Hinweis: Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Einleitende Bemerkungen

Es handelt sich hier um einen Ausschnitt aus einer Unterrichtsstunde im Fach Geschichte/Politik einer 8. Klasse Realschule (11 Schülerinnen und 20 Schüler), die am 27.02.1997 stattfindet. Der Lehrer ist ausgebildeter Fachlehrer für Geschichte und gleichzeitig Klassenlehrer. Die Unterrichtseinheit lautet: Das Ende der Revolution und der Aufstieg Napoleons – Ende der Napoleonischen Herrschaft (siehe Schulbuch).

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Clara: betrachtet das Bild und beschreibt, was es über die Herrschaft Napoleons aussagt, Napoleon dachte er sei sehr mächtig und krönte sich selbst zum Kaiser, wie auch später seine Frau, Napoleon lebte sehr prunkvoll, ähnlich wie Ludwig der Vierzehnte, die Geistlichkeit stand hinter ihm, Napoleon zeigt ihnen den Rücken, eine Geste, womit er sagen wollte, er sei etwas Höheres und Bessern, da sehr viele Geistliche, in Klammem bei der Krönung der Frau von Napoleon dort waren, nehmen wir an, dass Napoleon sehr religiös war, die Adeligen standen etwas im Abseits, da sie nicht sehr viel Ansehen bei Napoleon hatten, die Frau von Napoleon ist ähnlich wie er angezogen, in Klammem prunkvoll, das geigt, dass Napoleon ihr die gleiche Macht gibt, wie er sie schon hatte.

Clara liest den – wie der Lehrer es nennt – „Arbeitsvorschlag“ vor: „betrachtet das Bild und beschreibt, was es über die Herrschaft Napoleons aussagt“. Vergegenwärtigen wir uns zunächst diese Aufgabenformulierung, bevor wir schauen, wie die Schülerinnen und Schüler darauf reagieren. Sie ist auslegungsbedürftig, auch weil mehrere Teilaufgaben darin enthalten sind: Im Anschluss an die Betrachtung soll das „Bild“ (es handelt sich um eine Abbildung eines Ausschnittes des Originals) beschrieben werden, und zwar im Hinblick auf einen bestimmten Aussagegehalt, der die „Herrschaft Napoleons“ anbelangt, also kontextbezogen und zielgerichtet auf einen thematischen Aspekt. Die Schülerinnen und Schüler sollen sich somit gewissermaßen als Hermeneuten einer bestimmten Bildbotschaft betätigen. Allerdings ist mit der Vorgabe „Herrschaft“ bereits der Erarbeitung einer möglichen Sinnstruktur des Bildes vorgegriffen. Halten wir fest: Einerseits enthält die Aufgabenstellung diesen Vorschub im Hinblick auf die Herrschaft Napoleons, und andererseits sollen sich die Schüler und Schülerinnen, orientiert am optischen Bestand der Abbildung, neutral dazu verhalten und deskriptiv beschreibend vorgehen.

Was kann aber „Herrschaft“ bedeuten? Herrschaft kennzeichnet eine Form gesellschaftlicher Über- und Unterordnung, ein politisches Ordnungsprinzip, und impliziert die Verfügung über andere. Herrschaft ist ein Element, eine Kategorie einer bestimmten Vorstellung von Politik. Alternativ dazu gibt es den Gegenentwurf, das Ideal von Herrschaftsfreiheit. Hier nun ist Herrschaft bezogen auf die zentrale Figur „Napoleon“ (Herrscherfigur). Die Aufgabenstellung impliziert bzw. suggeriert, dass es mit der Abbildung etwas Bestimmtes auf sich hat, dass Napoleon im Kontext von Herrschaft zu betrachten ist. Es geht also bei dieser Aufgabenstellung nicht darum, zunächst mal feststellen zu können, ob die Abbildung überhaupt etwas über die Herrschaft oder über etwas ganz anderes eine Aussage macht. Dann hätte die Aufgabenstellung etwa lauten können: Was sagt die Abbildung über Napoleon aus, bzw. was sagt die Abbildung aus? Die Fragestellung suggeriert also eine bestimmte, an einer Einzelperson festgemachte Vorstellung von Herrschaft (so als handele es sich um ein Wesensmerkmal von Personen) und ist für eine ganz andere Betrachterperspektive nicht offen.

Kurzum:

Die Arbeitsaufgabe ermöglicht den Schülerinnen und Schülern nicht, spontan auf das Bild/die Abbildung zu reagieren. Es gibt (ähnlich wie im Fall „Insel“) eine kategoriale Vorgabe. Gibt es auch hier für die Schülerinnen und Schüler bloß die Möglichkeit, darauf zu reagieren? Schauen wir zunächst, wie die Arbeitsgruppe von Clara die Arbeitsaufgabe gelöst hat.

