Tiefenhermeneutik

2. Methodische Unterweisung: Der Erkenntnisgang wird szenisch bestimmt – das szenische Verstehen

Forschungstexte, Videoaufnahmen, Interviews usw. können als Abbild dieser Konfliktdramatik verstanden werden. Hier finden sich die dargestellten symbolischen Interaktionsebenen sowie ihre desymbolisierten Varianten wieder. Im Auswertungsgang wird deshalb zwischen dem manifesten und dem latenten Textsinn unterschieden. Beide bilden ein konkurrierendes Widerspruchspaar, das immer gemeinsam auftritt und sozusagen einen Doppelsinn transportiert. Die manifeste Sinnebene umfasst sozial und individuell anerkannte Bewusstseinsfiguren, die in Sprache gefasst, mitgeteilt und reflektiert werden können, das, was ich von mir weiß, den sprachsymbolischen Interaktionsformen entsprechend. Als Gegenspieler dazu drängt die sprachlos wirksame, weil verdrängte, verpönte und ausgegrenzte Schicht der unbewussten Praxisfiguren des latenten Sinns an die Oberfläche – den leibsymbolischen Interaktionsformen und dem Desymbolisierten entsprechend, das, was ich noch nicht oder nicht mehr von mir weiß. Dazwischen stehen, hin- und hergerissen, mal nach der einen, mal nach der anderen Seite, die sinnlich-symbolischen Interaktionsformen, die sich in Texten als Wortbilder figurieren und bewusste mit unbewussten Sinninhalten verknüpfen.
Bei der Interpretation versuchen wir zum einen den Symbolisierungsprozess in den dahinter liegenden Konstruktionen abzuschreiten, der zu dem uns vorliegenden Entwurf führt. Zum anderen liegt unser Streben darin, den rückläufigen Prozess der Symbolzerstörung und dessen relevante Dekonstruktionprozesse freizulegen: Was wird wie warum ausgesprochen, also benannt und sprachlich symbolisiert? Was erscheint verhüllt, umschrieben, verfremdet und damit auf der sinnlich-symbolischen Ebene? Was bleibt unbenannt, eine Lücke, in Lorenzers Terminologie: desymbolisiert, damit ausgelöscht und unbewusst? Wie wir dabei methodisch vorgehen, werde ich im folgenden anhand eines Fallbeispieles zeigen.

Das Fallbeispiel – ein Kreisgespräch in der Grundschule
Dazu schauen wir uns beispielhaft einen szenischen Ausschnitt aus einem Kreisgespräch in einer 2. Grundschulklasse in Ostdeutschland an (Heinzel 2001, S. 275ff.). Die in unserem Fallbeispiel von Friederike Heinzel beobachtete und videografierte Klasse besteht aus 24 Kindern, 18 Mädchen und 6 Jungen. Die Klassenlehrerin ist Beatrix Becker, eine reformpädagogischen Elementen zugewandte Lehrerin. Der Unterricht beginnt jeden Morgen mit einem Kreisgespräch, täglich finden noch ein oder zwei weitere Kreisgespräche meist nach den Hofpausen statt und die Unterrichtswoche wird Freitags mit einem Schlusskreis beendet. Das Signal zum Beginn des Kreises gibt immer die Präsident/-in, welche dieses Amt durch schriftliche Wahl jeweils für eine Woche erhält. Zu ihren Aufgaben gehört es, am Morgen die fehlenden Kinder festzustellen und nach Kummer oder Sorgen zu fragen, die es im Kreis zu besprechen gibt. Die ausgewählte Passage ist die Einstiegsszene des Morgenkreises direkt nach den Osterferien, in der Friederike Heinzel auch zum ersten Mal zugegen ist:

Jana (Präsidentin): Keine Sorgen.
Lehrerin (steht noch): Wer fehlt?
Jana und Susan: Constanze und Kordula
Lehrerin: Dann müssten wir 23, nein 22 sein (setzt sich). Macht ihr den Kreis ein bisschen zu. Die Sonne scheint so stark, als ob es draußen warm ist.
Mehrere Kinder: Ja. Ist es auch.
