Hinweis: Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Einleitende Bemerkungen

Allgemeines zur Gruppendiskussion

Liv (L1) und Lili (L2) sind Nachbarinnen im C-Bezirk und treffen sich regelmäßig zum Spielen. Liv besucht die 4. Klasse der Elefanten-Grundschule mit knapp 60% Kindern, die eine nichtdeutsche Herkunftssprache sprechen. Lili geht in die 5. Klasse einer Privatschule[1]. Beide sprechen Zuhause Deutsch.

Die Gruppendiskussion findet in Livs Kinderzimmer statt. Die Mädchen begegnen der Forschungssituation mit viel Ernsthaftigkeit. Eine gemeinsame Bearbeitung eines Themas kommt allerdings nur stellenweise zustande. Dies liegt zum einen daran, dass sich die Erfahrungen an privater und öffentlicher Schule stark unterscheiden. Zum anderen sind die Redeanteile ungleich verteilt, da Lili mehrmals minutenlang monologisiert und Liv sich währenddessen nur stellenweise am Gespräch beteiligt. Die gesamte Gruppendiskussion dauert 40 Minuten.

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Erste Beschreibung der Schule


Von Beginn an wird deutlich, dass sich Liv und Lili an ihren Schulen überwiegend wohlfühlen. Sie thematisieren beide die Aspekte, die sie als positiv wahrnehmen: ihre Lieblingsfächer, das Lesen, die Beziehung zu einzelnen Lehrkräften.

Es zeigt sich allerdings auch direkt zu Beginn der Unterschied zwischen öffentlicher und privater Schule. Lili versucht, in ihren Aussagen die Unterschiede zu „anderen schulen“ herauszustellen. Von besonderer Relevanz sind für sie dabei die verschiedenen Fächer, die sie wählen kann. Für Liv von besonderer Relevanz ist hingegen die Beziehung zu ihrer Klassenlehrerin. Diese bildet einen positiven Horizont. Eine „sehr nett[e]“ Lehrkraft zeichnet sich demnach durch Verständnis und Hilfsbereitschaft den Schülerinnen gegenüber aus. Auf ihr Lieblingsfach geht sie erst im Anschluss ein.

Beziehung zu den Lehrkräften

Das Thema Lehrkräfte taucht erst an späterer Stelle in der Gruppendiskussion wieder auf und wird durch die Diskussionsleiterin initiiert:

Liv geht exemplarisch auf negatives und positives Verhalten von Lehrkräften ein. Die zuerst beschriebene Lehrerin ist „richtig streng“. Dies zeigt sich anhand verschiedener Verhaltensweisen: einer unangemessenen Form der Artikulation {„schreit“), Überreaktion {„einmal“) sowie Willkür und Unberechenbarkeit („was ihr grade nicht so passt“). Als positives Beispiel nennt sie ihre ehemalige und jetzige Klassenlehrerin, die beide „richtig nett“ sind und sich durch Hilfsbereitschaft auszeichnen. Da die Klassenlehrerin über einen besonders langen Zeitraum eine wichtige Bezugsperson darstellt, bewertet Liv ihre Situation insgesamt positiv, sie hat „ganz schön glück“. Diese Formulierung deutet darauf hin, dass es sozusagen Schicksal und nicht zu beeinflussen ist, welche Lehrkraft man bekommt.

Bei Lili lässt sich eine Orientierung an einer idealen Lehrkraft ausmachen, die sich sowohl auf zwischenmenschlicher Ebene als auch in Bezug auf ihre Lehrfähigkeit positiv hervortut und zwischen beidem das richtige Maß findet. Es genügt nicht, als Lehrkraft „total nett“ zu sein, wenn man am Ende als Schülerin dann „halt nicht so viel gelernt“ hat. Umgekehrt war die Englischlehrerin „zwar richtig streng“, aber da wurde „wenigstens was gelernt“. Eine Lehrkraft darf aber auch nicht „zu streng“ sein, sonst „haben die kinder auch keine lust mehr bei ihr mitzumachen.“ Auch ,,ungerecht[es]“ Verhalten und ,,doofe[r] Humor“ gehören zum Negativbild einer Lehrkraft. Lilis Orientierung scheint die gleiche zu sein, die auch vonseiten ihrer Schule angelegt wird. Etwas lapidar formuliert sie, dass Lehrkräfte, die den Ansprüchen nicht genügten, „dann auch gehen“ mussten. Es ist also auch im Interesse der Lehrkraft selbst, diesen Anforderungen zu entsprechen, da ansonsten die Kündigung droht.

