Grounded Theory

3.2.2 Axiales Kodieren

Durch das offene Kodieren wurden die Daten ‚aufgebrochen‘ (z.B. Passagen eines Textes in ihre einzelnen Bedeutungsabschnitte unterteilt und diese wiederum in ihre jeweiligen Kontexte, ihre Denotation und Konnotationen) mit dem Ziel eine begriffliche Einteilung vieler Facetten des untersuchten Materials in Form von Konzepten und Kategorien zu entwickeln. Im Analyseschritt des axialen Kodierens werden nun die logischen und inhaltlichen Beziehungen zwischen den Kategorien (ihre ‚Achsen‘)(16) genauer untersucht und – falls möglich – wird eine hierarchische Anordnung der Kategorien vorgenommen.
Hier sollen, über die Betrachtung des in Interviews oder der Beobachtung aufgezeichneten Materials hinausgehend, vordringlich die Eigenschaften des Untersuchungsgegenstands und nicht seine sprachlichen oder handlungspraktischen Indikatoren (dies meint ‚grounded‘ = gegenstandsbezogen) genauer herausgearbeitet werden.
Zur Erleichterung der Analyse wurde später (Strauss 1994; Strauss/Corbin 1996) ein soziologischer Orientierungsrahmen in Form eines – insbesondere für theoretisch noch eher unerfahrene Forscher/-innen geeigneten – ‚Kodierparadigmas‘ entwickelt, das den Blick unmittelbar auf die Sinn- und Situationsstrukturen der betrachteten sozialen Welt lenkt. Es ermöglicht Kategorien, genauer: das materiale Phänomen für das eine Kategorie steht, leichter zu erkennen, zu ordnen und vergleichend zu durchdringen. Folgende Rubriken sollen theorierelevante Fragen an die Daten anregen(17).
1. die genaue Bestimmung des Gegenstands
2. die konstitutiven Ursachen des Phänomens in den Interaktionen der Akteur/-innen
3. die Kontextbedingungen des Handelns bzw. intervenierende Einflüsse
4. Handlungsstrategien und Taktiken der Akteur/-innen
5. Veränderungen der ursächlichen, kontextuellen Bedingungen und anschließender Handlungen(18).

Es lassen sich je nach theoretischer Belesenheit und Vorlieben der Forscher/-innen auch inhaltlich anders gestaltete Paradigmata denken und verwenden(19).
Treibende Kraft des axialen Kodierens ist eine Art Gestaltbildungsdruck, eine innere Dynamik der Erkenntnis des Falls, die dazu anleitet, die zerlegten Daten wieder zusammenzufügen. In diesem Schritt werden auch bisher verwendete (ältere) Konzepte und Annahmen über Beziehungen zwischen den Kategorien überprüft, ggf. dekomponiert und neue (auch: gegensätzlich-kontrastierende) Zusammenhänge vorgestellt, bis ein zunehmend konturiertes und durch die Deutungsarbeit kontrolliertes Gedankenbild des Falls entsteht. Daraufhin können dann ggf. die so gefassten theoretischen Verknüpfungen in weiteren Untersuchungsschritten überprüft werden.
In der als Beispiel dienenden Forschungsarbeit wurde durch axiales Kodieren die Kategorie Hilflosigkeit im erzieherischen Handeln mit weiteren relevanten und kennzeichnenden (den weiteren auffindbaren Indikatoren zugeordneten) Kategorien abgeglichen und kombiniert. So konnten (verursachende Rand-) Bedingungen des Phänomens erfasst, der Sinn-Kontext des Handelns der Individuen rekonstruiert und intervenierende Variablen und daraus folgende Handlungen und Konsequenzen ermittelt sowie eine über einfaches Klassifizieren hinausgehende Interpretation der Daten erreicht werden.
In vielen Fällen empfiehlt sich ein (auch erst vorläufig) entwickeltes Gedankenmodell der erarbeiteten Zusammenhänge schematisch darzustellen und die Analyseergebnisse möglichst systematisch abzubilden.

