Grounded Theory

3. Darstellung und Erläuterung der Merkmale und Prinzipien der GTM

Die forschungspraktisch nützlichen Leitlinien und Techniken dienen der methodischen Ordnung und Analyse von Daten und sollten nicht als ‚Kochrezepte‘ missverstanden werden(6). Veränderungen im Vorgehen werden je nach Forschungszweck und Umständen des Vorhabens sowie den Erfordernissen des fachwissenschaftlichen Schwerpunktbereichs, in dem die GTM Anwendung findet, erforderlich und sinnvoll sein. Kombinationen mit anderen qualitativen und quantitativen Verfahren (‚Triangulation‘) sind grundsätzlich immer möglich.

Exkurs: Die Beispielstudie – der Fall

Zur Verdeutlichung des Verfahrens der GTM wird im Folgenden auf einzelne Aspekte der Untersuchung von Sabine Rech: Wie eine andere Welt – Eine Grounded Theory-Studie zur Frage der Teilhabe von Eltern an schulischer Kommunikation am Beispiel von Realschüler/-innen(7) zurückgegriffen. Für ein besseres Verständnis der (notwendigerweise) aus dem Zusammenhang gerissenen Beispiele sollen zuerst Fragestellung und Ausschnitte der Forschungsarbeit etwas eingehender betrachtet werden.
Ausgehend von einem systemtheoretischen Ansatz wurde mit dem Verfahren der GTM die familieninterne „Verarbeitung“ des Schulalltags an einer Gruppe von 16 Realschüler/-innen der achten Klasse und sechs ihrer Eltern untersucht. Die Auswahl der zu befragenden Eltern erfolgte aus der Grundgesamtheit aller Eltern der teilnehmenden Schüler/-innengruppe durch theoretical sampling (s.u.) sukzessive im Verlauf der Analyse.
Die Autorin interessierte vor allem die Klärung der Frage, auf welche Weise das Thema ‚Schule‘ in Gesprächen der Familie behandelt wird und welche Irritationen dadurch entstehen können. Sie unterstellte, dass bei den Schüler/-innen ein „Gesamtkonzept von Leistungsorientierung und sozialer Orientierung“ innerhalb und außerhalb der Familie gegeben sei.
Hauptziel war die Erforschung insbesondere zweier Perspektiven:

1) die Haltung, die Eltern hinsichtlich der Schule und ihrer eigenen Teilhabe an schulbezogener Kommunikation einnehmen, und
2) die Auffassung der Schüler/-innen, die am Lebensalltag sowohl ihrer Familie wie ihrer Schule partizipieren.

Im Forschungsprozess der Arbeit wurden vor allem Methoden und Techniken der empirischen Sozialforschung angewandt. Das Kernstück bildeten Befragungen in Form von problemzentrierten Interviews(8) mit einzelnen Eltern und Deutungen von eigens mit einer vorgegebenen Fragestellung initiierten Aufsätzen der einbezogenen Schüler/-innen.
In den Elterninterviews wurden von den Eltern Erzählungen (der von ihnen erinnerten Beobachtungen) bezüglich ihrer Familienkommunikation gegeben. Die Aufsätze der Schüler/-innen beinhalten Beschreibungen (der von ihnen erinnerten Beobachtungen) von Gleichaltrigen-Gesprächen. Die Untersuchung war darauf angelegt, Daten von Jugendlichen und ihren Eltern vergleichend zu analysieren, daher wurden in die Analyse einerseits sechs  „Paare“ (und somit zwölf Fälle) einbezogen und anderseits wurde das hierbei nicht berücksichtigte Material (Personen ohne Paarbildung) gesondert ausgewertet und war Basis erster theoretischer Überlegungen.
Ergebnisse der Analyse belegen, dass in den Familien das Bild von Schule als einer fremden, „anderen Welt“ vorherrscht, während für die Schüler/-innen die Schule eine zumeist willkommene Bereicherung ihrer Lebenswirklichkeit darstellt.