Einschränkend ist zu sagen, dass es hier nicht darum gehen wird, die Arbeitsergebnisse dahingehend zu werten, was entspricht bzw. was entspricht nicht den historischen ‘Tatsachen’ bzw. dem, was davon überliefert ist usw. Schließlich handelt es sich auch dabei um Interpretationen. Vielmehr geht es darum, zu klären:

► Worin besteht die Bedeutsamkeit (dieses Unterrichtsangebotes) für die Schülerinnen und Schüler?

► Was kennzeichnet ihre Deutungsversuche, ihre Zugänge zum Verstehen?

► Welche Vorstellungen, Ausdrucks formen usf. artikulieren die Schülerinnen und Schüler von sich aus?

► Lassen sich hier Stellen markieren, an denen die Schülerinnen und Schüler das Bedürfnis entwickeln, die soziale Welt zu verstehen?

Nachdem Clara die Aufgabenstellung vorgelesen hat, fährt sie damit fort, ihren bzw. den Text, der aus ihrer Gruppen- bzw. Partnerarbeit (mit ihrer Tischnachbarin) hervorgegangen ist, vorzulesen:

„Napoleon dachte er sei sehr mächtig und krönte sich selbst zum Kaiser, wie auch später seine Frau“

Zunächst einmal legt sie relativierend dar, dass Napoleon „dachte er sei sehr mächtig“. Ihre Deutung zielt auf einen inneren Zustand, den die Abbildung allein nicht hergeben kann. Gleichsam ist damit (bewusst) offen gehalten, dass es anders gewesen sein kann, dass es sich dabei um eine Selbstüberschätzung gehandelt haben kann, um eine Art Selbsttäuschung. Handelt es sich dabei nicht implizit um ein Hinterfragen von hegemonialer Männlichkeit, von überzogener Selbstherrlichkeit bzw. Selbstdarstellung als latente Botschaft?

Dann werden der Folge nach zwei markante Handlungen beschrieben (Chronologie). Die eine Handlung besteht darin, dass Napoleon „sich selbst“ krönte, diese leitet – mit einer analogisierenden Formel „wie auch“ – über zu einer nächsten Handlung (von der die Abbildung zeugt), dass Napoleon „später seine Frau“ krönte. Möglicherweise spielt hier der im Schulbuch abgedruckte Untertitel hinein: „Napoleon krönt 1804 seine Frau, nachdem er sich selbst zum Kaiser gekrönt hatte“. Auch dort ist nicht weiter spezifiziert, ob bzw. dass er seine Frau zur Kaiserin krönte.

Napoleon fungiert also als Akteur der beschriebenen Handlungen, auch wenn seine Vormachtstellung durch die eingangs gewählte Formulierung empfindliche Einbußen erfährt. Sinngemäß ließe sich etwa sagen: Weil er sich für mächtig hielt, krönte er sich und seine Frau. Damit rekurrieren die Schülerinnen deutend auf eine psychische Situation Napoleons. Zum Ausdruck kommt – trotz in Anspruch genommener Innensicht auf die Gedankenwelt Napoleons – eine kritische Distanziertheit. Die beiden Schülerinnen erweisen sich damit als bemerkenswert urteilsfähig. Dies gilt es im Auge zu behalten.

„Napoleon lebte sehr prunkvoll, ähnlich wie Ludwig der Vierzehnte“

Nun ist ein Lebensumstand Napoleons näher beschrieben. Das abgebildete Arrangement, die Kleidung, die Utensilien usf. werden offenbar als Zeichen für Prunk gedeutet, lassen die Beschreibung „prunkvoll“ (ein Begriff, der im „modernen“ Sprachgebrauch eher ungewöhnlich ist) als die „herrschende“ Ästhetik sinnhaft erscheinen. Die Schülerinnen leiten daraus ab, dass diese materiell aufwändige Lebensweise, diese Lebensführung für Napoleon überhaupt bestimmend war. Im (Gegen-)Horizont der Vergangenheit wird Prunk zeitdiagnostisch als signifikantes Merkmal herausgearbeitet und mit einer anderen historischen Herrscherfigur in Verbindung gebracht. Mit der Anschlussformulierung „ähnlich wie“ stellen die Schülerinnen einen Vergleich her zu „Ludwig der Vierzehnte“ und verlassen damit den engeren Kontext der Abbildung. Der materielle Wohlstand, der in der Abbildung deutlich wird, hat sie offenbar daran erinnert und lässt diesen Vergleich aus ihrer Sicht angemessen erscheinen. Möglich ist auch, dass sie die zweite Aufgabenstellung dazu inspiriert hat („2 Erinnert euch an die Herrschaft der absolut regierenden Könige […]“)

