierigkeiten sein kann. Eine weitere Konsequenz ist das Akzeptieren der individuellen begrifflichen Welt der Kinder. Auch wenn Fibeln und Lehrwerke laut Untersuchungen „Durchschnittswörter“ in Bezug auf den Bekanntheitsgrad benutzen und Lehrende um eine „verständliche“ Sprache bemüht sind, heißt dies nicht, dass alle Kinder diese Wörter kennen und schon gar nicht, dass sie damit ein für den Lernerfolg taugliches Wissen verbinden.

In Bezug auf das Beispiel Deborah wäre wünschenswert, wenn der Student Deborahs Wort akzeptiert hätte, indem er ihr sagt, wie man es schreibt, zugleich ihr aber auch eine Alternative angeboten hätte, die sie annehmen oder auch ablehnen kann. Dies auszuhalten muss auch gelernt werden.

Auch im Beispiel Sebastian unterlässt die Lehrerin eine Erweiterung seines begrifflichen Wissens. Statt angemessen auf seine Äußerung einzugehen und ihm anzubieten (und einzuhalten!), nach der Stunde dieses – für ihn wichtige – Thema aufzunehmen, akzeptiert sie seine Welt nicht.

Im Beispiel Janka gibt Janka dem Studenten immer wieder Vorgaben, durch die eine Kommunikation über den Gegenstand aufrechterhalten werden kann, ohne dass Janka von der Sache etwas verstehen muss, und der Student geht darauf nicht ein. Er gibt ihr keine Hilfen, sondern behindert sie durch seinen „Unterricht“ (vgl. Peschel in diesem Band). Würde der Student Janka und ihre Worte ernst nehmen, könnte er ihr das Wort aufschreiben, ihr anbieten, das „richtige“ Wort mit dem ihrigen zu vergleichen etc.

Die Lehrperson im Beispiel Samuel ignoriert Samuels sprachliche Kompetenzen. Für sie steht das Sozialverhalten im Vordergrund. Es liegt nahe, dass die Lehrerin deshalb „vergisst“, Samuel den Inhalt des Homonyms „Schlange“ deutlich werden zu lassen. Hätte es sich um das Wort „Rotationsmaschine“ gehandelt, ein Wort, das für die Lehrerin schwierig erscheint, wäre die Lehrerin viel eher bereit, das Wort zu erklären. Das hat jedenfalls die Untersuchung der Unterrichtsprotokolle gezeigt (vgl. Osburg 2002).
(…)

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