Dieser Fall basiert auf Material aus den INTAKT-Daten. Die kompletten Datensätze können zu Forschungszwecken über das Online-Fallarchiv Schulpädagogik angefordert werden. Mehr Informationen finden Sie unter http://www.fallarchiv.uni-kassel.de/projektdaten-intakt/intakt-informationen/.

Hinweis: Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

„Serielle Stigmatisierungen von Schüler/innen in Lehrer-Schüler-Interaktionen – Melanie“

 

Einleitende Bemerkungen

Im Folgenden werden die beiden ausgewählten Fälle serieller Diskriminierung, Justus und Melanie, anhand von Szenenfolgen vorgestellt. Auf diese Weise werden Einblicke in alltägliche Stigmatisierungsprozesse im schulischen Kontext möglich. Es ist zu berücksichtigen, dass in den Unterrichtsstunden stets mindestens ein Beobachter des Forschungsteams anwesend war und dennoch solche Stigmatisierungsprozesse, wie sie im Folgenden geschildert werden, beobachtet werden konnten. Wie Lehrkräfte sich verhalten, wenn keine Beobachter anwesend sind, ist eine immer wieder diskutierte offene Frage.

Zunächst werden fünf Szenen vorgestellt, in deren Mittelpunkt Justus steht, anschließend geht es in vier Szenen um pädagogische Interaktionen mit Melanie. Die einzelnen Szenen werden nacheinander jeweils beschrieben, unter Hinzuziehung der Beobachterinterpretation interpretiert und im Hinblick auf ihre kinderrechtliche Relevanz analysiert.

 

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Justus

Justus besucht eine dritte Klasse in einer staatlichen Grundschule. In dieser Klasse werden auch drei „Inklusionskinder“ unterrichtet. Es wurden sechs Unterrichtsstunden beobachtet. Die durchschnittliche Interaktionsszenenzahl zwischen der Lehrkraft und je einem Kind der Klasse liegt in den sechs beobachteten Unterrichtsstunden bei acht Szenen. Mit Justus wurden in diesem Zeitraum 46 Lehrer-Schüler-Interaktionsszenen beobachtet. Daraus werden die folgenden fünf Interaktionsszenen zwischen der Klassenlehrerin und Justus ausgewählt. Vier der Szenen zeigen, wie Justus wiederholt durch seine Lehrerin verletzt wird. Die fünfte Szene belegt, dass es auch Situationen gibt, in denen die Lehrerin anerkennend mit Justus umgeht. Insgesamt weisen von den 46 Szenen keine sehr anerkennende, sieben leicht anerkennende, 15 neutrale, 14 leicht verletzende, sechs sehr verletzende und vier ambivalente Qualität auf.

Szenenbeschreibung 1: Fallbeispiel Justus

Zu Stundenbeginn empfängt die Lehrerin die Schüler freundlich: „So, Kinder, eine Stunde haben wir noch. Ihr habt heute schon toll gearbeitet, auch Justus. Und jetzt, Justus, versuchst du nochmal mitzumachen und heut Abend früher ins Bett zu gehen.“ Kurz darauf erkundigt sich die Lehrerin bei Justus nach seinen Einschlafgewohnheiten. Der Junge beschreibt, dass er jeden Tag um 19 Uhr ins Bett gehe, dann aber nicht einschlafen könne. Daraufhin fragt die Lehrerin leicht ungeduldig und Justus teilweise unterbrechend, was er denn vor dem Einschlafen mache und ob er „etwa am Computer“ sitze. Der Junge bestreitet dies, es stellt sich im Laufe des Gesprächs aber schließlich heraus, dass er sich meist vor dem Zubettgehen mit einem Nintendo-Spiel beschäftigt. Als die Lehrerin dies hört, stellt sie unumwunden fest: „Das ist Überreizung. Ich könnte auch nicht schlafen so. Kein Wunder. Wenn ich abends jogge, gehe ich noch kurz unter die Dusche und sobald ich auf dem Bett sitze, schlafe ich auch schon ein.“ Durch einen Fingerzeig nach draußen unterstreicht sie ihr Plädoyer für viel Bewegung an der frischen Luft, insbesondere jetzt im Frühling. Der Beobachter notierte in seiner Introspektion Betroffenheit über das Lehrerverhalten.

