Hinweis – Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Einleitende Bemerkungen

[…] An unseren Forschungen, über die wir hier sehr selektiv berichten, wirkten Jugendliche im Alter von 11 bis 17 Jahren mit. Die Teilnehmer besuchten zum Zeitpunkt der Untersuchung unterschiedliche Schultypen. Im Folgenden beziehen wir uns auf eine einzige Gruppendiskussion, die im März 2000 von drei Gymnasiastinnen und einem Gymnasiasten im Alter von 13 bzw. 14 Jahren bestritten wurde. Die Diskussion fand in einem Raum einer katholischen Gemeinde statt, aus deren Jugendgruppe die Forschungspartner rekrutiert wurden. Zur Teilnahme meldeten sich die Jugendlichen freiwillig, als sie im Rahmen eines ihrer Treffen von dem Diskussionsleiter gefragt wurden, ob sie Lust hätten, sich zu je vier Diskutanden an einem Gruppengespräch zum Thema „Geschichte“ zu beteiligen. Die Teilnehmer besuchten damals die achte Klasse derselben Schule einer mittelgroßen Stadt im Südwesten Deutschlands. […]

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Das Deutsche trifft – anders als andere Sprachen – einen Unterschied zwischen der Geschichte als dem Gesamt der bloß vergangenen Ereignisse und Historie als einem Begriff, der auf die Bedeutungshaltigkeit bestimmter vergangener Phänomene aufmerksam macht (vgl. etwa das entsprechende Stichwort „Geschichte“ in der Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie).

Mindestens ansatzweise ist den Untersuchungsteilnehmern diese Unterscheidung geläufig:

Achim: 1990 ist ja im Prinzip auch Geschichte oder 1999.
Heide: Und die letzte Sekunde was wir grad geredet haben is auch Geschichte.
Achim: Ja, also so ganz extrem würd ich das jetzt nicht sagen. Ist zwar Vergangenheit aber- (Z.852-857)

Achim macht geltend, dass nicht bloß weit zurückliegende Ereignisse oder Epochen zur Geschichte zu zählen sind, sondern auch Zeiten, die noch gar nicht lange zurückliegen, vielleicht sogar nur ein Jahr. Heide radikalisiert diese Auffassung, indem sie behauptet, selbst das, was sie in der letzten Sekunde geredet hätten sei Geschichte. Soweit möchte Achim dann aber doch nicht gehen und deutet eine wesentliche Differenz an: die letzte Sekunde ist „zwar Vergangenheit aber-„, weiter kommt Achim leider nicht, da er hier unterbrochen wird. Da er auch nicht mehr auf seinen angefangenen Satz zurückkommt,  können wir nur vermuten, dass er möglicherweise ergänzt hätte „aber keine Geschichte“. Es liegt nahe, einen solchen Anschluss anzunehmen. Darüber hinaus wird deutlich, dass der Geschichtsbegriff der Jugendlichen – als hätten sie die Lehren des Historismus verinnerlicht – nicht vor ihrer eigenen Gegenwart halt macht. Geschichte ist demnach nicht allein etwas, das lange her wäre und auf seine Archivierung wartete.

Mit freundlicher Genehmigung des Forums Qualitative Sozialforschung.
http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/view/904
 

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