Tiefenhermeneutik

Die von Alfred Lorenzer in den 1980er Jahren entwickelte Methode der Tiefenhermeneutik untersucht den narrativen Gehalt von Texten und Bildern in Bezug auf ihre Wirkung auf die Rezepienten. Angenommen wird, dass die Inhalte dieser Texte und Bilder neben der manifesten, sprachlich vermittelten Sinnebene eine eigenständige latente Sinnebene in sich tragen. Der Lernpfad orientiert sich an einer Falldarstellung aus dem Online-Fallarchiv Schulpädagogik. (Link: Kreisgespräch zu Beginn des Unterrichts)

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Regina Klein:

Tiefenhermeneutische Analyse

Abstract und Einleitung

1. Theoretische Unterweisung: Der Erkenntnisgegenstand wird szenisch bestimmt – die Szenische Symboltheorie

    Szenische Symbolbildung und Desymbolisierung

     Konflikttypologien – zur Bedeutung von Sprachspielen

2. Methodische Unterweisung: Der Erkenntnisgang wird szenisch bestimmt – das szenische Verstehen

    Das Fallbeispiel – ein Kreisgespräch in der Grundschule

    Logisches und psychologisches Verstehen des manifesten Sinngehaltes

    Szenisches Verstehen des latenten Sinngehaltes

3. Tiefenhermeneutische Interpretation des Fallbeispiels

4. Bildungsrelevante Potentiale und Grenzen der Tiefenhermeneutik für die Lehr/Lernforschung und -praxis

Literatur

 

Abstract

Der Lernpfad führt ein in die Tiefenhermeneutische Analyse als Interpretations- und Forschungsmethode für schulische Situationen. Nach einer Darlegung der wichtigsten Eckpunkte des Theoriegebäudes, der Szenischen Symboltheorie, folgt eine Skizzierung der darauf aufbauenden Methodik, des Szenischen Verstehens. Anschließend wird anhand eines Fallbeispiels das interpretative Vorgehen exemplarisch dargestellt. Die letzte Station des Lernpfades beinhaltet eine Betrachtung der Potentiale und Grenzen der Tiefenhermeneutik.

Einführung

Die Tiefenhermeneutische Analyse geht zurück auf Alfred Lorenzer, der damit eine sozial- und kulturwissenschaftliche Übersetzung psychoanalytischen Denkens und Handelns verfolgte und eine Antwort auf die Frage suchte, wie die Welt in den Menschen komme und was dieser daraus und damit mache (vgl. Lorenzer 1970, 1981, 1986, 2002, 2006). Diesen lebenslang währenden Sachverhalt begreift er als Bildungsprozess – ein durch und durch dialektisches Wechselspiel zwischen Selbst/Welt und demgemäß eine ko-konstruktive Aneignung gesellschaftlich-objektiver Vorgaben durch die subjektive Lebenspraxis des Einzelnen (Lorenzer 1974, S. 279). Um dieses Wechselspiel sowohl zu erklären (Theorie) als auch zu verstehen (Methode) verknüpft Lorenzer interdisziplinär ausgerichtet Denkansätze der Kritischen Theorie, Grundlagen der Symboltheorie, Leitlinien des Interaktionismus und Erkenntnisse der Neurophysiologie mit der Psychoanalyse. Ergebnis ist ein zweiteiliges Konstrukt, in dem sich die theoretische Begründung des Erkenntnisgegenstandes mit einer darauf aufbauenden methodischen Bestimmung des Erkenntnisganges um das Unbewusste als bedeutungsvolle Kategorie zentriert.