Interpretation

Justus wird in dieser Feldvignette nach einer Reihe von Interaktionsszenen vor der gesamten Klasse positiv erwähnt. Das Protokoll weist aus, dass er in den vergangenen beiden Stunden häufig negativ angesprochen wurde und in der Pause einen verletzenden Kommentar der Lehrerin zu hören bekam. Das Urteil der Lehrerin, Justus beschäftige sich zu viel mit Computerspielen und bewege sich zu wenig, scheint schon vorher festzustehen, ein Eindruck, der durch Ungeduld der Lehrerin und die verhörende Art der Ansprache bekräftigt wird. Bewegt durch die Fragen der Lehrerin öffnet sich der Junge sehr, was die Lehrerin nur teilweise zu ertragen scheint und in keiner Weise würdigt. Stattdessen gebraucht sie Mutmaßungen über Justus Äußerungen dazu, sich erneut eine „eigene Bühne“ zu schaffen und ihre Sicht der Dinge zu präsentieren. Der Junge wird in dieser Szene unangemessen behandelt. Seine Offenheit wird nicht anerkannt, sondern übergangen. Es ist traurig, dass die Lehrerin diesen Anlass, etwas über den Jungen und seine möglichen Probleme zu erfahren, nicht nutzt.

Kinderrechtliche Reflexion

Die Lehrerin stigmatisiert das Kind in der vorliegenden Interaktionsszene, denn sie schreibt ihm zu, dass er keine geeigneten abendlichen Freizeitaktivitäten betreibe, wodurch er nicht schlafen könne. Dies erörtert sie vor der gesamten Klasse und stellt den Jungen damit bloß. Man könnte vermuten, dass die Lehrerin ein Bild vom Jungen hat, das sie einem Elternhaus zuordnet, welches sich nicht in genügend gutem Maße um das Kind sorgt und es abends zu sinnvollen Aktivitäten antreibt. Statt diese Problematik mit dem Jungen in einem vertraulichen Gespräch zu thematisieren und anschließend das Gespräch mit den Eltern zu suchen, um eine geeignete Lösung zu finden, erklärt sie ihre eigenen abendlichen Aktivitäten vor dem Kind und der Klasse und stellt diese als vorbildlich dar. Das Kind kann jedoch vermutlich nur begreifen, dass es auch zuhause viele Dinge wie in der Schule „falsch“ macht. Geholfen wird dem Jungen in dieser Szene nicht. In dieser Situation liegt vermutlich eine Stigmatisierung des Kindes aufgrund seiner sozialen Herkunft vor. Dies widerspricht der Kinderrechtskonvention vor allem laut Artikel 2 (Diskriminierungsverbot) und Artikel 16 (Schutz der Privatsphäre und Ehre).

Szenenbeschreibung 2 – Fallbeispiel Justus und Nico

Justus und Nico streiten sich, da beschwert sich Justus bei der Lehrerin: „Nico nervt mich.“, worauf die Lehrerin klar Partei ergreift: „Nico nervt dich. Nico macht gar nichts, der ist nämlich ein süßer Schnuckel!“ [Nico demonstrativ heftig umarmend und an sich drückend, während Justus zunächst danebensteht und dann betrübt an seinen Platz zurück schleicht]. Noch in der Umarmung flüstert Nico der Lehrerin zu, dass Justus ihn getreten habe, woraufhin die Lehrerin sofort Justus diesbezüglich beschuldigt und ihn ermahnt, das Treten zu unterlassen. Da will sich der Junge erklären, was die Lehrerin jedoch strengen Tones unterbindet: „Justus, du musst immer das letzte Wort haben. Kannst du nicht einfach mal sagen: ‚Ja, Frau Klaus, ich merk‘s mir.‘?!“ Nun setzt sich Justus, den Kopf zwischen den aufgestützten Händen vergraben, an seinen Platz. Der Beobachter notierte in seiner Introspektion, dass ihm Justus unendlich leidtut und er ihn in den Arm nehmen und trösten möchte.