Festgehalten werden kann: Die Schülerinnen arbeiten als signifikantes Merkmal die besonders aufwändige Lebensführung von Napoleon heraus, sie stellen überdies einen Vergleich, eine Analogie zu einem früheren Herrscher/Monarch (möglicherweise handelt es sich um eine Art prototypische Vorstellung; vgl. Seel 2000, 199) her. Damit wird auch auf eine strukturelle Ähnlichkeit zwischen (dem bürgerlichen) Napoleon und einem absolutistischen Herrscher angespielt. Vor allem machen sie aber dies: Sie beanspruchen bzw. verwenden kulturelle Schemata zur Deutung (vgl. Reckwitz 2000).

„die Geistlichkeit stand hinter ihm, Napoleon steigt ihnen den Rücken, eine Geste, womit er sagen wollte, er sei etwas Höheres und Besseres“

Die nun folgende Formulierung, „die Geistlichkeit stand hinter ihm“ ist (vorläufig) mindestens zweideutig. Dies kann bedeuten, sie – also verschiedene Personen als „Geistlichkeit“ identifiziert (Kleidung, Utensilien werden offenbar gedeutet) – standen räumlich angeordnet „hinter ihm“ oder: sie hielten zu ihm/stärkten ihm den Rücken im übertragenen Sinne (wobei einzuräumen ist, dass der Papst sitzt und weitere Geistliche auch neben Napoleon stehen). Die nächste Beschreibung: „Napoleon zeigt ihnen den Rücken“ (Präsens) stützt die Deutung, dass die räumliche Anordnung gemeint ist, die man auf der Abbildung zu erkennen vermag. Anschließend wird die Körperhaltung Napoleons als eine von ihm bewusst eingesetzte „Geste“ gedeutet („womit er sagen wollte“). Seine Körpersprache wird also als eine Art Machtdemonstration (Hierarchie von höher und besser) interpretiert (Ordnungsparameter). Wobei auch hier wieder eine konjunktivische, indirekte Rede: „womit er sagen wollte, er sei etwas Höheres und Besseres“, schon der Form nach, eine kritisch distanzierte Betrachtungshaltung zum Ausdruck bringt. Auch hier zielen die Schülerinnen auf einen inneren Zustand, der über den optischen Bestand der Abbildung hinausgehend gedeutet wird. Das sind Stellen, an denen die Schülerinnen ihre eigenen Vorstellungen einbringen, hier reagieren sie direkt auf das Material und stellen subjektiv Bedeutsames heraus, indem sie das Interaktionsereignis mit ihnen zur Verfügung stehenden Schemata und Muster deuten. Hierbei handelt es sich, ähnlich wie zuvor, um eine persönliche Übersetzungsleistung. Gleichzeitig heben sie Unterscheidungen (Differenzierungen) hervor (höher, besser).

„da sehr viele Geistliche, in Klammem bei der Krönung der Frau von Napoleon dort waren, nehmen wir an, dass Napoleon sehr religiös war“

Auf der Abbildung werden „sehr viele Geistliche“ identifiziert. Mit dem in Klammern gesetzten Einschub „bei der Krönung der Frau von Napoleon“ heben sie noch einmal das zentrale Ereignis der Abbildung deutlich hervor, auf das sie sich hier beziehen. Aus der im Bild dokumentierten Anwesenheit einer Vielzahl Geistlicher leiten sie die Annahme ab, „dass Napoleon sehr religiös war“, ganz sicher sind sie offenbar nicht. Auch hier zielen sie wieder auf eine innere Haltung, wobei sehr viele Geistliche mit sehr religiös korrelativ gesetzt scheint.

Die Schülerinnen stellen einen für sie plausibel erscheinenden kausalen Kontextbezug her, den sie – da sie keine genauen Anhaltspunkte dafür haben – zurückhaltend als Annahme qualifizieren (das ist so eine Vermutung, die sie haben). Sie versuchen sich zu erklären, welche Funktion die zahlreich erschienenen Geistlichen haben könnten. Und die Erklärung dafür sehen sie am ehesten bei Napoleon selber. Warum sonst soll der ein Interesse an all den Geistlichen gehabt haben? Diese Überlegung haben sie möglicherweise angestellt. (Dass der ranghöchste Geistliche, der Papst, üblicherweise den Kaiser krönte usf., ist den Schülerinnen nicht präsent.)

