Hinweis: Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Einleitende Bemerkungen

Es handelt sich hier um einen Ausschnitt aus einer Unterrichtsstunde im Fach Geschichte/Politik einer 8. Klasse Realschule (11 Schülerinnen und 20 Schüler), die am 27.02.1997 stattfindet. Der Lehrer ist ausgebildeter Fachlehrer für Geschichte und gleichzeitig Klassenlehrer. Die Unterrichtseinheit lautet: Das Ende der Revolution und der Aufstieg Napoleons – Ende der Napoleonischen Herrschaft (siehe Schulbuch).

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Alisa:        ja (Roman: ??? (Tablett)) das sieht man so ein bisschen glaub ich, weil ehm, die Sansculotten, die hatten ja die langen Hosen, und man sich das ja vielleicht denken, dass sie (kurze) Kniebundhosen anhatten
SCHw:     Ja aber ich find, die sieht lang aus, die Hose
Lehrer:     selbst wenn du jetzt mal, also ich denke, das können wir nicht hundertprozentig entscheiden, ob das nun Kniebundhosen sind oder nicht, aber Alisa hat die Aussage gemacht, das muss ein niederer Adeliger sein, der nicht viel Geld hat, weil er Kniebundhosen trägt
Alisa.        Ja weil die andern, die bißchen reicher sind, also (in) höheren Stand (stehn), die harn ja diese Kleider und (diesen) Schleier eh, ja (erklär)
SCHm:     die Adeligen haben ja immer Kniebundhosen, und die Armen diese eh normalen Hosen ((Roman): die Sansculotten) ja die Sansculotten
Lehrer:     ja und, was hat das jetzt mit der Aussage von Alisa zu tun? bist du der Meinung, das stützt sie, oder das stützt (eben) nicht
SCHm:     dass das keine Armen sind, Adelige sind???
Alex G.:    ja das kann aber trotzdem ein Diener sein, und dann zu diesem Anlass hat er ehm Kniebundhosen gekriegt, damit er (da) bisschen eh gut aussieht
Lehrer:     nee, ich glaub das Thema Diener hatten wir vorhin schon abgebakt, damit dass man keinen niedrigen Diener damit beauftragen würde, die Krone der Kaiserin dem Kaiser zu reichen, Cristo

Zuletzt hatte der Lehrer gesagt, dass er keine Kniebundhosen auf dem Bild sieht. Alisa scheint (mittlerweile) nicht mehr so sicher zu sein („das sieht man so ein bisschen glaub ich“). Im Übergang von dem Umhang bzw. dem „Schleier“ der knienden Josephine zu dem Knie des neben ihr stehenden Mannes in Hosen vermag Alisa den Bund einer Knie-bundhose zu erkennen, sie begründet dann: „weil die Sansculotten, die hatten ja die langen Hosen an“ (Kontextwissen). Damit nimmt sie eine Unterscheidung vor. Schließt sie daraus, dass die anderen, also die, die sich, salopp formuliert, um Napoleon versammeln, Kniebundhosen anhaben müssen (ob man das nun sieht oder nicht), denn um einfache Sansculotten kann es sich dabei ja nicht handeln. Wie ist sonst zu verstehen, dass sie sagt: „und man sich das ja vielleicht denken, dass sie (kurze) Kniebundhosen anhatten“?

Die Länge der Hose, darüber wurde zuvor im Unterricht gesprochen, war in Zeiten der Französischen Revolution wichtiges Unterscheidungskriterium, darauf zielt sie nun ab. Was ihr nicht präsent ist und worauf der Lehrer vermutlich mit seiner ersten Intervention hin-auswollte, ist, und dies steht noch zur Klärung aus, dass dies „jetzt“ (also 1804) möglicherweise kein angemessenes Unterscheidungskriterium bzw. -merkmal mehr ist.

Festgehalten werden kann: Alisas Argumentation – obschon sie ganz richtig Adelige/Kniebundhosen und Sansculotten/lange Hosen unterscheidet bzw. zuordnet – lässt sich nicht ohne weiteres nachvollziehen.

Der Lehrer hat ein Interesse, die entstandenen Unklarheiten und Ungereimtheiten zu klären. So hatte er sich die Besprechung der Arbeitsergebnisse sicher nicht vorgestellt. Er nimmt die Schülerin ernst Wird ihre Beobachtung nunmehr zur (unbeabsichtigten) Wissensabfrage oder zum gemeinsamen Bildungsgang auf der Suche nach Klärung (als produktiver Nebeneffekt)? Eine andere Schülerin entgegnet, dass sie findet, „die sieht lang aus, die Hose“. Offenbar nehmen Einzelne den optischen Bestand der Abbildung subjektiv unter-schiedlich wahr, nach dem Motto: Ich sehe was, was du nicht siehst, bzw. ich sehe etwas anderes als du.

