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Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Die nachfolgende Videoszene zum Mathematikunterricht entstammt der gleichen Klasse wie der angeführte Deutschunterricht und ebenfalls der Einführung in ein neues Thema. Ähnlich wie im Deutschunterricht versammeln sich die SchülerInnen am Gruppentisch. Sie wählen dabei eine vergleichbare Anordnung ihrer Plätze. Auch wird ihnen eine auf Kooperation angelegte Aufgabe erläutert. Anders als im Deutschunterricht sollen die SchülerInnen dabei innerhalb von zwei durch Herrn Peters eingeteilten Gruppen[1] kooperieren, die miteinander in einen Wettkampf treten.

Herr Peters führt gemeinsam mit Frau Werner in einem Klassengespräch in das Thema „Negative Zahlen“ anhand ihres Vorkommens im Alltag (z. B. Temperatur) ein. Dann fordert er einen Schüler auf, einen Zahlenstrahl von -15 bis +15 an die Tafel zu zeichnen und zu beschriften. Er teilt die SchülerInnen in zwei „Mannschaften“ ein: Jene, die vom Pult aus betrachtet links sitzen, bilden die eine Gruppe („Wandseite“), und jene, die rechts sitzen („Fensterseite“), die andere. An der Wandseite des Tisches sitzen nebeneinander (vom Pult aus) Dinika, Mahek, Joana, Alberta, Ahmet, Basil, Cem, Paolo und Fritz, an der Fensterseite des Tisches (vom Pult aus) Elena, Sarah, Adriano, Arda, Fuat, Nino und Emre (etwas später kommt Marco hinzu und setzt sich hinter Nino und Emre). Je abwechselnd sollen die Gruppen Zahlen zwischen eins und sieben subtrahieren, beginnend bei 15. Mithilfe eines Magneten wird der durch die Subtraktion auf dem Zahlenstrahl erlangte Wert markiert. Die „Mannschaft“, die durch Subtraktion zuerst den Wert von -15 erreicht, gewinnt. Die jeweilige Subtraktion wird zudem an der Tafel protokolliert. Nachdem die „Fensterseite“ zweimal gewonnen hat, fordert Herr Peters die „Wandseite“ auf, sich das Protokoll anzusehen, um herauszufinden, warum sie zweimal verloren hat, und ihr Vorgehen für die nächste Runde abzusprechen. Herr Peters führt weiter aus: „Wer als Nächstes gewinnt, hat die ganze Serie gewonnen.“ Nach ca. vier Minuten, während derer Herr Peters und Frau Werner mit SchülerInnen der „Wandseite“ zielführende Subtraktionen der nächsten Spielrunde eruieren, eröffnet der Lehrer die dritte und letzte Runde.

Bereits die gegenüber dem Deutschunterricht homologe Verteilung der SchülerInnen um den Tisch verweist auf eine ritualisierte Form der räumlichen Positionierung im Lehr-Lern-Arrangement, mit der eine implizite geschlechtsspezifische Schaffung von räumlicher Nähe/Distanz zu Tafel und Pult einhergeht. Diese habitualisierte Differenzbildung wird auf formaler Ebene durch die Einteilung des Mathematiklehrers gebrochen, da er geschlechtergemischte „Mannschaften“ bildet.

Die folgende Videoszene setzt ein, als Emre von der „Fensterseite“ gerade die Spielrunde mit Notation der vorgenommenen Subtraktion „8-7=1“ an der Tafel abgeschlossen hat.

Fuat flüstert: „Wir müssen wir müssen minus eins machen (4)“, die rechte Hand auf Ninos Schulter, den linken Zeigefinger zur Tafel gestreckt, „(weil) wenns wenns zuviel isch dänne könne die (nöd so) mache (check checkets nöd).“[2] Nino sagt „Ah ja (.) bene“[3], lehnt sich am Tisch vor, den Kopf in Joanas Richtung wendend. Fuat äußert in einem Singsang: „Mir händ gwunnä, mir händ gwunnä.“[4], Nino lacht zweimal auf und richtet seinen Oberkörper auf. Joana erwidert zeitgleich, in die Richtung der beiden Jungen blickend: „Nei ihr händ nit gwunnä“[5]. Fuat ruft „Ihr könnt scho ufgää“[6]. Zeitgleich ruft Nino „Also mach“, tippt kurz mit gestrecktem Zeigefinger und nach vorne schnellendem Arm in Joanas Richtung, Oberkörper und Kopf nach vorne neigend. Er ruft nochmals: „Mach (jetz)“, während er den Arm auf den Tisch legt und sich wieder aufrichtet. Fuat blickt währenddessen stirnrunzelnd zu Joana und wiederholt: „Ihr könnt scho jetz uffgä, ihr könnt scho uff(höre)[7]“. Dann wendet er den Kopf schüttelnd ab.