3.1 Der Forschungsprozess im Einzelnen

Ausgegangen wird von einem vorläufig umrissenen Forschungsziel (etwa: Wie sprechen Eltern und ihre Kinder über Schule und Schulalltag im Familienalltag) einer undogmatisch-offenen Fragestellung(9), die unterschiedlich stark konturiert (vgl. Strauss/Corbin 1996: 21ff) sein kann und den Rahmen für erste Feldkontakte unter Anwendung ausgewählter Erhebungstechniken(10) absteckt. Auch die Verwendung von bereits vorhandenen Dokumenten, wie z.B. Tagebüchern, Briefen, Dossiers, Texten aller Art ist üblich. Es ist relativ beliebig, an welchen Phänomenen des Forschungsbereichs der Analyseprozess ansetzt. Allerdings sollten Forscher/-innen zunächst ggf. vorhandenes theoretisches Vorwissen über ihr Forschungsgebiet ausklammern, damit sie möglichst unbeeinflusst viele neue Aspekte des Problemfelds finden und kombinatorisch durchspielen können. Das Verfahren besteht nun – grob skizziert – in einer, ggf. mehrfach zu durchlaufenden, analytischen Triade:
1. die Analyse von bereits vorliegendem Datenmaterial und der Prozess des Kodierens,
2. die Erhebung neuer Daten, theoretisches Sampling, durch jeweilige Resultate angestoßen,
3. die systematische Theorieentwicklung und der Reflexionsprozess des Verfahrens, unterstützt durch theoretisierende Einfälle, die in Memos während der ersten beiden Schritte festgehalten wurden. Alle drei Aktivitäten werden nun beschrieben.

3.2 Das Kodierverfahren

Kodieren bezeichnet im Rahmen der GTM die Analyse von Daten. Es werden nicht, wie es in inhaltsanalytischen Verfahren traditionell üblich ist, zumeist vor der Analyse entwickelte (aus vorhandenen Theorien oder Hypothesen abgeleitete) Kategorien ausgesuchten Textstellen zugeordnet, diese also ‚vercodet‘ oder ‚codiert‘. GTM-‚Kodes‘ werden grundsätzlich erst im Verlauf des Analyseprozesses gebildet, im Fortgang der Auswertung nach und nach erweitert und verfeinert. Es werden drei Arten des Kodierens unterschieden: das offene, das axiale und das selektive Kodieren.

3.2.1 Offenes Kodieren

Das offene Kodieren beginnt mit einer akribischen Betrachtung der Daten, mit dem Ziel Phänomene (der Wirklichkeit) zu erfassen und zu kategorisieren(11). Zunächst sollte eine möglichst umfassende Übersicht über das bereits vorliegende Datenmaterial (z. B. Dokumente, Beobachtungen, Interviews) gewonnen werden. Der jeweilige Text wird „überflogen“, in Abschnitte unterteilt und mit einer vorläufigen Gliederung versehen. Stichwörter, am Rand des Textes platziert, verweisen auf diese Gliederung und erleichtern die spätere Orientierung. Überlegungen zur Aufteilung des Textes oder Vermutungen zum Inhalt und Aufbau des Textes sollten in Memos (s.u.) festgehalten werden. Nun werden kleine und kleinste Partikel wie Worte, Sätze, Textausschnitte, Beobachtungen usw. der Interviews oder Beobachtungsprotokolle (oder anderer Daten), die thematisch relevant erscheinen, auf ihren jeweils zum Forschungsziel gehörenden Gehalt hin abgetastet und durch wiederholte Vergleiche (Komparation) der auf diese Weise identifizierten Sinneinheiten (Indikatoren) die im Material enthaltene Information möglichst vollständig und facettenreich erfasst. Sinneinheiten der Akteure können durch sog. W-Fragen identifiziert werden: Was – um welche Phänomene geht es; wer – welche Akteur/-innen sind beteiligt und welche Rollen nehmen sie ein bzw. werden ihnen zugewiesen; wie – welche Aspekte des Phänomens werden behandelt, welche werden ausgespart; wann/ wie lange/ wo – welche Bedeutung kommt der raumzeitlichen Dimension zu (biographisch oder für eine einzelne Handlung); warum – welche Begründungen werden gegeben bzw. sind erschließbar; womit – welche Strategien werden verwandt; wozu – welche Konsequenzen werden antizipiert oder wahrgenommen (vgl. Böhm 2000).

Abb.1: Die Beziehung von Indikatoren – Konzepten– Kategorien und Kern-/Schlüsselkategorie am Beispiel des Projektberichts „Wie eine andere Welt“. Folgende Konzepte wurden der Kategorie ‚Hilflosigkeit‘ zugeordnet: ‚Rabenmutter‘, ‚Frustration‘, ‚allein im Kampf‘ (eigene Darstellung, D.H.)

