Objektive Hermeneutik

Zweiter Interpretationsschritt: Konfrontation mit dem tatsächlichen Äußerungskontext

Wir wollen hier die kontextunabhängige Interpretation verlassen und die sinnstrukturellen Befunde, auf die wir gestoßen sind, in Zusammenhang setzen zu dem tatsächlichen Äußerungskontext. Tatsächlich findet sich der Sprechakt Mein erstes Zeugnis nicht als Protokoll einer naturwüchsigen Interaktion. Er befindet sich vielmehr auf einem Dokument, das ein Zeugnis darstellt oder darstellen soll.
Dass diese Überschrift „verunglückt“ ist, haben wir schon in der spontanen Draufsicht auf das Protokoll festgestellt. Denn ein Zeugnis wird erst dadurch zweifelsfrei zu einem Zeugnis, dass auf einem Blatt Papier als Titel Zeugnis vermerkt ist. Erst die Selbsttitulierung Zeugnis macht das Dokument zu einem solchen. Nur dieser Titel verfügt über die sprachpragmatische Kraft, das Dokument als Zeugnis auszuweisen. Alle anderen Titel, auch der tatsächlich vorliegende, bedeuten: Dies ist kein Zeugnis.
Tatsächlich sieht auch die Brandenburgische Grundschulverordnung im ersten und zweiten Schuljahr keine Halbjahreszeugnisse vor. Das Dokument, das wir interpretieren, wurde dem Schüler zum Abschluss seines ersten Schulhalbjahres ausgehändigt. Die Überschrift geht also durchaus konform mit der schulgesetzlichen Rahmung: sowenig wie letztere ein Zeugnis nach dem ersten Schulhalbjahr vorsieht, sowenig stellt das zu interpretierende Dokument ein Zeugnis dar. Es handelt sich vielmehr um ein Zeugnissurrogat. Statt also entsprechend der schulgesetzlichen Verordnung, so können wir die Kontextinformationen zusammenfassen, auf ein Zeugnis zu verzichten, greift die Lehrerin zu dem Mittel eines Als-ob-Zeugnisses: Ich darf Euch zwar noch kein richtiges Zeugnis ausstellen; aber im Vorgriff auf ein späteres, richtiges Zeugnis erhaltet ihr von mir einen Zeugnisersatz.
Diese Feststellung ist noch unabhängig von unserer Textanalyse. Fragen wir nun weiter nach der sinnstrukturellen Logik dieses Ersatzzeugnisses, müssen wir auf die obige Rekonstruktion zurückgreifen. Deren naheliegendste Implikation ist zunächst die Bedeutsamkeitsbeimessung. Statt sich mit einem Elterngespräch zur Lernentwicklung ihres Kindes (dieses Instrument sieht die Grundschulverordnung vor) zu begnügen, sollen die Kinder ein zeugnisstellvertretendes Dokument erhalten. Und dieses Dokument ist nicht etwa mit Lernurkunde o.ä. überschrieben. Es trägt einen Titel, der die biografische Bedeutsamkeit des Zeugnisses als solches reklamiert. Den Schülern wird dabei nicht nur nahegelegt, die äußere Bedeutung des Bildungszertifikats, seine Chancen eröffnende und Chancen verschließende Qualität, ernst zu nehmen. Sie sollen sich die Akkumulation ihrer Bildungszertifikate als innerlich lebensbedeutsamen Prozess aneignen.
Das sprachliche Mittel, mit dem diese Bedeutsamkeitszumutung realisiert wird, besteht darin, den institutionalisierten Sprechakt (Überschrift: Zeugnis) durch einen personalen Sprechakt zu ersetzen. Hier spricht nicht die Institution, sondern das ihr unterworfene Subjekt. Es ist dem Schüler also nicht nur in der bloß potenziell biografiebedeutsamen Situation, zum ersten Mal ein Zeugnis zu erhalten, eine Selbstbiografisierung in den Mund gelegt (vgl. GE 2); es ist auch die Differenz zwischen Institution und Subjekt, zwischen Außen und Innen, eingeebnet. Der Schüler zeigt nicht nur „von außen“ auf das Dokument (so wie in allen drei formulierten Gedankenexperimenten); er wird selbst zum Autor dieses Dokuments. Damit ist sinnstrukturell jede Möglichkeit einer Distanzierung zum Zeugnis genommen. Im Goffman’schen Sinne wird die Institution damit zur totalen. Sie will allumfassend sein und lässt dem Subjekt keine uninstitutionalisierten und insofern privaten Räume. In dem vorliegenden Fall ist die Totalität der Institution allerdings nicht durch ihre allumfassende Außenkontrolle des Subjekts erzeugt, sondern dadurch, dass in dem personalen Sprechakt Mein erstes Zeugnis die Privatheit des Subjekts es selbst ist, die das institutionelle Faktum erzeugt. Ihm wird, so könnten wir sagen, die Möglichkeit eines inneren Rückzugs, einer inneren Distanz, genommen.