Wie wird nun mit diesen differenten Wahrnehmungsmustern und Sichtweisen bzw. Sehgewohnheiten umgegangen, bei denen ja auch auf dem Spiel steht, ob die Arbeitsgruppe von Alisa ihrem Ergebnis weiterhin Geltung verschaffen kann?

Der Lehrer schließt mit den Worten: „selbst wenn du jetzt mal“ an. Vermutlich richtet er sich an Alisa. Er bricht den begonnenen Satz ab und geht davon aus: „das können wir nicht hundertprozentig entscheiden, ob das nun Kniebundhosen sind oder nicht“. Ihm zufolge kann dies nicht objektiv beurteilt werden. Soll diese Diskussion damit beendet sein? Er setzt dann erneut mit „aber“ an und greift noch einmal sinngemäß auf, was Alisa eingangs gesagt bzw. vorgetragen hatte: „das muss ein niederer Adeliger sein, der nicht viel Geld hat, weil er Kniebundhosen trägt“. Er hält daran fest, zu klären, was es mit diesem Begründungszusammenhang auf sich hat. Also ungeachtet dessen, ob der Mann auf der Abbildung nun kurze oder lange Hosen trägt, bleibt da noch ein Aspekt, den Alisa angesprochen hat, und darum soll es nun gehen, dies soll näher geprüft werden. Er steuert das Gespräch und fordert – dies legt die Form seiner Rede nahe – alle Schülerinnen und Schüler auf, sich daran zu beteiligen.

Zunächst äußert sich Alisa (vermutlich auch stellvertretend für ihre Gruppe). Sie erklärt, um ihre Aussage über den niederen Adel und die Kniebundhosen zu stützen, dass „die andern, die bisschen reicher sind, also (in) höheren Stand (stehn), die ham ja diese Kleider und (diesen) Schleier“ (Gegenhorizont/Gegenwelt). Sie hat beim Betrachten der Abbildung offenbar bemerkt, dass die abgebildeten Menschen unterschiedlich gekleidet sind, und geht davon aus, dass die Wohlhabenderen – (die Formulierung „(in) höheren Stand (stehn)“ kann bedeuten: die einem höheren Stand angehören und/oder die räumlich erhöht stehen) – diejenigen sind, die „diese Kleider“ tragen. Kleider sowie Schleier, also die eher aufwändigen Gewänder deutet sie als Zeichen für Reichtum, wertet sie gleichsam als Ausdruck für eine hohe gesellschaftliche Stellung. Dabei ist ihr auch aufgefallen, dass da ein Mann (abseits) steht, der offenbar anders gekleidet ist, der Hosen trägt. Diese Beobachtungen haben sie bzw. ihre Arbeitsgruppe dazu veranlasst, zwischen verschiedenen Statusgruppen zu unterscheiden.

Was die Kleidung als Unterscheidungsmerkmal für eine bestimmte gesellschaftliche Stellung (soziale Rangordnung) anbelangt, so lässt sich hier wieder von einem Bourdieu- Thema, von einem Thema, das Fragen von Lebensstil und Lebensführung berührt, sprechen. Versucht die Schülerin, sich eine gesellschaftliche (Rang-)Ordnung nach dem Motto: „Kleider machen Leute“ zu erklären? Hat sie bei dem Versuch, Anhaltspunkte zu finden für die „Herrschaft Napoleons“ (wie es in der Aufgabenstellung heißt), die Abbildung genau studiert und da ist ihr schon kleidermäßig eine Art Zwei-Klassen-Gesellschaft aufgefallen? Handelt es sich hierbei nicht um eine beachtlich detaillierte und kritische Beobachtung? Über diese Aspekte von Stil und Ausdruck wird das Thema der sozialen Ungleichheit thematisiert. Was Alisa beschäftigt, das sind offenbar diejenigen, die in der Hierarchie „unten“ stehen. Das Verstehensbedürfnis kreist weniger um die Figur und den Prunk Napoleons als vielmehr um sein „Fußvolk“. Der kulturelle Kontext wird in den Deutungsversuchen der Schülerin zu einem politischen Kontext.

Nun stellt ein Schüler fest: „die Adeligen haben ja immer Kniebundhosen“ (siehe im Schulbuch, S. 147), hingegen, so fährt er fort, „die Armen diese eh normalen Hosen“. Er greift bestätigend den von einem Mitschüler, vermutlich Roman, eingeworfenen Begriff „Sansculotten“ auf. Worauf will der Schüler hinaus? Dass wirklich arm nur die sind, die lange Hosen tragen? Will er mit Bezug auf die letzte Äußerung des Lehrers verdeutlichen, ob Geld oder kein Geld, der Adel trägt sowieso Kniebundhosen? Damit wäre die Aussage Alisas, dass der niedere Adel kein Geld hat und deshalb Kniebundhosen trägt, entkräftet. Vorerst bleibt die Äußerung des Schülers vage. Der Lehrer insistiert und will von dem Schüler wissen, ob er der Meinung ist, dass das, was er gesagt hat, Alisas Aussage stützt oder nicht stützt.