Lehrerin: Ich begrüße euch ganz herzlich. Sonst waren wir nach den Ferien immer vollständig. Heute fehlen zwei. Das ist ja komisch. Ich hoffe, dass sie nur leicht krank sind. Die Kordula hat vor den Ferien auch schon gefehlt. Thea, weißt du da was?
Thea: Nee.
Lehrerin: Du bist ja die einzige, die bei ihr in der Nähe wohnt. Eine Entschuldigung hab ich auch noch nicht. (Pause) So, unser Besucher steht auch schon da (schaut zu F.H.). Das ist also Frau Dr. Friederike Heinzel. (F.H. unterbricht die Aufnahme und stellt sich vor.)
Die Lehrerin erzählt von einer Fernsehsendung am gestrigen Abend, wo den Kindern zwei Fragen gestellt wurden. Die erste Frage sei gewesen, ob die Kinder lieber in die Schule gehen oder lieber zu Hause bleiben würden. Diese Frage habe sie sich vorgenommen, den Kindern nun nach den Ferien auch zu stellen.
Lehrerin: Nun mal kurz die Antwort reihum. Schule oder zu Hause bleiben.
Tom: Schule
Thea: Schule
Hilla: Schule
Inga: Schule
Senta: Schule
Stefan: Schule
Angela: Schule
Thea: zu Hause
Jan: Beides
Lehrerin: Entscheidung
Jan (zögert): Schule
Hennes: Schule
Ole: Schule
Phil: Schule
Josepha: Äh, doch lieber Schule
Moni: zu Hause bleiben
Amata: Schule
Marta: Schule
Jutta: Schule
Saskia: Schule
Amelie: Schule
Franka: Schule
Susan: Schule
Jana: Schule
Lehrerin: Da bin ich überrascht. Das Ergebnis war gestern auch so, dass die meisten Kinder sich für Schule entschieden haben. Und die Eltern hatten gedacht, die Kinder wollten lieber zu Hause bleiben. Das kam gestern spät. Und das ist mir doch ein Zeichen, dass die Kinder doch gerne in die Schule gehen und nicht nur zu Hause bleiben. Gerade die Frage nach den Ferien ist sicher interessant, wo ja jeder müde ist. Ich weiß nicht, ob ihr so müde seid wie ich?
Viele Kinder: Ja!
Lehrerin: Und da war noch ne zweite Frage. Die wollte ich euch auch noch fragen, das hab ich mir gestern Abend vorgenommen. Da ging es darum, ob die Kinder lieber in einem Schloss wohnen wollten oder in einem Baumhaus. Überlegt mal Schloss oder Baumhaus. (Pause). Fangen wir mal hier an.
Jana: Schloss
Susan: Schloss
Franka: Schloss
Amelie: Baumhaus
Saskia: Schloss
Jutta (überlegt) …
Lehrerin: Ach, nee, Entschuldigung, Schloss oder Bauernhof
Jana: Bauernhof
Susan: Bauernhof
Franka: Bauernhof
Amelie: Bauernhof
Saskia: Bauernhof
Jutta: Bauernhof
Marta: Bauernhof
Amata: Bauernhof
Moni: Bauernhof
Hilla: Bauernhof
Phil: Bauernhof
Ole: Bauernhof
Hennes: Bauernhof
Jan: Bauernhof
Thea: Bauernhof
Angela: Bauernhof
Stefan: Bauernhof
Senta: Bauernhof
Inga: Bauernhof
Josepha: Bauernhof
Tessa: Bauernhof
Tom: Schloss
Viele Kinder: (lachen).
Susan: Zweimal Bauernhof
Lehrerin: Wisst ihr, wie das war? Da war die Entscheidung, die meisten Kinder wollten in einem Schloss wohnen. Da hab ich zu meinem Mann gesagt, das kann ich mir gar nicht vorstellen, also die Kinder, die ich kenne, die wollen auf einem Bauernhof wohnen.
Viele Kinder: Ja!
Lehrerin: Wir haben auch Schlosskinder dabei gehabt.
Tessa: Nur zwei!

