Objektive Hermeneutik

6. Abschließende Bemerkungen

Die vorangegangenen Ausführungen sollten ein ungefähres Bild des objektiv hermeneutischen Vorgehens gezeichnet haben. Es ging darum, einige methodische Eigentümlichkeiten des Verfahrens an der Auseinandersetzung mit dem Material zu zeigen. Die Methodentechnik ist dabei von den empirischen Befunden nicht zu trennen. Die methodologisch grundlegende Unterscheidung manifester und latenter Sinnstrukturen, auf die ich zu Beginn hingewiesen habe, ermöglicht der Analyse schulisch pädagogischen Handelns, Problemschichten freizulegen, die einer deskriptiven oder umschreibenden Interpretation leicht entgehen können.
Wir haben gesehen, dass die hermeneutische Rekonstruktion eines kurzen Sequenzstrangs zur Explikation einer prägnanten Fallstruktur führt. Dazu noch einige Bemerkungen und Erläuterungen:
  • Die Befunde, auf die wir gestoßen sind, sind ausgesprochen unbequem. Sie zeigen, vorsichtig gesagt, die Begrenztheit eines pädagogischen Wohlwollens. Der vorliegende Fall scheint sich ganz Adornos Sichtweise anzuschließen, der Schüler erfahre „an der Schule jäh, schockhaft zum ersten Mal Entfremdung“ und er repräsentiert das pädagogische Motiv, diesen Schock zu mildern.(7) Das gelingt nicht. Im Gegenteil: die Versuche, das Zeugnis zu „entinstitutionalisieren“, verschaffen den Schülern nur vordergründig Erleichterung. Hinter der freundlichen Fassade kommen Unterwerfungslogiken zum Vorschein, die die schulische überbieten. Der Zugriff auf das Schülersubjekt ist nicht gelockert, sondern verschärft.
    Die Kritik, die mit diesem Befund einhergeht, ist deshalb so unbequem, weil sie einer Desillusionierung von als solchen gar nicht kritikfähigen Handlungsmotiven gleichkommt. Wer wollte sich gegenüber dem Motiv, die Schüler vor den Ansprüchen und Härten der Institution in Schutz zu nehmen, verschließen? Dieses Motiv scheint aber nicht nur ohnmächtig zu sein; es scheint geradezu ihm widersinnige Konsequenzen zu zeitigen.
  • Unbequem wären die Befunde natürlich auch für den Autor eines interpretierten Textes. In dem vorliegenden Fall wäre zu erwarten, dass die Lehrerin unsere Interpretation empört zurückweisen würde. Sie hat es ja gut gemeint und statt das pädagogische Wohlwollen zu würdigen, erfährt es durch die Textanalyse eine scharfe Kritik. Ich will hier nur darauf hinweisen, dass eine objektiv-hermeneutische Fallrekonstruktion damit systematisch zu rechnen hat. Gerade weil sie die Ebene der latenten Sinnstrukturen in den Blick nimmt, kann die Interpretation nicht ohne Weiteres (sondern nur unter der Voraussetzung einer außerordentlichen Bereitschaft zur Selbstkritik) mit der Zustimmung der Handelnden rechnen. Die methodische Radikalität der Objektiven Hermeneutik erfordert insofern gesteigerte forschungsethische Ansprüche. Die Datenanonymisierung hat nicht nur den Anspruch der „Probanden“, einer (wissenschaftlichen) Öffentlichkeit gegenüber geschützt zu werden, zu berücksichtigen. Es stellt sich je nach Forschungszusammenhang darüber hinaus das forschungsethische Problem, die Probanden vor der „Rückmeldung“ der Interpretationsergebnisse zu schützen.
  • Die fallrekonstruktiven Befunde wurden an einem sehr reduzierten Datenmaterial gewonnen. Die Reduktion betrifft dabei nicht nur die Kürze des ausgewählten Sequenzstrangs (s.o.); sie betrifft auch die Auswahl selbst. Die Interpretation hat sich nämlich nicht leiten lassen von der Suggestivität des Datenmaterials. In dessen Vordergrund stehen natürlich die Smilies. Der erste Blick fällt ja nicht auf die von uns interpretierte Textsequenz (vielleicht mit Ausnahme der Überschrift: Mein erstes Zeugnis), sondern darauf, dass hier für die Beurteilung von 6 Kompetenzbereichen nicht Noten, sondern Smilies verwendet werden. Es ist typisch für das sequenzanalytische Vorgehen, das Datenmaterial nicht entlang seiner suggestiven Komponenten, nicht entlang der „schönen Stellen“ abzuarbeiten, sondern sich streng an der sequenziellen Abfolge zu orientieren. In unserem Fall hat das dazu geführt, dass wir mit der Überschrift begonnen haben, und dann die ihr folgenden Sprechakte interpretiert haben.
    Dass wir nicht mehr zu den Smilies gekommen sind, ist natürlich nicht forschungslogisch motiviert. Eine durchgeführte Analyse müsste als nächsten Sequenzstrang sich der bedeutungsstrukturellen Explikation der 6 Smilies widmen. Schon ein erster Blick darauf lässt vermuten, dass deren „Beurteilungssemantik“ sich in die bisherige Rekonstruktion nahtlos einfügt. Dem Smily für Schreiben ist ja kein Lächeln mehr zu entnehmen und hier überhaupt von einem Smily zu sprechen, ist mit eben jenen zynischen Implikationen verbunden, mit denen das darüber freue ich mich sehr behaftet war. Das sequenzielle Verfahren lässt sich also nicht durch die vordergründige Attraktivität dieser Ausdrucksgestalt leiten. Es berücksichtigt dieses Datum an der Sequenzposition, in der es erscheint und nimmt es zum Anlass der Überprüfung der bis dahin gewonnenen Befunde.
  • Die Bestimmtheit, mit der die Methode der Objektiven Hermeneutik an kleinsten Wirklichkeitsausschnitten zu verbindlichen, auf dem Wege eines methodisch kontrollierten Vorgehens gewonnenen Aussagen zu kommen versucht, darf nicht als „Hermetik“ missverstanden werden. Der Versuch, zu eindeutigen, empirisch begründeten, materialgesättigten und theoretisch anspruchsvollen Aussagen über sinnstrukturelle Konstellationen zu gelangen, soll den Forschungsprozess nicht abschließen, sondern soll ihn öffnen. Der forschungslogische Sinn der an der Beispielinterpretation gewonnenen Befunde zu Strukturproblemen pädagogischen Handelns besteht nicht darin, letztgültige Gewissheiten auszusprechen, sondern er besteht darin, Forschungsfragen erst aufzuwerfen. Gehen wir von der Triftigkeit der dargelegten Befunde aus, dann stellen sich von dort her erst motivierte Forschungsfragen: Haben wir es vielleicht mit einem vereinzelten, an die konkrete Lehrerin gebundenen Phänomen zu tun? Sind empirische Varianten auffindbar? Ist das diagnostizierte Problem ein grundschulspezifisches Phänomen? Finden sich ähnliche Phänomene in anderen kulturellen Kontexten? (usw.) Die Klarheit der empirischen Aussagen, die die Objektive Hermeneutik anstrebt, steht nicht im Zeichen apodiktischer Antworten, sondern ist einem Forschungsverständnis geschuldet, für das empirisch verbindliche Aussagen ein Mittel darstellen, theoriesprachlich und empirisch konturierte Fragen erst aufzuwerfen.