3.2.3 Selektives Kodieren

Durch offenes und axiales Kodieren entstehen in einer zyklischen Bewegung im Gegenstand verankerte, zugleich aber auch abstrahierende Kategorien, die analytisch aufeinander bezogen werden, bis Kernkategorien entworfen werden können, die den Erkenntnis eröffnenden Schlüssel zum Verständnis des interessierenden Phänomens und damit seiner Erklärung enthalten. So wird eine Begrenzung auf die Inhalte gewährleistet, die zur Bildung verallgemeinernder Theorie überleiten, z.B. ein Verhaltensmuster in seiner Vielfalt und seinen Variationen zu erklären vermögen. Die semantischen Eigenschaften einer Schlüsselkategorie, der eine möglichst treffende Bezeichnung zu geben ist (wenn möglich: ein in-vivo Kode), sollten plausibel sein und ihre Beziehungen zu anderen Kategorien sollten detailliert aufgefächert werden. Schlüsselkategorien integrieren mehrere Kategorien unter folgenden Gesichtspunkten:

– Zentralität: Bezug zu möglichst vielen forschungsbezogenen Themen,
– Repräsentanz: zahlreiche Indikatoren im Material,
– Vernetztheit: Bezüge zu anderen Schlüsselkategorien,
– Produktivität: Hervorbringung neuer/weiterer theoretischer Annahmen, Hypothesen und Verbindungen,
– Allgemeinheit: Erfassung der maximalen Breite einer Thematik einschließlich möglicher Variationen.

Die einzelnen Schritte der Analyse verlaufen nicht nach einem zwingenden Schema, sie bewegen sich kreisförmig, sprunghaft, bisweilen rekursiv und immer beweglich, dem jeweiligen Stand des Erkenntnisprozesses gemäß. Es wird einer inneren Abfolge von Induktion, Deduktion und Verifikation gefolgt, die sich wechselseitig herausfordern, befruchten und hervorbringen (Strauss 1991: 37).
Induktion umfasst die Vielfalt der aus dem Material hervorgehenden Aspekte, die zu einer Vermutung, These oder Idee für weitere Fragen oder Annahmen führen, die später ggf. in Erklärungen integriert werden. Die deduktiven Schritte des Verfahrens beinhalten die Prüfung der entwickelten Erkenntnis, indem – ausgehend von Hypothesen – Kategorien und Inhalte des vorliegenden Materials miteinander in Beziehung gesetzt werden.

3.2.4 Dimensionen/ Dimensionalisierung

Jede Kategorie vereinigt mehrere allgemeine Eigenschaften in sich und jede dieser Eigenschaften variiert über einen dimensionalen Raum (s. Tabelle unten). Für eine tiefer gehende Analyse ist die Skalierung der Dimensionen (der allgemeinen Eigenschaften) einer Kategorie vorteilhaft, weil die Darstellung des untersuchten Phänomens umso dichter gelingen kann, je genauer seine Position im Rahmen einer Matrix der dimensionalen Eigenschaften bestimmbar ist. Die als Ergebnis einer Fallanalyse identifizierte/n Kategorie/n weist/weisen zunächst ein einzigartiges dimensionales Profil auf, das nur für den einen untersuchten Fall gültig ist, später aber durch gezieltes Aussuchen ähnlicher oder kontrastierender Fälle (vgl. unten: theoretical sampling) in einen allgemeineren Zusammenhang gestellt werden kann.

Abb.3: Kategorie ‚Hilflosigkeit‘ mit Eigenschaften und deren Dimensionen

Abbildung 3 zeigt, welche Eigenschaften die Kategorie Hilflosigkeit aufweist und welche Dimensionen den Eigenschaften angehören. Die Eigenschaften – die nicht wie im vorliegenden Fall als Konzepte bereits kodiert vorliegen sondern auch theoretisch entwickelt werden könnten – sind: Differenz der Erziehungsstile, Ambivalenz im Erziehungshandeln und Vergleich. Die Dimensionen könnten skaliert werden, z.B. für die Eigenschaft Ambivalenz Konflikt: sehr stark – mäßig stark – gering – ohne.