Der Kodierprozess mündet zunächst in die Entwicklung und Zuordnung von Konzepten zu den erfassten Indikatoren, die ermöglichen, über Sinneinheiten ähnlichen Inhalts zu sprechen, ihre Beziehungen zu erinnern, zu assoziieren und später auszuformulieren. Die hierbei vorgenommene einfache komparative Analyse beinhaltet den Vergleich von Konzepten, die auf ein ähnliches Phänomen verweisen und führt zu ihrer Klassifikation auf einer höheren Abstraktionsebene. Dann werden Eigenschaften und Dimensionen (s.u.) von Kategorien auf ihre Beziehungen zueinander untersucht und in einem logischen Raum angeordnet.
Die hier vorgestellte Abstraktion und Verdichtung des Materials ist der erste Schritt im Prozess der Theoriebildung: Ähnliche Phänomene (Verdichtung) werden in Konzepten (Abstraktion) vereinigt, häufig identifizierte bzw. inhaltlich ‚passende‘ Konzepte werden Kategorien genannt, die die inhaltlichen Beziehungen der Sinneinheiten repräsentieren. Kategorien, die ein Phänomen zur Darstellung bringen, repräsentieren seine Eigenschaften, Kennzeichen oder Charakteristika. Als geistige Erfindungen sprachlicher Bezeichnungen (Etiketten oder Labels) durch Forscher/-innen sind sie abstrakter als Konzepte, sollen dennoch möglichst anschaulich auf die Konzepte verweisen. Wenn das Material für einen Sachverhalt mehrere Stränge aufweist, werden Kernkategorien ggf. in differenzierende und präzisierende Subkategorien untergliedert.
Das im Folgenden illustrierte Analysebeispiel zeigt den Weg, auf dem Konzepte als grundlegende Bausteine der späteren Theoriebildung aus dem Text (Datenmaterial: Aufzeichnung der Äußerungen der Befragten) herausgearbeitet wurden.

Abb. 2: Interviewtextauszug und Konzeptualisierung (aus: Rech, a.a.O.)

Aus den vorliegenden Elterninterviews wurden jene Aussagen (Indikatoren der Ereignisse) herausgesucht (linke Seite: Unterstreichungen), in denen Äußerungen enthalten waren, die sich auf die subjektiv empfundene Problematik der Integration von Schulalltag und Familienalltag beziehen. Einige der betrachteten Ereignisse konnten den Kategorien: Hilflosigkeit, Belastung Verantwortung zugeordnet werden; die Kategorie ‚Hilflosigkeit‘ beispielsweise umfasste folgende Konzepte: ‚Rabenmutter‘, ‚Frustration‘, ‚allein mit Kampf‘ (rechte Seite: Fettdruck). Eine Kernkategorie(12), die alle genannten Aktionen (durch Konzepte und Kategorien repräsentiert) umfasst, hätte Systemdifferenz genannt werden können. Und weitere Subkategorien zu Systemdifferenz (etwa: Abstimmungsprobleme, Informationsmangel etc.) hätten in anderen Texten, Beschreibungen anderer Ereignisse zwischen Familie und Schule gefunden werden können (z.B. Elternabende, Gespräche mit Lehrer/-innen usw.).
Es wurden vor allem, „in-vivo-Kodes“ (als Zitat aus dem Material entnommene, der Sozialwelt immanente ‚natürliche‘ Kodes) zugewiesen. Sie stellen – wegen ihrer Wirklichkeitsnähe und Assoziationskraft – eine hervorragend geeignete Fundgrube für die Zuweisung einprägsamer Namen für Konzepte und Kategorien dar und repräsentieren bildhaft die Orientierungen, die den Handelnden dazu dienen, sich in ihrer Alltagswelt zurechtzufinden (z.B. ‚Rabenmutter‘ oder ‚Frustration‘).
Eine weitere Art von Kodes findet sich in fachwissenschaftlichen Konstrukten, die von den Forschenden eigens konstruiert oder aus vorliegenden Theorien ‚ausgeborgt‘ werden (Strauss 1994; 64). Diese Kodes – wie z.B. Systemdifferenz oder auch Rolle, Sozialverhalten und Aggression – bezeichnen systematisch zusammenhängende (abstrakte) Kategorien bzw. Begriffe, die das Fachwissen über das Untersuchungsfeld integrieren. Daher vermögen sie der Analyse stärkere fachwissenschaftliche Akzente und Querverweisungen und damit eine größere Reichweite zu geben, als lebensweltliche Kodes(13). Für die Analyse mit GTM kommt es entscheidend darauf an, die Ebenen des alltagsweltlichen und des wissenschaftlichen Erfahrungsraums problemangemessen zu integrieren.
Es ist zu beachten, dass Konzepte und Kodes das Ergebnis geistiger Arbeit an einem Text (o.Ä.) bezeichnen. Sie bilden – als Schritte auf dem Weg zu empirisch fundierten Verallgemeinerungen – ihrerseits Textstücke, also mentale Konstrukte und sollten nicht als ‚Tatsachen‘ missverstanden werden.
Zum vorstehenden Textbeispiel wurden bereits während des Kodierens die bei der Erfassung der ersten Sinneinheiten entstehenden Assoziationen und Ideen zur Deutung des Textes bzw. Beobachteten in sogenannten memos(14) aufgezeichnet, gesammelt und geordnet, selegiert, präzisiert und auf gemeinsame Wirklichkeitsdimensionen hin untersucht, woraus weitere Anhaltspunkte zur allmählichen Verfertigung eines gedanklichen Modells gewonnen werden konnten. Memos enthalten Notizen(15), die zunächst der Erinnerung und später der Gedankenarbeit dienen: sie bestehen aus Anmerkungen und Kommentaren zur Analyse und zum Datenmaterial, graphischen Veranschaulichungen von Kategorien und ihrer Relation zueinander, entdeckte Probleme etc.