Logisches und psychologisches Verstehen des manifesten Sinngehaltes
Mit dem logischen Verstehen sichten wir die manifeste Sinnschicht der Sachinformationen, den sprachsymbolischen Interaktionsformen entsprechend, und versuchen diese rational zu erfassen. Der Angelpunkt des logischen Verstehens ist der Satz, und die Sinn erschließende Fragestellung lautet: Worüber sprechen die Forschungssubjekte? (Lorenzer 1970, S. 79f.; Leithäuser, Volmerg 1988, S. 258f.)
Wir erfahren, dass die Präsidentin Jana an diesem Vormittag keine Sorgen im Kreis festhält, dass zwei Kinder Constanze und Cordula fehlen; dass die Lehrerin zunächst alle Kinder, dann eine Besucherin begrüßt, die sich daraufhin kurz vorstellt. Danach folgt die erste Fragerunde der Lehrerin im Entweder/Oder-Modus, nämlich ob die Kinder heute lieber in die Schule gehen oder zu Hause bleiben wollen. Die Antworten werden reihum gegeben: ein Kind Moni entscheidet sich für zu Hause; ein zweites Kind Jan möchte beides zugleich, Josepha stockt sich zögernd der Schule entgegen und alle anderen Kinder entscheiden sich prompt für die Schule – ein überraschender Wahlausgang, wie die Lehrerin am Ende festhält, der ganz der am gestrigen Abend im Fernsehen gezeigten Realität entspricht.
Direkt im Anschluss folgt die zweite Fragerunde der Lehrerin, wobei auch hier die Antworten von ihr vorgegeben werden, nämlich ob die Kinder lieber in einem Schloss oder einem Baumhaus, pardon Bauernhaus, leben wollen. Auch hier fällt die Antwortrunde auffallend homogen aus: der gruppenkindliche Würfel fällt für den Bauernhof und die Lehrerin konstatiert letztlich lediglich zwei Schlosskinder. Dieses Wahlergebnis trifft ganz ihre Erwartungen und stellt sich damit jedoch diametral zur Fernsehrealität.
Der logische Verstehensmodus wird begleitet vom psychologischen Verstehen, einem Nacherleben des metakommunikativen Inhalts, der sich gestisch, mimisch und in der Intonation artikuliert. Die entsprechende Sinn erschließende Fragestellung heißt: „Wie wird miteinander gesprochen?“ Es geht um die Art und Weise, in der die sprachlichen Mitteilungen gemacht werden – ob laut, leise, schnell, stockend, verhalten, aufgeregt, traurig oder freudig überschwänglich, mit oder ohne Kopfnicken, Schulterzucken, Sich abwenden, die Augen verschließen, Nase rümpfen, Finger ausstrecken oder den Sitznachbarn am Knie berühren. Nützlich ist es, diese metakommunikativen Wahrnehmungen während der Erhebung selbst oder bei der sorgfältigen Transkription als Memo im begleitenden Forschungstagebuch festzuhalten.
Interessant ist in diesem Beispiel zunächst die steuernde Lenkung des Frage-Antwort-Spiels durch die Lehrerin: „Nun mal kurz die Antwort reihum.“ Und so fallen die Antworten der Kinder auch aus. Sie kommen kurz, knapp, effektiv und schnell nach der Reihe. Obwohl jeweils eine Entscheidung zwischen zwei Möglichkeiten gegeben ist, mutet es schwierig an, aus der uniformierten Antwortkette auszubrechen. Die Situation erinnert an eine Art öffentliche Abstimmung im Beisein der Lehrerin als letztlich bewertende Instanz, entsprechend selten fallen die Antworten der Kinder aus der Reihe – abgesehen von Jans Kompromissversuch, Josephas Zögern, Monis und Tom´s Gegenstimme. Tom´s definitives Votum „Schloss“ wird wie ein Schlussgag platziert und situationsadäquat mit einem Lachen der Mitschüler/-innen quittiert und der ironisch-spaßhaften Äußerung von Susan: „Zweimal Bauernhof“ getoppt, um das „aus der Reihe tanzen des Schlosskindes“ quasi auszulöschen (vgl. Heinzel 2001, S. 277ff.).
