Hinweis – Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Einleitende Bemerkungen

[…] An unseren Forschungen, über die wir hier sehr selektiv berichten, wirkten Jugendliche im Alter von 11 bis 17 Jahren mit. Die Teilnehmer besuchten zum Zeitpunkt der Untersuchung unterschiedliche Schultypen. Im Folgenden beziehen wir uns auf eine einzige Gruppendiskussion, die im März 2000 von drei Gymnasiastinnen und einem Gymnasiasten im Alter von 13 bzw. 14 Jahren bestritten wurde. Die Diskussion fand in einem Raum einer katholischen Gemeinde statt, aus deren Jugendgruppe die Forschungspartner rekrutiert wurden. Zur Teilnahme meldeten sich die Jugendlichen freiwillig, als sie im Rahmen eines ihrer Treffen von dem Diskussionsleiter gefragt wurden, ob sie Lust hätten, sich zu je vier Diskutanden an einem Gruppengespräch zum Thema „Geschichte“ zu beteiligen. Die Teilnehmer besuchten damals die achte Klasse derselben Schule einer mittelgroßen Stadt im Südwesten Deutschlands. […]

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Miriam: […] weil, wenn man die Geschichte so zurückverfolgt dann sieht man ja, daß da meistens ganz schön große Fortschritte warn. Und ob das dann auch vielleicht in der nächsten Zeit so ist, daß ganz große Fortschritte sind, vielleicht Leben auf dem Mond oder so was?
Achim: Ja oder Rückschritte. Wie jetzt vom Römischen Reich/
Heide: oder Atombombe/
Achim: ins Mittelalter. (Z. 311-319)

Bei der Betrachtung „der“ Geschichte zeigen sich den Jugendlichen „große Fortschritte“. Daher stellt sich für sie die Frage, ob sie in der näheren Zukunft auch weitere solche Fortschritte erwarten können. Vielleicht ein Leben auf dem Mond? Keineswegs schließen sie allerdings aus, dass es gar nicht zu so einem Fortschritt, sondern ganz im Gegenteil zu einem „Rückschritt“ kommen kann.

Beispiele dafür nennen sie dann auch: Da ist zum einen ein vermeintlicher Rückschritt vom Römischen Reich zum Mittelalter – eine Sichtweise, die möglicherweise der gängigen Rede vom „dunklen Mittelalter“ geschuldet ist –, und als weiteres rezenteres Beispiel die Erfindung bzw. der Einsatz der Atombombe. Den Untersuchungsteilnehmern ist also durchaus auch klar, dass es keine Erwartungen bezüglich der Zukunft gibt, die sich mit Sicherheit erfüllen. Es kann Fortschritte, aber genauso gut Rückschritte geben. Eine eindeutige Prognose ist nicht möglich. Der geschichtliche Erfahrungsraum und Erwartungshorizont ist, was die Zukunft anbelangt, offen. Es kann behauptet werden, dass bei den Jugendlichen Kontingenzbewusstsein vorliegt. Damit ist nicht zuletzt deutlich, dass das Begriffspaar „Fortschritt/Rückschritt“ fallspezifisch angewandt wird. Weder repräsentiert „die“ Geschichte für die Jugendlichen eine reine Verfallsgeschichte, noch eine durchweg optimistische Entwicklung zum immer Besseren hin. Die Gewissheit, die aus beiderlei globalen Geschichtsentwürfen gleichermaßen zu beziehen wäre, gibt es für die Forschungspartner nicht.

Mit freundlicher Genehmigung des Forums Qualitative Sozialforschung.
http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/view/904
 

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