Fußnoten:

(1) Jede Protokollierung stellt natürlich eine Reduktion der protokollierten Wirklichkeit dar, die durch keine noch so exakte Protokollierungstechnik vermieden werden kann. Was aber durch die Protokollierungspraxis vermieden werden kann ist die Erzeugung eines die protokollierte Wirklichkeit deutenden Protokolls. Diesbezüglich nimmt die Objektive Hermeneutik eine methodische Gegenposition zur „dichten Beschreibung“ (Geertz) der ethnografischen Methoden ein.

(2) Diese normative Verfasstheit pädagogischer Praxis ist dafür verantwortlich, dass ein zentrales Anliegen pädagogischer Reflexion in der systematischen Formulierung pädagogischer Ethiken besteht. Der Dauerdiskurs über Fragen des Seinsollens wäre gar nicht denkbar, wenn die pädagogische Praxis als solche normativ indifferent wäre.

(3) Die Bezeichnung „Objektive Hermeneutik“ hat nichts mit dem Anspruch „ewiger“ und „unumstößlicher“ Wahrheiten zu tun. In Anlehnung an Poppers Vorschlag der Falsifikation (eine Aussage ist nur dann empirisch überprüfbar, wenn sie widerlegbar ist) schlägt die Objektive Hermeneutik ein Verfahren der Textinterpretation vor, mittels dessen sich Lesarten falsifizieren bzw. widerlegen lassen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger, beansprucht das Adjektiv „objektiv“.

(4) Ausführlich zum interpretatorischen Vorgehen: Andreas Wernet (2006): Einführung in die Interpretationstechnik der Objektiven Hermeneutik. 2. Aufl. Wiesbaden.

(5) Ein beeindruckendes Beispiel schildert Freud: „In dem Berichte [in einem sozialdemokratischen Blatt] über eine gewisse Festlichkeit war zu lesen: Unter den Anwesenden bemerkte man auch seine Hoheit, den Kornprinzen. Am nächsten Tag wurde eine Korrektur versucht. Das Blatt entschuldigte sich und schrieb: Es hätte natürlich heißen sollen: den Knorprinzen.“ (Sigmund Freud (1916-17): Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Frankfurt/M. 1999, S. 28) Man sieht also, dass sich das sozialdemokratische „Ressentiment“ gegen das Königshaus trotz aller Bemühungen um Korrektheit und trotz der Möglichkeit der Textkorrektur Ausdruck verschafft.

(6) Wenn hier von Abschluss oder Schlussstrich gesprochen wird, ist damit natürlich nicht ein absolutes Ende eines Forschungsprozesses gemeint. Wie in allen Forschungszusammenhängen kann nur von einem vorläufigen Abschluss die Rede sein.

(7) Vgl.: Theodor W. Adorno (1965): Tabus über dem Lehrberuf. In: Gesammelte Schriften. Band 10.2. Frankfurt/M. 1977, S. 656-673, S. 662.