Objektive Hermeneutik

4. Zum methodischen Vorgehen

Es liegt auf der Hand, dass ein Forschungsverständnis, das den Text als empirisches Datum postuliert, seine methodischen Operationen entlang der Frage bildet, welche Aussagen sich entlang einer strengen Textbetrachtung begründen lassen. Wie kann das vermeintlich subjektive Textverständnis (im Gegensatz zu der vermeintlichen Objektivität der Tatsachenfeststellung und der Zahl) in den Rang einer überprüfbaren, und das heißt: widerlegbaren Aussage gehoben werden? (3) Die Antwort kann nur in methodischen Operationen bestehen, die eine strenge und verbindliche Textbetrachtung gewährleisten. Die Objektive Hermeneutik formuliert entsprechend eine Methode einer sehr detaillierten und akribischen Textanalyse. Die drei wichtigsten Interpretationsprinzipien hierbei sind: (4)
– Wörtlichkeit
– Kontextfreiheit
– Sequenzialität
Diese drei Prinzipien der Interpretationen stehen in wechselseitigem Zusammenhang. Sie sollen hier kurz erläutert werden:

Wörtlichkeit. Das Prinzip der Wörtlichkeit verpflichtet die Interpretation auf den gegebenen Text. Zu interpretieren ist das, was da steht (protokolliert ist). Es wird nichts ausgelassen; es wird nichts hinzugefügt; es wird nichts „umgedichtet“. Nehmen wir als Beispiel folgendes kurze Interaktionsprotokoll:

	Lehrer:		Hast Du Deine Hausaufgaben?
	Schüler:	Nein, tut mir leid
	Lehrer:		Mir nicht

Die Wörtlichkeit der Interpretation heißt bezüglich dieses Beispiels, dass die Frage des Lehrers nicht einfach nur als Frage nach den Hausaufgaben angesehen wird, sondern als eine an einen konkreten Schüler gerichtete Frage (Du); und dass diese Frage sich auf das schiere (Gemacht-) Haben bezieht; Was und Wie spielen keine Rolle. Die Interpretation hätte des Weiteren zu berücksichtigen, dass der Schüler nicht nur verneinend antwortet, sondern darüber hinaus ein Bedauern zum Ausdruck bringt (tut mir leid). Schließlich dürfte eine objektiv-hermeneutische Interpretation nicht dabei stehen bleiben, eine Unmutsäußerung des Lehrers festzustellen (mir nicht), sondern sie müsste zu klären versuchen, worin die Besonderheit dieser Unmutsäußerung besteht; was also „wörtlich“ das mir nicht heißt (etwa im Unterschied zu na prima oder von Dir hätte ich auch nichts anderes erwartet usw.).
Aus formaler Perspektive verpflichtet das Wörtlichkeitsprinzip den Interpreten also auf den gegebenen Text. Die Interpretation muss sich präzise auf seine je konkret gegebene Gestalt berufen.
Aus systematischer Perspektive zwingt das Wörtlichkeitsprinzip den Interpreten, die Ebene der inhaltlichen Umschreibung zu verlassen, um die Struktur des Textes in den Blick zu nehmen. Auch das kann an dem kleinen Interaktionsbeispiel verdeutlicht werden. Eine inhaltliche Interpretation würde diese Unterrichtsszene folgendermaßen umschreiben: Im Rahmen einer Hausaufgabenkontrolle stellt der Lehrer fest, dass ein Schüler seine Hausaufgaben nicht gemacht hat und bringt seinen Unmut zum Ausdruck. Eine solche Interpretation wäre ersichtlicherweise nicht „falsch“; sie würde aber aus der Perspektive der Objektiven Hermeneutik nichts zur Aufklärung der strukturellen Dynamik und Eigentümlichkeit des Interaktionsverlaufs beitragen. Die Dramaturgie des Interaktionsverlaufs, die schließlich in eine symbolische Beziehungsaufkündigung mündet (mir nicht), bliebe unaufgeklärt.
Das Wörtlichkeitsprinzip macht deutlich, dass die objektiv-hermeneutische Sinnrekonstruktion sich nicht auf die Wiedergabe des Inhalts einer Äußerung oder eines Interaktionsverlaufs beschränkt. Ihr geht es um die genaue Explikation der Sinnstruktur der Äußerung.