Im Folgenden werden einige Memos der Referenzstudie zitiert, um zu verdeutlichen, was Memos leisten:

1. „Anstrengung und Belastung durch die Schule werden in diesem Fall sehr offensichtlich als persönliches Erleben einer Mutter geschildert, während andere Interviewpartner die Belastung mehr indirekt zum Ausdruck bringen oder als „geteiltes Leid“ von Kind und Eltern ansehen“

2. „Belastung durch die Schule wird auf zwei Ebenen begründet: einmal durch Veränderungen, die die weiterführende Schule mit sich bringt (deutlich wird dies durch Verwendung des Komparativs: anstrengender bzw. belastender), zum andern durch einen Konflikt, der in einer differenzierten Haltung zwischen notwendiger und hinreichender bzw. erforderlicher Unterstützung schulischer Aktivitäten der Tochter besteht“

3. „Der erwähnte Gewissenskonflikt deutet darauf hin, dass der eigene Erziehungsstil, der im familiären Geschehen seine Anwendung findet, mit dem Erziehungsstil in der Schule konfligiert. Dadurch tritt gleichzeitig eine erzieherische Unsicherheit auf, wie mit dieser Differenz von Stilen bzw. Zielen der Erziehung umgegangen wird. Auch der Vergleich mit anderen Müttern verursacht ein schlechtes Gewissen („…als Vergleich zu anderen Müttern…“). Dieser Vergleich wirft die Frage auf, wie viel Verantwortung notwendig ist und wie viel der Tochter in Sachen Schule zugemutet werden kann und führt zur Eigenbeurteilung einer Rabenmutter, die von ihren Kindern in schulischen Angelegenheiten die Selbstständigkeit abverlangt, die ihnen auch zu Hause zugestanden und auferlegt wird („…lässt deine Kinder total hilflos…“)“

4. „Im Rahmen des erzieherischen Handelns entsteht dadurch das Gefühl der Hilflosigkeit. Erziehung wird persönlich als Frustration und Kampf erlebt, besonders, weil das erzieherische Handeln nach ihrer Scheidung von der interviewten Mutter alleine bewältigt werden muss“

Das letzte Memo legt nahe ‚Hilflosigkeit im erzieherischen Handeln der Mutter‘ als zentrales Konzept des Textes zu betrachten. Später wurde das betreffende und jedes weitere Interview auf die Anwendbarkeit des Konzepts Hilflosigkeit überprüft (axiales Kodieren, s.u.) und durch Zuordnung von prägnanten Attributen präzisiert: verschiedene Eigenschaften stellen seine Charakteristika dar und Dimensionen (s.u.) ermöglichen die weitere Qualifizierung dieser Eigenschaften. Die komparative Analyse der übrigen Elterninterviews konnte tatsächlich belegen, dass weitere Indikatoren dem Begriff der „Hilflosigkeit“ zuzuordnen waren. Damit erbot sich die Anhebung des Abstraktionsniveaus: dem Konzept „Hilflosigkeit“ wurde der Status einer – auf einer höheren Ebene liegenden – Kategorie zugesprochen, die als Baustein weiterer Theoriebildung fungiert und die verschiedene Konzepte mit ähnlichem Inhalt (Verhaltensbezug, Phänomensinn) zusammenfasst. (vgl. zum logischen Bezug die Abb. 1, oben).

Andere neben „Hilflosigkeit“ analytisch herausgearbeitete Kategorien/Konzepte dieses Interviews (u. a. Belastung, Verantwortung, Unterstützung etc.) wurden als willkommene Anstöße zur Sammlung weiterer Daten (theoretisches Sampling) und als Anhaltspunkte für die Analyse dieser Daten genommen.

Es ist ersichtlich, dass Memos sehr hilfreich zur Erfassung der ersten Eindrücke und Gedanken sind. Allerdings empfiehlt sich, die zunächst getroffenen Überlegungen als Hypothesen aufzufassen, die ihre Brauchbarkeit vielleicht gar nicht, vielleicht aber im Verlauf des weiteren Kodierprozesses (Konzeptualisierung) vor allem im Vergleich mit den Inhalten anderer Daten erweisen können. Als Einstiegsüberlegungen bieten sie ein nützliches Mittel das abstrahierende Denken über die Aspekte der Datenbasis anzustoßen und zu dokumentieren. Zugleich können die konzeptualisierenden Notizen Hinweise für den Bedarf und den Prozess der Auswahl weiterer Daten enthalten (s.u.: theoretical sampling).