Soweit zur manifesten Sinnstruktur und den logisch-psychologisch rekonstruktiven Verstehensanstrengungen. Beide Verstehensmodi fußen auf einer gemeinsam geteilten, kulturell geformten, signifikanten und expliziten Sprach-, Kommunikations- und Interaktionsgemeinschaft. Die latente, implizit mitschwingende Sinnebene liegt jedoch außerhalb der symbolischen Kommunikation und damit noch außerhalb dieser beiden Verstehensanstrengungen. Daher stellen die Verstehensmodi des manifesten Sinngehaltes ein bedeutsames, jedoch äußerst „begrenztes Terrain sicherer Intersubjektivität“ (Lorenzer 1970, S. 98) dar. Sie bleiben auf der bewussten Symbolebene stehen, ohne die mitschwingenden latenten, unbewussten Sinninhalte zu erfassen.

Szenisches Verstehen des latenten Sinngehaltes
Der grenzüberschreitende Schritt gelingt erst mit dem szenischen Verstehensmodus. Szenisches Verstehen geht über das Verstehen der manifest artikulierten, sprachlich, mimisch, gestisch symbolisierten Inhalte hinaus und hat die gesamte Situationsauslegung mit desymbolisiertem, unbewusstem Bedeutungshof im Auge. Die Annäherung an latente, unbewusste Sinninhalte wird über die Reflektion der eigenen szenischen Teilhabe an der im Sprachspiel mittransportierten, latent virulenten Lebenspraxis erreicht. Letztlich wird nicht das Forschungsmaterial „an sich“ gedeutet, sondern die gesamte Wirkung, die es auslöst. Tiefenhermeneutik ist daher eine Wirkungsanalyse (Busch 2001, S. 35). „Was macht die Forschungssituation mit mir als mehr oder weniger beteiligte Interpretierende?“ ist die durchgängig präsente Forschungsfrage.

a) Werkzeug: Übertragung-Gegenübertragung
Die Wirkung in ihren bewussten und unbewussten Anteilen lässt sich durch eine genaue Übertragungs- und Gegenübertragungsanalyse (Nadig 1987, S. 36f.) erschließen. Das Begriffspaar Übertragung-Gegenübertragung mit der daraus resultierenden Vorgehensweise ist der psychoanalytischen Therapie entlehnt, wurde aber schon in den sechziger Jahren für Forschungskontexte fruchtbar gemacht. Georges Devereux wies in seinem Buch „Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften“ anhand vieler Einzelbeispiele nach, dass Gegenübertragungen nicht als Störungen einer objektiven wissenschaftlichen Erhebung zu betrachten sind, sondern als deren signifikantesten Daten: „Nicht die Untersuchung des Objekts, sondern die des Beobachters eröffnet uns einen Zugang zum Wesen der Beobachtungssituation“ (1967, S. 20).
Was heißt das? Übertragung und Gegenübertragung sind selbstverständlich ablaufende Elemente unserer alltäglichen Lebenspraxis. In jeder Begegnung mit anderen entspinnt sich eine Interaktion, die sowohl von Sach- als auch Beziehungsaspekten getragen wird. Wir reagieren auf Vorstellungsbilder, die andere in uns wachrufen, auf (un)ausgesprochene Erwartungen, die unsere Gegenüber an uns stellen und steigen in ein intersubjektiv abzustimmendes Wechselspiel ein. Dabei antworten wir mit der Gegenübertragung auf das, was uns situativ übertragen wird. Die Entschlüsselung dieser Gegenübertragungsphänomene führt zu nicht besprechbaren, aber dennoch unbewusst wirksamen Sinnstrukturen.
Auch wenn wir, wie in unserem Beispiel, einen kleinen Textausschnitt interpretieren wollen, steigen wir unwillkürlich in ein Text-Leser/-in-Wechselspiel ein. Der Text macht etwas mit uns, denn die latent mitschwingende, unbewusste lebenspraktische Seite des Sprachspiels der Kinder-/Lehreringruppe intensiviert vielfältige Gegenübertragungsreaktionen. Wir lassen den Text wie ein Theaterstück auf uns wirken. Die Fragen, die sich für uns stellen, um die Gegenübertragung zu erschließen, lauten: Mit welchen Gefühlen, Phantasien, Gedanken, Handlungsimpulsen reagieren wir auf den Text? Versetzt das vorgeführte Stück uns in Begeisterung; erfüllt es uns mit Freude, Frustration, Ärger, Enttäuschung oder ruft es Unbehagen, Langeweile oder Desinteresse hervor? Identifizieren wir uns eher mit den Kindern, mit einem besonderen Kind, mit der Lehrerin, der Besucherin? Werden eigene schulische Erinnerungen reaktiviert, wenn ja wie sehen diese aus? Welche szenische Gestalt lässt sich schließlich dabei erkennen? sind die tiefenhermeneutisch-rezeptiven Leitfragen.

