Hinweis: Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Im Grundschulsport finden sich auch entdramatisierende Umgangsweisen der Lehrkräfte mit Geschlechterdifferenzen, wobei diese ebenso wie bei den Dramatisierungsformen nicht perse zu einem geschlechtersensiblen Sportunterricht führen.

Zwei Facetten des Ignorierens

Geschlechtsbezogener Konflikte oder Benachteiligungen, die aus der Koedukationsdebatte bekannt sind, können auch im Sportunterricht der Grundschule beobachtet werden: Beispielsweise vertreiben einige Jungen im Stationenbetrieb mehrfach Mädchen von einer Station, obwohl diese die entsprechende Aufgabe noch nicht zu Ende geführt haben. Die Lehrkraft ignoriert das Verhalten der Jungen sowohl in der jeweiligen Situation als auch zu einem späteren Zeitpunkt. Sie lässt damit deren Dominanzanspruch gelten und manifestiert Hierarchien im Geschlechterverhältnis (vgl. Schnermann, 2010, S. 60f).

Ein anderer Fall zeigt hingegen, dass Ignorieren auch eine positive Strategie im Sinne eines geschlechtersensiblen Sportunterrichts sein kann. Im Sportunterricht einer 4. Klasse (9 Mädchen, 12 Jungen) wurde Handball auf Kleinspielfeldern in geschlechtsheterogenen Teams gespielt.

Die Klasse wünscht sich für die nächste Sportstunde ein Spiel, in dem die gesamte Klasse gegeneinander spielt. Daraufhin rufen sowohl Schülerinnen als auch Schüler, „Ja, Mädchen gegen Jungen!“. Frau Q. äußert bezüglich dieses Wunsches Bedenken, da es bei zwei derart großen Mannschaften zu keinem guten Spiel komme. Auf den Wunsch ‚Mädchen gegen Jungen‘ spielen zu lassen, geht sie nicht ein.

Die Schülerinnen und Schüler heben mit ihrem Wunsch „Ja, Mädchen gegen Jungen“ die Geschlechterdifferenz hervor. Die Lehrerin nimmt diesen Wunsch wahr und ernst, thematisiert aber nicht den Wunsch als solchen, sondern die sich daraus Konsequenz, nämlich die Gruppengröße. Vermutlich bezieht sie sich dabei auch auf ihre vorangegangene methodische Entscheidung, Handball in kleinen Gruppen und auf kleinen Spielfeldern zu spielen, um ein „gutes Spiel“ zu ermöglichen. Durch die Erörterung der Angemessenheit großer Mannschaften für ein gelingendes Handballspiel rückt die Geschlechterthematik in den Hintergrund.

Individualisieren

Schülerinnen und Schüler in ihrer Geschlechtlichkeit wahrzunehmen, sie aber nicht darauf zu reduzieren, wird bei einem individualisierenden Umgang mit Geschlechterdifferenzen möglich, wie der folgende Fall aus der gleichen Unterrichtsstunde bei Frau Q. zeigt:

ln der Reflexionsphase am Ende der Stunde stellt Frau Q. die Frage: „Was hat bei den Spielen in den einzelnen Mannschaften gut und was hat schlecht geklappt? Ist euch etwas aufgefallen?“. Eine Schülerin meldet sich und bemerkt, dass das Spiel langweilig war, weil ihre Mannschaft es zu einfach hatte. Daraufhin entgegnet Frau Q., dass sie bezüglich der Gruppenbildung auf die Vorgaben „Mädchen und Jungen gemischt“ sowie „gleichstark“ verwiesen hat und diese bei der Gruppenbildung nicht berücksichtigt wurden. Sie erklärt, dass das Kriterium gleichstark nicht nur dann erfüllt ist, wenn die Mannschaften über die gleiche Anzahl an Mädchen und Jungen verfügen, sondern dass man darauf zu achten habe, wie spielstark die einzelnen Mitglieder sind.

Der Lehrerin gelingt es m. E., eine Balance zwischen Dramatisierung und Entdramatisierung zu erreichen. Die Kategorie Geschlecht wird zwar von ihr in dem Reflexionsgespräch aufgerufen (sie wurde ja auch schon zu Beginn der Stunde bei der Gruppenbildung von ihr ins Spiel gebracht), steht aber gleichberechtigt neben dem Kriterium der Spielstärke. Hervorzuheben ist, dass es dabei nicht zu einer kausalen Verknüpfung von Spielstärke und Geschlechtszugehörigkeit kommt, wie es häufig im koedukativen Sportunterricht der Fall ist („Unsere Mannschaft ist zu schwach, wir haben zu wenige Jungen“).

Literaturangabe:

Schnermann, L. (2010). Reflexive Koedukation in der Grundschule unter besonderer Berücksichtigung der Rolle der Sportlehrkräfte. Unveröffentlichte Staatsarbeit. Wuppertal.

Mit freundlicher Genehmigung des Czwalina-Verlages.
http://www.feldhausverlag.de/shop/EDITION-CZWALINA-Sportwissenschaft/Schriften-der-Deutschen-Vereinigung-fuer-Sportwissenschaft/Geschlecht-und-bewegungsbezogene-Bildung-sforschung::2978.html
 

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