Interpretation

Die Annahme aus vorangegangenen Szenen, die Lehrerin hege Vorbehalte gegenüber Justus, verfestigt sich hier, da die Lehrerin von vornherein für Nico Partei ergreift, ohne sich beide Versionen der Jungen anzuhören. Sie wiegelt Justus Beschwerde sofort ab und bringt ihre Sympathie Nico gegenüber deutlich zum Ausdruck, was für Justus sehr verletzend sein muss. Zudem hält sie die Geschichte Nicos für bare Münze und beschuldigt Justus, ohne sich vorher die andere Version des Streits anzuhören.

Kinderrechtliche Reflexion

In dieser Szene wird Justus als derjenige stigmatisiert, der andere ärgert und sein Fehlverhalten nicht einsieht sowie aus Ermahnungen nicht lernt. Im Gegensatz dazu wird sein Mitschüler als das Opfer dargestellt, der das Verhalten von Justus ertragen muss. Durch die verbale und physische Zuneigung der Lehrerin gegenüber dem Mitschüler Nico und ihrer Verweigerung derselben gegenüber Justus verschärft sich die Stigmatisierung und Ausgrenzung des Jungen noch einmal deutlich. Justus Reaktion des Verbergens seines Kopfes zwischen den Händen zeigt seine Verzweiflung. In dieser Szene wird das Kind aufgrund seines Verhaltens stigmatisiert. Die Lehrkraft scheint – anders als bei Nico – Justus keine Anerkennung geben zu können. Das Kind wird nicht gehört und nicht ernst genommen. Dies widerspricht der Kinderrechtskonvention laut Artikel 12 (Berücksichtigung des Kindeswillens) und Artikel 13 (Freie Meinungsäußerung).

Szenenbeschreibung 3 – Fallbeispiel Justus

Justus meldet sich, während die anderen Kinder ihrer Stillarbeit nachgehen. Mit erhobener Stimme und genervtem Ton fragt die Lehrerin ihn: „Was willst denn du?!“, „Bin fertig.“, murmelt darauf der Junge und die Lehrerin entgegnet schnippisch: „Ja, du hast eher angefangen, das macht einen krank, lass doch mal die anderen Kinder jetzt arbeiten.“

Interpretation und Introspektion

Die Wortwahl der Lehrerin ist in hohem Maße unangebracht und feindselig. Dem Schüler an den Kopf zu werfen, er mache sie krank, ist sehr drastisch. Sie versäumt es, sich dem Jungen zu widmen und ihn mit neuen Aufgaben zu versorgen. Zudem ergäbe sich die Möglichkeit, Justus in angemessener Form zu erklären, dass er sich an Abmachungen zu halten hat und erst mit der Bearbeitung von Aufgaben beginnen darf, wenn sie die Aufgabenstellung zu Ende erläutert hat. Diese Zurückweisung empört den Beobachter zutiefst. Er fragt sich, ob die Lehrkraft darüber nachdenkt, wie sie mit dem Jungen umgeht und was sie ihm sagt.

Kinderrechtliche Reflexion

Auch in dieser Szene erfährt der Junge trotz Erbringung von Leistung in kurzer Zeit keine Anerkennung, sondern wird beschuldigt, früher begonnen zu haben. Zudem unterstellt die Lehrkraft dem Jungen, dass er sie krankmache, weil er sich nicht an das strikte Vorgehen ihrer Ansagen hält. Diese Unterstellung ist stigmatisierend und erzeugt Schuldgefühle. Laut der Kinderrechtskonvention Artikel 28, Absatz 2 (Wahrung einer angemessenen Lernatmosphäre) sowie Artikel 2 (Diskriminierungsverbot) muss in der Schule eine Lernatmosphäre geschaffen werden, in der solches Lehrerverhalten nicht auftritt.