„die Adeligen standen etwas im Abseits, da sie nicht sehr viel Ansehen bei Napoleon hatten“

Bezogen auf weitere abgebildete Personen, scheinen sie sich sicherer zu sein. Sie identifizieren „Adelige“ (Kleidung, Utensilien), die, wie Clara sagt, „im Abseits“ (Sportsprache, Fußball) stehen, und begründen dies damit, dass sie „nicht sehr viel Ansehen bei Napoleon hatten“. Hier mobilisieren sie offenbar Vorwissen, über das Verhältnis zwischen dem Adel und Napoleon wissen sie Bescheid.

Die Schülerinnen sind hier offenbar an einer Standort- und Verhältnisbestimmung (von Napoleon zu verschiedenen Gruppen) orientiert. Die räumliche Anordnung inspiriert sie, eine Vorstellung von einem bestimmten sozialen und gesellschaftlichen Gefüge, von Hierarchie zu entwickeln. Die Aufgabe besteht ja darin, etwas zu finden, das Auskunft gibt über die Herrschaft Napoleons, und dies ist in dem Text, den Clara vorträgt, aufgefächert über räumliche Positionen, Anordnungen, Gesten usf. Über Unterscheidungsmerkmale, wie „im Abseits“ stehen, wird Raum als sozialer Raum mit sozialen Positionierungen gedeutet.

„die Frau von Napoleon ist ähnlich wie er angezogen, in Klammem prunkvoll, das zeigt, dass Napoleon ihr die gleiche Macht gibt, wie er sie schon hatte“

Eine abschließende Beobachtung gilt der „Frau von Napoleon“, sie sei „ähnlich wie er angezogen“. Das gemeinsame signifikante Merkmal „prunkvoll“ ist in Klammern vermerkt. Dies zeige den Schülerinnen zufolge, dass Napoleon seiner Frau „die gleiche Macht gibt“, und zwar die gleiche Macht, die er „schon hatte“. Hier ließe sich nun wieder von Analogievorstellungen sprechen.

Die Handlung wird im Kontext äußerer Merkmale gedeutet und interpretiert: so als würde (symbolhaft) über die Kleidung, als gleichsam geteiltes und für alle sichtbares Erscheinungsbild der Zusammengehörigkeit (Partnerlook), ein Vorsprung an Macht eingeholt. Die Frau gehört nun dazu, und alle können dies sehen (die Öffentlichkeit ist sozusagen eingeweiht).

Festgehalten werden kann:

Die Schülerinnen haben die Abbildung unter einer Fragestellung „gelesen“ und eine bzw. „ihre“ Geschichte dazu geschrieben bzw. konstruiert. Den vorgegebenen Begriff „Herrschaft“ greifen sie nicht auf. Deutlich wird aber, was sie darunter verstehen (ein Sachverhalt, der zu tun hat mit räumlichen Positionierungen, mit einer besonderen Ausstattung, mit besonderen Gesten, Befugnissen usf.). Signifikant scheint ihnen der Prunk (als dominantes Zeichen des ihnen fremden Kontextes, als etwas, das es im eigenen Alltag nicht gibt), der über die Abbildung vermittelt und überliefert ist und der Aufschluss gibt über die besondere aufwändige Lebensführung Napoleons. Die Schülerinnen arbeiten über Strukturähnlichkeiten (Vergleiche, Analogien) und Unterscheidungen (Differenzen). Sie durchforsten dabei offenbar auch ihre eigene Erfahrungs- und Symbolwelt und deuten kulturelle Schemata und Gesten. Dies alles kennzeichnet ihre Deutungsversuche und Zugänge zum Verstehen der ihnen zunächst fremden Welt.

Aber: Machen sich Clara bzw. ihre Arbeitsgruppe nicht bereits mit der Eingangsformulierung („Napoleon dachte …“) zu den Hermeneutinnen eines latenten Sinns des Gemäldes: So prunkvoll und mächtig, wie Napoleon sich hier in Szene hat setzen lassen, war er nicht? Unterlegen die Schülerinnen damit nicht ihren Text mit einer bemerkenswerten Urteilskraft, trotz Bezugnahme auf vermeintliche innere Zustände, trotz zunächst nicht näher begründeter Annahmen?

Literaturangaben:

Reckwitz, Andreas: Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms. Weilerswist 2000

Seel, Norbert Psychologie des Lernens. Lehrbuch für Pädagogen und Psychologen. München, Basel 2000

Mit freundlicher Genehmigung des Klinkhardt Verlages.
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