In vergemeinschaftender Geste erklärt Fuat Nino das als notwendig erachtete weitere Vorgehen der eigenen Gruppe („wir“). Während er spricht, deutet er zur Tafel und nimmt so Bezug zum aktuellen Spielstand. Seine Interaktion erfolgt simultan zu derjenigen von Joana und Paolo, und er schlägt eine identische Subtraktion (minus eins) vor. Zugleich inszenieren die beiden sowohl durch Flüstern und Verweis, die andere Gruppe verstehe es nicht „(checkets nöd)“ (Fuat), als auch durch lautstarke Validierung (Nino) eine gelingende verdeckte Kommunikation zur gemeinsamen Strategie. Sie folgen damit einer expliziten Anweisung des Mathematiklehrers. Anschließend deklariert Fuat im Singsang geradezu triumphierend den Spielgewinn. Das Lachen Ninos bestätigt die spaßvolle Äußerung Fuats. Theatralisch führen die Schüler den vom Lehrer durch die alles entscheidende dritte Runde zugespitzten Wettkampf auf. Joana verneint Fuats Aussage und adressiert verbal und durch Blickkontakt Fuat und Nino. Noch bevor sie fertig gesprochen hat, reagieren beide: Fuat stellt ironisch die Handlungsoption in den Raum, vorzeitig aufzugeben, womit er die abzusehende Niederlage betont. Nino wiederum fordert Joana gestisch (Handgeste, Nicken) und verbal: „also mach“, intensiviert durch Lautstärke und Wiederholung, zum Handeln auf. Die gegnerische Seite wird also durch eine gewisse Häme (Fuat) und den gestisch-sprachlich erzeugten Handlungsdruck (Nino) dazu herausgefordert, die Antithese unter Beweis zu stellen. Zudem wird aus Fuats Gruppenadressierung mit Ninos Äußerungen eine persönliche Adressierung Joanas.

Im Anschluss daran übernimmt Joana den nächsten Spielzug: (1-1=0). Der dramaturgische Höhepunkt dieses Interaktionsverlaufs setzt kurz danach ein: Zunächst fordert Joana Nino direkt zum folgenden Spielzug auf. Als dieser zur Tafel kommt, verbleibt Joana jedoch dort und erläutert, wie ihre Gruppe zur -15 gelangen würde. Dies löst lautes Jubeln aus, u. a. von Paolo, der mehrmals klatscht. Nino, der im seitlichen Profil im KB vor der linken Tafelseite abgebildet ist, blickt zu Joana, die ihm zugewandt etwa zwei Schritte rechts entfernt steht. Die SchülerInnen und der Lehrer am Gruppentisch richten ihre Köpfe zum Tafelgeschehen. Nino streckt seinen linken Zeigefinger zum Zahlenstrahl, tippt unterhalb -8 und blickt zu Joana, „Zäh-“. Joana hebt ihre linke Hand auf Kinnhöhe, lässt sie nach vorne (abwinkend) sinken, während Nino zu fragen beginnt: „Was git zäh“[8] und seine rechte Hand Joana auf Brusthöhe entgegenstreckt: „Was git.“ Joana fällt ihm ins Wort: „Nei“, geht auf ihn zu, hebt ihre linke Hand, die sie schnell auf seine erhobene rechte fallen lässt und schiebt sie damit weg, während Nino ruft: „fuffzäh“ und dabei schnell die linke Hand nach links unter -15 schiebt. Joana schreit: „Nein! Mann!“, lässt ihre erhobenen Arme ruckartig fallen, hochschnellen und wieder etwas fallen, sodass ihre linke Hand Ninos erhobene rechte zu berühren scheint. Nino ruft weiter: „Was git fuffzäh“, schiebt die linke Hand deutend schräg zwischen -9 und -8 am Zahlenstrahl und ruft „minus acht?“. Joana tritt gleichzeitig näher an die Tafel, führt ihre rechte Hand der linken Ninos entgegen und ruft: „(nit eis)“ und schiebt seine Hand zur Seite, die er sinken lässt. Joana sagt etwas (unverständlich) und tippt, nach links tretend, unter -10, während Nino rückwärts zurücktritt, die linke Hand auf Bauchhöhe nach oben geöffnet, und Joana stirnrunzelnd mit offenem Mund anblickt. Joana tippt mit dem rechten Zeigefinger in Einerschritten nach links auf dem Zahlenstrahl; währenddessen ruft Herr Peters: „Joana, du bist fertig“, dreht sich mit seinem zur Tafel gewandten Kopf und dem Oberkörper weiter nach links und legt die linke Hand auf Ninos Oberarm. Während Joana äußert: „(die) ist da“ und mit dem Zeigefinger bis unterhalb -14 gelangt, fordert Herr Peters sie in lachendem Tonfall auf: „Setzt du dich bitte wieder?“ Joana fährt fort: „und mir (dänn) äbbe“. Sie tippt mit dem Zeigefinger schnell unterhalb der -15, während sie ihr Gesicht frontal Ninos Gesicht zuwendet. Dieser hebt beide Arme, lässt die rechte Hand sinken, während er seine linke zur Mitte des Zahlenstrahls streckt und in diese Richtung schreitet, den Kopf zur Tafel drehend. Joana blickt ihn fortwährend an, lässt ihre rechte Hand sinken und ergänzt: „minus eis“, weicht mit drei Schritten zurück und fährt fort: „aber da ha mier gwunnä“. Während dieser Sequenz klatscht Paolo noch zweimal rhythmisch, lacht, neigt sich schräg zu Fritz herüber, dreht sich nach hinten und lacht nochmals lauthals. Neben ihm lacht auch Ahmet, Cem und die Kamerafrau lächeln, weitere, von hinten abgebildete Köpfe (Emre, Basil) bewegen ihren Oberkörper bzw. Kopf.