Szenenbeschreibung 4 – Justus

Justus kommt einer Aufforderung nicht sofort nach und wird von der Lehrerin mahnend angesprochen: „Justus, ich warte!“ Dann versucht der Junge, in den Kreis aufgenommen zu werden, was ihm aber nicht gelingt. Als er neben der Lehrerin steht und sie hilfesuchend anschaut, bemerkt sie leicht spöttisch: „So, Justus, ja, schade eigentlich, ne?!“ [schaut ernst]. Schließlich sorgt sie aber doch dafür, dass der Junge in den Kreis aufgenommen wird.

Interpretation

Möglicherweise dauert es bei Justus des Öfteren etwas länger, Aufforderungen nachzukommen, was die Reaktion der Lehrerin dennoch nicht rechtfertigt. Ihre Ermahnung scheint zunächst angebracht, da Justus tatsächlich der Letzte war und alle auf ihn warteten. Dass die Lehrerin den Jungen allerdings so lange hat ‚zappeln‘ lassen, bis er endlich in den Kreis aufgenommen wurde, und seine Hilflosigkeit und Beschämung mit einem derart feindseligen Kommentar zur Schau stellt, ist problematisch. Der Beobachter empfindet die Feindseligkeit der Lehrerin gegenüber Justus als erschreckend. Zudem findet er es traurig, dass ihn keiner seiner Mitschüler in den Kreis gelassen hat und dafür erst das Eingreifen der Lehrerin nötig war.

Kinderrechtliche Reflexion

Justus wird hier aus der Lehrer-Schüler-Gemeinschaft ausgeschlossen und schließlich nur widerwillig akzeptiert. Die Lehrkraft erniedrigt das Kind, indem sie es hinhält und vorführt, dass es ausgeschlossen ist. Das Ermöglichen individueller Lernchancen sozialer Kompetenzen, was laut der Kinderrechtskonvention Artikel 29/1a und d gefordert wird, wird in dieser Szene nicht umgesetzt.

Szenenbeschreibung 5 – Justus

Nur selten wurden positive, anerkennende und damit den Jungen in seiner Persönlichkeitsentwicklung fördernde Szenen wie die folgende beobachtet: Justus arbeitet noch immer an seinen Aufgaben. Als er damit fertig wird, fragt er die Lehrerin, welche Arbeitsmaterialien er als nächstes benötigt. Diese Information hatte die Lehrkraft bereits gegeben. Sie wiederholt dies geduldig.

Interpretation

Die Lehrerin nimmt Rücksicht auf den Jungen, der mit ihrem anfänglich vorgegebenen Tempo nicht schritthalten konnte. Der Beobachter beschreibt introspektiv, dass es ihn freut, dass die Lehrerin so viel Geduld mit Justus zeigt.

Kinderrechtliche Reflexion

Diese kleine Szene zeigt, dass es durchaus Ansätze gibt, in denen sich eine Lehrerin Justus anerkennend widmet und ihm professionell angemessen begegnet. Diese Szene könnte auch zum Anlass für Verletzungen genommen werden. Der Lehrkraft gelingt es aber, dies zu umgehen und die Situation kurz sowie mit klaren Ansagen zu entschärfen, ohne das Kind zu stigmatisieren. Das individuelle Lern- und Entwicklungstempo des Jungen wird hier anerkannt und die Anleitungen der Lehrkraft darauf ausgelegt. Dieses Lehrerverhalten entspricht den Anforderungen der Kinderrechtskonvention laut Artikel 29/1a.

 

Literaturangabe:

National Coalition (1992): Kinderrechtskonvention. Online verfügbar unter: http://www.national-coalition.de/pdf/UN-Kinderrechtskonvention.pdf, Stand: 04.05.2012.

 

Mit freundlicher Genehmigung von Budrich Journals.

http://www.budrich-journals.de/index.php/diskurs/article/view/23656/20657

 

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