1. Theoretische Unterweisung: Der Erkenntnisgegenstand wird szenisch bestimmt – die Szenische Symboltheorie

Zunächst zum Theoriegebäude der Tiefenhermeneutischen Kulturanalyse, treffenderweise auch Szenische Symboltheorie (Hülst 1999, S. 313f.) genannt. Folgen wir Lorenzers Konzeption, vollzieht sich der Bildungsprozess menschlichen Lebens von Beginn an in einem fortwährenden Wechselspiel zwischen Selbst und Welt. Dieses interaktive Wechselspiel, in dem das Verhalten von ego als Reaktion ein Verhalten bei alter hervorruft und umgekehrt, wird von Lorenzer als Szene bezeichnet. Dafür wählt Lorenzer den Begriff der symbolischen Interaktionsform. Etwas wird in Szenen, in Interaktion mit mindestens einer Person (in der frühen Kindheit bevorzugt die nächste Bezugsperson), einer Gruppe (Familie, Peers, Klassengemeinschaften) Institutionen (Schule, Ausbildungs- und Arbeitsstellen) und der Kultur, in der wir leben – in eine symbolische Form gebracht. Damit wird die soziokulturelle Konstruiertheit von symbolischen Ausdrucksformen ins Zentrum der Analyse gerückt: Ein Symbol, bspw. ein Tattoo, ein Lieblingsaccessoir oder -ausdruck existiert nicht „an und für sich“ als universelles Phänomen, sondern ausschließlich verbunden mit den dazugehörigen individuellen Erfahrungen, den erlebten Praxisfiguren und subjektiven Bedeutungshöfen der jeweiligen „Symbolträger/-innen“. Nur so ist es in seiner ganzen Bedeutung zu erfassen. Die szenische, interaktive Grundformel verweist auf die dialektische Verhältnisbestimmung zwischen Subjekt und Objekt: bildungstheoretisch gesprochen zwischen Selbst und Welt, sozialwissenschaftlich gelesen zwischen Individuum und Gesellschaft, kulturwissenschaftlich gesprochen zwischen individueller Lebenspraxis und kultureller Ordnung.
Auf pädagogische Lehr- und Lernsituationen übertragen, trägt die Tiefenhermeneutik der grundlegenden Tatsache Rechnung, dass Bildung keine 1:1 Anpassung der Educandi an ein statisch vorgegebenes, fixes und standardisiertes Repertoire von Wissenssymbolen ist, die von einer neutralen, adäquat geschulten Wissensmaschine im Trichtermodus an nicht wissende, Informationen speichernde Monaden verabreicht werden. Bildung vollzieht sich in einem geschichtlich verankerten, kulturell eingebetteten, institutionell eingelagerten und vor allem interaktiv geformten Kontext. Bildung lebt von der subjektiven Aneignung der objektiven Vorgaben. Unterricht ist daher kein gesellschaftsferner Raum, Lernen keine isoliert-individuelle Angelegenheit und Lehren keine ausschließlich objektive Vermittlungsleistung. Bildung ist vielmehr ein symbolisiertes Interaktionsprodukt, an dem Lehrpersonen und SchülerInnen beteiligt sind und an dessen Ausgestaltung darüber hinaus noch Tischnachbarn, Klassengemeinschaft, Peergroup, Familiengruppe, Lebenswelt und Kultur beteiligt sind.

Szenische Symbolbildung und Desymbolisierung
Szenische Symbolbildung artikuliert daher die interaktive Aushandlung zwischen den eigenen Wünschen, Bedürfnissen, Sehnsüchten und Fragen auf der einen Seite und den Normen, Möglichkeiten, Grenzen und Antworten der uns umgebenden (Lern)Kultur auf der anderen Seite. Darin eingelagert ist auch die Dynamik zwischen dem Unbewussten, den inneren, unbenannten, nicht-sprachlichen, habitualisierten Impulsen und dem Bewussten, dem Diskurs und der öffentlich zugestandenen Rede darüber. Lorenzer fasst den Prozess der Symbolbildung zugleich als Ich-, Sprach- und Kulturbildung – und umreißt damit die interaktionelle Dynamik zwischen der Mikroebene des Subjekts und der Makroebene der Kultur. Dabei werden drei Symbolformen unterschieden: Leibsymbolische Interaktionsformen beschreiben leiblich-körperliche Interaktionserfahrungen, die sich schon embryonal beginnend und im Laufe der weiteren kindlichen Entwicklung als neuronale Registrierungen und verleiblichte Erinnerungsspuren im Körpergedächtnis (Em-bodiment) niederschlagen (Stern 2003). Leibsymbolische Interaktionsformen fungieren ein Leben lang als habitualisiertes Grundmodell und unbewusste Sinnebene, sichtbar im Handeln, Machen, Inszenieren, in der Performanz, im Tun ohne Worte. Die zweite zur Verfügung stehende Symbolebene sind die sinnlich-symbolischen Interaktionsformen. Diese fangen beim ersten eigenständigen kreativen Spiel des kleinen Kindes an und setzen sich später in den sinnlich-unmittelbaren Erfahrungen in der Kunst, Musik, Religion wie auch der schöpferischen wissenschaftlichen Arbeit fort. Sie gestalten Übergangsräume (Winnicott 1974), in denen Innen und Außen, Realität und Phantasie in kreativer, selbstschöpferischer Weise verknüpft werden. Auf dieser teilbewussten Sinnebene verortet Lorenzer die Schaltstelle der Persönlichkeitsentwicklung, an der Identität und Autonomie begründet, Unbewusstes mit Bewusstsein vermittelt werden (Lorenzer 1981, S. 163). Spracherwerb schließlich ermöglicht die erlebten Szenen, Erfahrungen und Wahrnehmungen auf eine systematische und bewusste Weise zu artikulieren und die verkörperten wie sinnlichen Erlebnisfiguren in Worte zu überführen. Sprachsymbolische Interaktionsformen, als dritte und bewusste Symbolebene, ermöglichen ein Probehandeln im Kopf, die Reflektion der eigenen Lebenspraxis und eine kommunikative Einbindung in größere, intersubjektive Zusammenhänge.
Aber nicht alles ist symbolisierbar; nicht Symbolisierbares bleibt unbewusst. Zum einen ist die Vielfalt der affektiv-gestischen Dimensionen der leibsymbolischen Interaktionsformen zu groß um vollständig vom Sprachsystem eingeholt zu werden. Unterhalb des Bewusstseins halten sie einen überschüssigen Sinn als Quelle individueller und kollektiver Utopien bereit (vgl. Lorenzer 2002, S. 224). Zum anderen verläuft die Verbindung von individuellen Erlebnisfiguren und kulturellen Diskursvorgaben nie bruchlos. Ist die Differenz zwischen den beiden antagonistischen Systemen zu prekär, kommt es zu unbefriedigenden Konfliktlösungen, einem Sprachzerfall oder einer Sprachzerstörung, die Lorenzer unter den Begriff Desymbolisierung fasst. Verpönte Impulse, Motive und Bedürfnisse werden verdrängt, tabuiert und damit aus dem sozialen Konsens ausgeschlossen. Ihre überindividuellen Lösungsversuche finden sich wieder als Ideologie, Weltanschauung, Klischee und Vorurteil.
Identität und Kultur sind daher keine festgezurrten, essentiellen Symboleinheiten, son-dern artikulieren sich als Konflikttypologien, in denen die dynamische Spannung zwischen Selbst und Welt, zwischen der individuellen Lebenspraxis und der kulturellen Ordnung, zwischen subjektiver Aneignung und objektiver Vorgabe, zwischen unbewussten und bewussten Sinninhalten als widerständiges, transformatives Element immer präsent ist.