b) Erkenntnisinstrument: Intersubjektive Perspektiven in der Interpretationsgruppe
Unerlässlich im szenischen Interpretationsgang ist dabei die intersubjektive Erweiterung unserer persönlichen Deutungen und Gegenübertragungen durch die Diskussion des Forschungsmaterials in Gruppen (vgl. König 1993, S. 206f.). Dies ist ein wesentliches Instrument, um die eigene, subjektiv getönte Brille zu überprüfen und die eigene szenische Teilhabe an den latent wirksamen Sinninhalten zu überprüfen. Diskussionen in Interpretationsgruppen bilden daher ein notwendiges Korrektiv und ermöglichen eine relativierte Sichtweise auf den Forschungstext. Unterschiedliche Lesarten kommen zu Wort, und Perspektiven werden zusammengetragen, wie sie in einsamer Beschäftigung mit dem Material nur schwerlich zustande kommen.
Das szenische Verstehen bedient sich in beiden Varianten (alleine und in der Gruppe) folgender Wegweiser, um die latent mitschwingende szenische Gestalt zu erfassen:

c) Wegweiser: Assoziationen, Irritationen und Wortbilder
Zunächst nutzen wir das freie Assoziieren wie bei einem Brainstorming als Lieferant von Interpretationsideen. Wir steigen mit dem „symptomatischen Lesen“ (Nadig 1987, S. 57) tiefer in die Textebenen ein und lassen uns auf eine Bewegung des Suchens ein, die in einer Art gleich schwebender Aufmerksamkeit geschieht und sich durch Offenheit und Sensibilität auszeichnet. In der Gegenübertragung drängen sich Gedanken, Fragen, Affekte, Erinnerungen, Einfälle und Bilder zu dem Interpretationsmaterial auf. Diese Assoziationen gilt es, unzensiert zuzulassen, denn damit öffnen sich neue Bedeutungswege und erschließen sich auf den ersten Blick nicht sichtbare Nebenperspektiven. Assoziationen sind Verknüpfungsleistungen – sie bringen Sachverhalte ins Interpretationsspiel, die nur vermeintlich nicht dahin gehören. Auch in der Forschungsgruppe stellen die Gruppenmitglieder ihre Eindrücke assoziativ und deutungsoffen zur Debatte. „Spielen wir mit dem Material“, lautet die entsprechende Lorenzersche Aufforderung. Zunächst werden möglichst viele Einfälle gesammelt, noch werden keine bestimmten Deutungswege favorisiert, bis der Blick in den Text irritiert hängen bleibt und sich einige Textstellen besonders hervorheben.
Irritationen sind Störungen in dem gewohnten, erwarteten oder geplanten Ablauf. Im Augenblick der Irritation stößt unser offenes, suchendes Registrieren gleichsam auf den Widerstand des Textes. Die Passagen des Textes ziehen immer wieder am inneren Auge vorbei, bis der Blick hängen bleibt und sich einige Textstellen besonders hervorheben. Es gibt Passagen, die merkwürdig, unpassend oder wenig plausibel erscheinen. Oft stehen sie quer zu unseren Erwartungen, tauchen überraschend auf, können langweilig, anrührend, missverständlich oder rätselhaft sein. An diesen irritierenden Stellen zeigt sich der Gegensatz zweier Positionen – nämlich „der im Text vertretenen und der an den Text herangetragenen“. Eine „Vertikale“ öffnet sich, die ausdrücklich aus der manifest zugänglichen Sinnebene, in die der Text üblicherweise gelesen wird, herausführt und in eine neue, im Text wirksam angelegte, jedoch verborgene, latente Sinnebene hineinführt (Lorenzer 1990, S. 266f.). Diese Irritationen sind festzuhalten, denn sie bieten einen entscheidenden Schlüssel zur manifest-latenten Konfliktdramatik. Irritationen stellen sich in allen drei Verstehensmodi ein: beim logischen Verstehen als Widersprüche, Ungereimtheiten oder Lücken; beim psychologischen Verstehen als komische, verwirrende oder unangebrachte Gefühle und Handlungsimpulse; beim szenischen Verstehen als Eindruck in eine merkwürdige Inszenierung oder ein seltsames Drama verstrickt zu sein, aus dem man sich nicht so einfach verabschieden kann (vgl. Reichmayr, Ottomeyer 2007, S. 257). Die weitere Deutungsarbeit besteht zum großen Teil aus der Klärung der auftretenden irritierenden Dimensionen.