Der Lehrer versucht, das Gespräch dahingehend zu steuern, dass die einzelnen Schülerbeiträge aufeinander bezogen bleiben, dass ein Dialogisieren, eine Dialogfähigkeit der Schülerinnen und Schüler untereinander gewährleistet bleibt. Dabei hält er die Fäden in der Hand. Hätte es aber in Anbetracht dieses inhaltlich nicht einfach zu entscheidenden Sachverhaltes überhaupt eine andere Möglichkeit des Kommunizierens gegeben?

Auf die Rückfrage des Lehrers hin legt der Schüler dar: „dass das keine Armen sind, Adelige sind“. Er scheint das Argument Alisas nicht stützen zu wollen, insofern er offenbar davon ausgeht, dass – kurz gesagt – Adelige nicht arm sind.

Nun wendet Alex G. ein: dass das „aber trotzdem ein Diener“ sein kann (also der Mann links im Bild, hinter bzw. neben Josephine), und als Erklärung führt er an, dass dieser Mann eben „zu diesem Anlass […] eine Kniebundhose gekriegt“ hat und zwar „damit er (da) bisschen eh gut aussieht“.

Was hat dies nun zu bedeuten? Das mit den „Armen“ und dem „reicher sein“ usf., die Fragen von Verteilung und sozialer Ungleichheit, dies alles lässt die Schülerinnen und Schüler nicht los. Alex G. malt sich hier eine weitere Möglichkeit aus, die darin besteht, dass jemand zum Schein, zu Präsentationszwecken ein Kleidungsstück geliehen bekommt, damit er – so könnte man sagen – nicht aus dem Rahmen fällt, dass seine Einfachheit die Festlichkeit nicht stört. Wie kommt er an dieser Stelle darauf? Reagieren die Schülerinnen und Schüler nun zunehmend spontan und assoziativ auf die Abbildung? Handelt es sich hier um ein Interaktionsereignis/Interaktionsmodell (Lorenzer), das die Jugendlichen aus eigenen Erfahrungen kennen: das Ausleihen von Kleidern, die man sich selber nicht leisten kann? Handelt es sich hier um eine Form des „Sich in die fremde Szene (vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen) Hineinversetzens“, um eine Art szenisches Verstehen einer fremden Handlung? Argumentiert Alex G. gegen seinen Mitschüler, dass es sich auf der Abbildung durchweg nicht nur um Adelige handelt? Festgehalten werden kann, dass die Erklärung von Alex G. der Argumentation Alisas wieder näher kommt, insofern auch er es durchaus für möglich hält, dass zumindest einer auf der Abbildung einen einfachen Status hat (ja noch nicht einmal adelig ist). Will er damit die Argumentation der Mitschülerin stützen?

Er greift aber auf etwas zurück, was mittlerweile verworfen worden war, nämlich dass es sich bei dem besagten Mann mit dem Kissen um einen Diener handeln könnte. Jedenfalls reagieren die Schüler aufeinander und greifen Beiträge inhaltlich auf (Dialogfähigkeit).

Der Lehrer wehrt das erneute Aufflammen der Diener-Thematik ab. Also an dem Punkt war man bereits weiter gekommen. Er legt die Begründung dafür noch einmal dar: Einen „niedrigen (zwischenzeitlich hatte er „einfachen“ gesagt) Diener“ würde man nicht beauftragen, die Krone zu überreichen.

Nun wird Cristo aufgerufen, der sich offenbar gemeldet hat. Den Schülerbeiträgen zuvor war vermutlich mit Kopfnicken oder Handzeichen stattgegeben worden.

Mit freundlicher Genehmigung des Klinkhardt Verlages.
http://www.klinkhardt.de/verlagsprogramm/1278.html

Nutzungsbedingungen:
Das vorliegende Dokument ist ausschließlich für den persönlichen, bzw. nicht-kommerziellen Gebrauch bestimmt – es darf nicht für öffentliche und/oder kommerzielle Zwecke außerhalb der Lehre vervielfältigt, bzw. vertrieben oder aufgeführt werden. Kopien dieses Dokuments müssen immer mit allen Urheberrechtshinweisen und Quellenangaben versehen bleiben. Mit der Nutzung des Dokuments werden keine Eigentumsrechte übertragen. Mit der Verwendung dieses Dokuments erkennen Sie die Nutzungsbedingungen an.