Die Szene steigert sich hier zu einem antithetischen Schlagabtausch: Nino stellt – als sei er in der Lehrerrolle – eine Frage zum Ergebnis einer einfachen Rechnung, dies mit Bezug auf den Zahlenstrahl, den er vom Endergebnis her aufrollt. Joana intensiviert dann ihre Praktiken durch erhöhte Lautstärke (Sprache) und Geschwindigkeit (Gesten). Sie schiebt zudem Ninos zeigende Hand weg, dessen Gestik die Subtraktion 15-8 veranschaulicht, und damit die Deutung, dass nicht die Wand-, sondern die Fensterseite gewinnt. Nino nimmt dann die andere Hand zu Hilfe, um die Subtraktion zu zeigen. Kurz bevor seine Hand unter die -8 gelangt, wird sie von Joana wieder weggeschoben. Mit gesteigerter Lautstärke (Schreien) präsentiert Joana ihre Rechenergebnisse und gelangt, Einerschritte zeigend, von -10 zu -14, dem offenbar der gegnerischen Seite zugedachten Wert ihrer zuletzt möglichen Subtraktion. Joana schiebt Nino dabei körperlich nach links, vertreibt ihn geradezu, um zur Siegeszahl vorzudringen. In dieser konkurrieenden Situation greift Herr Peters ein, indem er Joana explizit zur Sitzplatzeinnahme auffordert.

Dessen ungeachtet führt Joana gestisch und argumentativ ihre Proposition weiter aus, wonach die gegnerische Gruppe zwingend zur -14 gelange und ihre Mannschaft durch Subtraktion von 1 das Ziel der -15 erreiche. Joana schlussfolgert daraus den Gewinn ihrer Gruppe – mit demselben Wortlaut der Siegesdeklaration der gegnerischen Gruppe zuvor.