Wichtige Hinweiszeichen bieten uns dabei Wortbilder(1). In Texten können wir sie in Metaphern, Sprichwörtern, Witzen und in szenischen Arrangements finden. Beim gleichschwebend assoziativen, irritationsgeleiteten Interpretationsgang entfalten diese eine besondere Eigenwirkung. Sie gestalten eine Art Zwischensinn, in dem sich der verborgene Sinn mit dem offenliegenden Textsinn zu einer bildhaften, sinnlich-symbolischen und mehrdeutigen Anspielung verknüpft (Klein 2004, Klein 2008). Sprachimmanent überschreiten Wortbilder die Vorgaben des linearen Diskurses und bilden ab, was der bewussten, logisch-sprachlichen Reflektion nicht unmittelbar zugänglich ist. Wortbilder entsprechen den sinnlich-symbolischen Interaktionsformen, „über die Unbewusstes und Bewusstes miteinander in Verbindung treten“ (Busch 2001, S. 34). Daher stellen sie interpretationsleitende Gelenkstücke zwischen beiden Sinnebenen dar. In der bildlichen Entschlüsselung der Texte, einer Art Wortbildanalyse, liegt ähnlich wie in der Traumdeutung die „via regia zum Unbewussten“ (Freud 1969/1994, S. 577).

d) Resymbolisierung: Theoretische und soziokulturelle Kontextualisierung
Durch die sukzessive Klärung der wegweisenden Assoziationen, Irritationen, Wortbildanalysen und auch der Gruppendeutungen treten allmählich Schlüsselszenen hervor, in denen sich die manifest-latenten Bedeutungshintergründe des Forschungsmaterials verdichtet zeigen. Während des gesamten Analyseprozesses erweitern wir dabei unsere (inter)subjektiv gesammelten Perspektiven durch 1) eine systematische historisch-kulturelle Rahmenanalyse sowie 2) eine theoriegeleitete Kontextualisierung. Letztere geht nicht subsumptionslogisch vor, sondern zieht abduktiv und erkenntnisgenerierend verschiedene sich aus dem Interpretationsverlauf ergebende, theoretische Erklärungsmöglichkeiten heran – doch mit der offenen Option, diese auch zurückweisen zu können. Dabei kehren wir immer wieder in einem konstant hermeneutischen Zirkel überprüfend zum Text zurück, der sich während des gesamten Auswertungsprozesses durch seine unveränderbare Festigkeit auszeichnet und trotz unterschiedlicher Interpretationsansätze unverändert bestehen bleibt. Mit der Einbettung des herausgearbeiteten latenten Strukturzusammenhanges in den objektiven Kultur- und Theoriezusammenhang, einer Verdopplung der Symbolbildung auf der diskursiven Ebene, werden die dahinterliegenden, nicht unbedingt in Sprache gefassten Sinnbezüge wieder sprachlich symbolisiert. Diese resymbolisierende Bildungsbewegung führt schließlich zu einer Generalisierung und Typisierung der Interpretationsergebnisse. Sie gleicht einem Puzzlespiel, bei dem wir Baustein für Baustein auf seine Konsistenz überprüfen, suchend zusammenlegen, wieder auseinanderbrechen, an eine andere Stelle verschieben (…) bis sich alle Elemente zu einem „anderen“ dreh- und wendbaren Vexierbild fügen, in dem bewusste, offensichtliche und unbewusste, vorher verdeckte Dimensionen aufscheinen.