Kontextfreiheit Die objektiv-hermeneutische Textinterpretation basiert auf dem Prinzip, dass ein zu interpretierender Sequenzstrang zunächst unabhängig von seinem tatsächlichen Äußerungskontext interpretiert wird. Bevor die situative Stellung einer Äußerung gewürdigt wird, geht es um die Explikation ihrer situationsunabhängigen Bedeutungsstruktur. Die Grundoperation der Bedeutungsexplikation, das wird unten in der ausführlichen Beispielinterpretation deutlich werden, besteht darin, bezüglich eines Sequenzstrangs (das kann, abhängig von forschungspragmatischen Erwägungen, ein ganzer Sprechakt sein, kann aber auch ein einzelnes Wort sein) gedankenexperimentell Kontexte zu entwerfen. In welchen Kontexten oder Situationen stellt die Sequenz eine wohlgeformte Äußerung dar? Daraus ergibt sich die Formulierung der fallunspezifischen und insofern allgemeinen Bedeutungsstruktur der Äußerung. Erst die Gegenüberstellung dieser Interpretation mit dem tatsächlichen Kontext führt dann zu einer fallspezifischen oder falltypischen Sinnrekonstruktion. Das Ziel dieses Vorgehens ist es, Fallbesonderheiten nicht schon dadurch zu verschütten, dass die Besonderheit und Eigentümlichkeit einer Äußerung auf den faktischen Kontext zurückgeführt und mit ihm erklärt wird.
Um das Vorgehen an einem einfachen Beispiel zu verdeutlichen: Wenn eine Lehrerin zu Beginn einer Stunde eine mündliche Leistungskontrolle als Wiederholungsübung bezeichnet, so fragen wir zunächst nach der Bedeutungsstruktur (den Bedeutungsimplikationen) dieser Bezeichnung, ohne schon den Äußerungskontext zu berücksichtigen. Wir sagen also nicht: Wiederholungsübung bedeutet in diesem Kontext mündliche Leistungskontrolle, sondern fragen: Was bedeutet eigentlich: Wiederholungsübung. Dann stellen wir recht bald fest, dass eine Praxis, die adäquat (oder wohlgeformt) als Wiederholungsübung bezeichnet wird, auf eine Praxis, in der das qua Übung eingeprägte und routinierte Wissen und Können „auf dem Prüfstand steht“ (eine Prüfung; ein Test; ein Fußballspiel; eine Aufführung usw.) vorbereitet, aber nie diese ernsthafte Praxis der Bewährung selbst bezeichnen kann. Wenn wir diese kontextunabhängige Interpretation dann in Relation zum eigentlichen Äußerungskontext setzen, wird deutlich, dass die Lehrerin mit dieser Bezeichnung den Ernsthaftigkeitscharakter der mündlichen Leistungskontrolle unterschlägt und verleugnet. Diese Feststellung markiert im Ansatz dann die Rekonstruktion der Fallstruktur, nämlich die Gleichzeitigkeit der Durchführung einer Prüfung und ihrer symbolischen Verleugnung.

Sequenzialität Die Objektive Hermeneutik ist eine Methode der Sequenzanalyse. Auch dieses Prinzip ergibt sich zunächst und vordergründig aus der methodischen Verpflichtung auf den Text. Dieser erscheint nämlich als Sequenz, d.h. nicht nur als zeitliches Nacheinander, sondern als ein entlang dieses Nacheinanders strukturiertes oder sich strukturierendes Gebilde. In diesem textlich protokollierten Nacheinander kommt unmittelbar die Historizität sozialer Phänomene in den Blick. Soziale Ereignisse sind konstitutiv eingebunden in eine Ablaufstruktur. Sie haben eine Vergangenheit und sie haben eine Zukunft. Das gilt nicht nur makrologisch für jene Ereignisketten historischer „Großereignisse“, sondern das gilt auch mikrologisch für jeden Interaktionsverlauf. Fallstrukturen, ob makrologisch oder mikrologisch, bilden und transformieren sich. Das Prinzip der Sequenzanalyse trägt diesem Umstand methodisch Rechnung. Die Rekonstruktion der Fallstruktur ist eine Rekonstruktion von Prozessen; von Prozessen der Bildung und Transformation.
Forschungspraktisch verpflichtet das Prinzip der Sequenzanalyse dazu, in der Interpretation dem Gang des Textes zu folgen. Wir springen also nicht im Text umher auf der Suche nach aufschlussreichen Textpartikeln (dieses Vorgehen entspricht dem der Inhaltsanalyse; s.o., Kap. III), sondern folgen dem Text Schritt für Schritt. Nur so kann die Struktur seines inneren Aufbaus rekonstruiert werden als Ausdruck eines sozialen Geschehens.
Dass wir es auch bei der Sequenzanalyse mit Ausschnitten zu tun haben, steht außer Frage. Natürlich gelingt es auch der Sequenzanalyse nicht, den Kosmos des Geschehens zu erfassen. Sie stützt sich, wie jede empirische Forschung, auf ausgewählte und reduzierte Daten. Sie verfügt nicht über das Gesamtgeschehen, sondern lediglich über Sequenzausschnitte. Aber diese Ausschnitte behandelt sie als Sequenz, als Geschehen. Wir müssen und dürfen aus Unterrichtsprotokollen, Lehrerinterviews usw. Sequenzstränge zur Interpretation auswählen und ausschneiden. Diese Ausschnitte werden dann aber als Sequenz behandelt. Dabei gehen wir von der Annahme aus, dass die Sinnstruktur eines Gebildes, die Fallstruktur, die seine Besonderheit hervorbringt und ihm sein charakteristisches Gesicht verleiht, sich prinzipiell an jeder Sequenz seiner protokollierten Praxis rekonstruieren lässt.