In dieser Szene zeigt sich eine spezifische Bezogenheit von Joana und Nino aufeinander, die den Streit an der Tafel zu einem persönlichen macht. Dies kündigt sich zunächst dadurch an, dass Joana Nino namentlich zum nächsten Spielzug auffordert, wie er zuvor sie. Zudem dokumentiert sich in der Intensität des Ausdrucks ein persönliches Involviertsein und in den wiederholten körperlichen Berührungen eine erotische Komponente. Dieser Schlagabtausch zwischen Joana und Nino an der Tafel wird von Paolo beklatscht und evoziert ausgeprägtes Lachen bei ihm und weiteren Schülern (die Schülerinnen sind im KB von Schülern weitgehend verdeckt). Die Zuschauenden sind damit an der situativen Dramaturgie deutlich beteiligt. Das offensichtlich Komische liegt genau in diesem öffentlich inszenierten Schlagabtausch, der die Vorführung an der Tafel als die eines streitenden ‚Paares‘ erscheinen lässt. Die AkteurInnen zeigen hier stellvertretend für das Publikum einen experimentellen Streit zwischen den Geschlechtern, der Differenzen im Modus eines heterosexuellen Paares bearbeitet.

Im weiteren, hier zusammengefassten Verlauf der Videoszene wiederholt Joana die Deklaration des eigenen Gewinns verbal und gestisch, während Nino erfolglos versucht, seine Überlegung an der Tafel zu demonstrieren. Als Joana den Tafelbereich verlässt, kommentiert Nino: „(Scheiße) bist du dumm“. Während sie sich setzt, ruft sie „Er hät’s sälber so geseit gehabt“[9].

Nino zeigt sich gegenüber dem siegessicheren Auftreten Joanas nahezu verärgert („Scheiße“) und negiert verbal Joanas intellektuelle Fähigkeiten grundlegend. Demgegenüber bekräftigt sie ihre Proposition, indem sie hervorhebt, dass diese von ihm ‚selbst‘, vermutlich Nino, favorisiert wurde. Hier dokumentiert sich eine auf den Mitschüler bezogene Zuschreibung von Wissen bzw. Leistung, mit der zugleich eine defizitäre Selbstzuschreibung einhergeht, so als müssten die Erwägungen des anderen nicht mehr überprüft werden.

Resümierend ist festzuhalten, dass in der dargestellten Sequenz des Mathematikunterrichts eine Schülerin und ein Schüler die Möglichkeit erhalten, ihre mathematischen Leistungen in Form von Rechenstrategien, die zuvor in den Gruppen abgesprochen werden sollten, an der Tafel, die wie eine Bühne erscheint, zu präsentieren bzw. vorausgreifend zu erproben. Diese doppelte Rahmung ist ambivalent, da Leistung deutlich individueller zugeschrieben wird, als es zu Beginn des Unterrichts mit der Einteilung der gegeneinander konkurrierenden und miteinander kooperierenden Gruppen vorgesehen war.

Die von den SchülerInnen praktizierte Form der Umsetzung des Rechenspiels wird durch den Erfahrungsraum peerkultureller Aushandlung von Geschlechterbeziehungen deutlich überlagert. Dies erfolgt im Kontext einer konjunktiv eingespielten, geschlechtsspezifischen Positionierung am Tisch, die von Seiten des Lehrers durch Einteilung der geschlechtergemischten Gruppen zunächst – kommunikativ – gebrochen wird. Diese Bearbeitung der von den SchülerInnen hervorgebrachten Differenz wird durch diese wiederum in der Aufführung eines mit Berührung und Körpernähe erotisierend aufgeladenen Streits zwischen Joana und Paolo umgearbeitet. Dabei wird die Auseinandersetzung auf der Bühne des Tafelbereichs zu einem stellvertretenden Schauspiel, das die MitschülerInnen mit Spaß verfolgen und als Zuschauende mitgestalten.

 

Fußnoten:

[1] Der im Feld verwendete und von uns zu Darstellungszwecken einbezogene Begriff der „Gruppe“ meint hier kein überdauerndes soziales Gebilde im Sinne z. B. eines konjunktiven Erfahrungsraumes, sondern die situativ und explizit durch die Lehrperson für diese Unterrichtsphase vorgenommene Unterteilung der Klasse in zwei gegnerische Untereinheiten.

[2] (weil) wenns wenns zu viel ist dann können die (nicht so.) machen (check checkens nicht).

[3] Ah ja, gut (Italienisch).

[4] Wir haben gewonnen, wir haben gewonnen.

[5] Nein ihr habt nicht gewonnen.

[6] Ihr könnt schon aufgeben.

[7] Ihr könnt schon jetzt aufgeben, ihr könnt schon aufhören.

[8] Was gibt zehn?

[9] Er hat es selbst so gesagt.

 

Mit freundlicher Genehmigung des Budrich Verlages

http://www.budrich-journals.de/index.php/gender/article/view/21910

 

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