Diese Interpretation steht in schroffem Gegensatz zu der offensichtlichen Intention der Lehrerin. Deren Motiv ist zweifelsohne nicht die Errichtung einer „totalen Institution“. Dass sie es gut meint, dass sie den Kindern wohlgesonnen und optimistisch gegenüber steht, zeigt nicht nur der Gesamteindruck des Dokuments, sondern ist schon in dem hier interpretierten Sprechakt enthalten. Es ist kein Zufall, dass wir in GE 2 von einem freudestrahlenden Schüler gesprochen haben. Insofern ist die Botschaft der Lehrerin zweifelsohne von der pädagogischen Stimmung begleitet, alle Kinder mögen sich über ihre Zeugnisse freuen. Dass diese Stimmung kaum realitätstüchtig ist, lässt sich unabhängig von dieser Interpretation feststellen. Dass nämlich Zeugnisse differenzieren, dass es gute und schlechte gibt, ist nicht etwa eine häufig anzutreffende, aber vermeidbare Randerscheinung; Differenzierung und Selektivität gehören zum Wesen des Zeugnisses. Die Hoffnung und der Wunsch, dieses (oder besser: mein) Kind möge sich über sein Zeugnis freuen, ist gerade deshalb nur allzu verständlich. Die Hoffnung aber, alle Kinder mögen sich über ihre Zeugnisse freuen, verhält sich eigentümlich ignorant zur Pragmatik des Zeugnisses. Sie lässt sich nur formulieren auf der Grundlage zynischer (man kann sich auch über schlechte Zeugnisse freuen) oder naiver (wenn wir es nur richtig anstellen, können alle ein gutes Zeugnis haben) Grundannahmen. Von hier aus könnten wir fragen, wie es sein kann, dass sich eine solche „weltfremde“ und unrealistische pädagogische Stimmung ausgerechnet bei einer Lehrerin, die doch qua Beruf „Zeugnisprofi“ ist, findet. Der unbedarfte Laie mag das so sehen, aber doch nicht der Berufsexperte!
Die Textinterpretation macht darauf aufmerksam, dass wir es nicht nur mit einer gut gemeinten Realitätsvergessenheit zu tun haben. In ihr verkehrt sich die wohlwollende pädagogische Stimmung in ihr Gegenteil. Pädagogischer Optimismus (manifeste Textbedeutung) und pädagogische Totalität (latente Sinnstruktur) erscheinen durch die Textrekonstruktion symbiotisch aufeinander verwiesen. Das optimistische Wohlwollen entschärft das Zeugnis nur scheinbar. Dem manifesten Motiv der Verniedlichung korrespondierte die Belastung des Zeugnisses mit biografischer Bedeutsamkeit. Und das pädagogische Motiv der Erleichterung der institutionell aufgebürdeten Praxis verschafft letzterer (ungewollt) totale Geltung. Die Kritik der Entfremdung paart sich mit dem Motiv ihrer Überwindung durch die vollständige Assimilation der institutionellen Perspektive durch das nunmehr nichtentfremdete, mit der Institution identisch gewordene Subjekt.