Konflikttypologien – zur Bedeutung von Sprachspielen
Folgendes Beispiel könnte diese konflikthafte (über)individuelle Symbolbildung und Desymbolisierung verdeutlichen:
Schon im Mutterleib festigen sich wiederholte Eindrücke aus Lauten, Gerüchen, Geräuschen, Bewegungen und Geschmackserlebnissen zu einem neuronal wirksamen Handlungsmodell. Damit ausgestattet greift der Säugling nach seiner Geburt dann aktiv in das interaktive Geschehen mit seinen Bezugspersonen ein. Sein elementares Nahrungsbedürfnis äußert sich – dem Alter entsprechend – anfangs über eine leibsymbolische Interaktionsform wie beispielsweise die Mimik des geöffneten Mundes. Später dann gibt es sein Hungersignal in einer sinnlich-symbolischen Geste wie der eines ausgestreckten Ärmchens; und schließlich kommt die sprachliche Symbolisierung des Hungersignals dazu. Als Interaktionsformen sind die Symbolisierungen stets von der jeweiligen Entgegnung des Interaktionspartners, z.B. der Mutter, mit geprägt. Im weiteren Lebensverlauf wird das Bedürfnis, Nahrung aufzunehmen in manchen Fällen vielleicht ganz negiert und somit desymbolisiert, denkt man bspw. an magersüchtige Jugendliche. Das elementare Bedürfnis zu essen kann weiterhin eine vegetarische Umdeutung erfahren, über das Zählen von Kalorien kontrolliert oder aber vermittels einer Gourmetmanier und körperoptimierender bzw. risikominimierender Praktiken sublimiert werden.
Wir sehen daran, dass ein Wort nicht einfach ein Wort ist, dessen Bedeutung im Wörterbuch nachzuschlagen ist. Ein Satz ist demgemäß nicht einfach ein Satz und ein präsentatives Symbol nicht einfach ein Symbol, dessen Dechiffrierung in einem Lexikon zu finden ist. Texte werden in der tiefenhermeneutischen Lesart als „Sprachspiele“ (Wittgenstein 1963) aufgefasst – jedes Wort und jeder Satz transportiert einen je spezifischen Bedeutungshof. Dieser wird durch sich biographisch verfestigende Szenen, durch lebensgeschichtlich erworbene Erfahrungen und kulturell vermittelte Handlungsformen geprägt. Sprachspiele bilden dementsprechend eine unauflösbare szenische Einheit von Begriff und dazugehörender Lebenspraxis. Daher geben sie Hinweise auf die Art und Weise, wie Menschen ihr Leben bewältigen, die Welt sehen, Eindrücke verarbeiten und/oder verdrängen – eben auf die originäre Frage der Tiefenhermeneutik, wie die Welt in den Menschen kommt und was dieser damit macht. Da die menschliche Lebens- und Bildungspraxis jedoch nicht nur bewusstseins- und konsensfähige Praxisfiguren enthält, sondern auch unbewusste, verborgen-verbotene, abgewehrte, tabuierte und aus dem sozialen Konsens ausgeschlossene Inhalte, bilden Sprachspiele im tiefenhermeneutischen Kontext keine unauflösbare Einheit zwischen objektivem Begriff und subjektiver Lebenspraxis ab, sondern sich immer im Prozess der Kompromisssuche befindliche Konflikttypologien.