Lilis Schilderung, wie ihre Klasse auf den häufigen Wechsel der Englischlehrkraft reagierte, zeigt, dass aus ihrer Perspektive die Schülerinnen über große Handlungsmacht verfügen und Einfluss darauf nehmen können, von welcher Lehrkraft sie unterrichtet werden. Das rebellische Verhalten wird von Lili an keiner Stelle infrage gestellt, sondern mit Stolz erzählt. Hier zeigt sich eine Orientierung an Konstanz und Vertrautheit der Bezugspersonen, sodass selbst die als streng erlebte Englischlehrerin einer unbekannten Lehrkraft vorgezogen wird. Dies lässt sich auch dahingehend lesen, dass schulischem Lernen ein hoher Wert zugeschrieben wird.

Umgang mit soziokultureller Pluralität

Eigenwahrnehmung von soziokultureller Pluralität


Das Thema allochthone Schülerinnen wird in Anschluss an die Passage auf S. 70f. von den Mädchen selbst ins Gespräch gebracht, vermutlich in Reaktion auf das von der Diskussionsleiterin formulierte Forschungsinteresse. Beide machen die Erfahrung, dass auf ihre Schulen allochthone Schülerinnen gehen. Die Art und Weise der Bezugnahme zeigt, dass die Gruppe sich selbst als autochthon verortet. Im Gespräch dokumentiert sich eine Orientierung an einer Normalitätsvorstellung, vor deren Hintergrund die Zuordnung der Schülerinnen erfolgt. Dies geschieht durch die Zuweisung in eine von drei Gruppen. Zunächst gibt es die eigene, „deutsche“ Gruppe. Der stehen die „ausländischen“ gegenüber, die sich wiederum in zwei Kategorien einteilen lassen. Zum einen gibt es diejenigen, die von Lili als ihr ähnlich eingestuft werden: Sie sind zwar formal gesehen allochthon („aus anderen Ländern“). Aber die kulturellen und sprachlichen Hintergründe sind nicht offensichtlich, es müsste „nachgeforscht“ werden. Zum anderen gibt es diejenigen, die von der Normalitätsvorstellung deutlich abweichen, die aufgrund äußerlicher und sprachlicher Merkmale als fremd erscheinen und direkt als allochthon eingestuft werden („kopftuch“, „spricht das auch“). Auch in Bezug auf die Schule wird von einer Normalitätsvorstellung ausgegangen, die das Niveau der Regelklasse darstellt. Wem es gelingt, sich dem anzupassen, kann bleiben. Alle anderen müssen die Schule verlassen bzw. werden in einer eigenen Klasse beschult.

Trotz dieser Abgrenzungen lassen sich Lilis Aussagen stellenweise auch als eine aufgeklärt-korrekte Haltung lesen. So vollzieht sie in Bezug auf die japanische Mitschülerin einen Perspektivwechsel und schätzt die Willkommensklasse als „cool“ ein. Dass sie die Herkunftsländer und -sprachen ihrer Klassenkameradinnen nicht kennt, lässt sich auch als Versuch lesen, keine Unterschiede zu machen. Die Klientel ihrer Schule hält sie für nicht repräsentativ für die außerschulische Umgebung (Z. 459). An Livs Schule überwiegt hingegen der Anteil der Schülerinnen, die als besonders fremd eingestuft werden.

Präsenz im Schulalltag

 

Religiöse Feiertage scheinen an beiden Schulen eine geringe Präsenz zu haben, Gespräche darüber finden eher zufällig und informell statt. Dies gilt zumindest für muslimische Feiertage. Lilis Erfahrungen damit beschränken sich auf eine einmalige Unterhaltung über das Zuckerfest, die durch eine muslimische Erzieherin initiiert wurde. Die Thematisierung erfolgte also aufgrund des Interesses einer einzelnen Person. In ihrer Beschreibung

drückt sich wiederum Distanz aus. Für Liv sind muslimische Feiertage vor allem dadurch präsent, dass sie eine willkommene Abwechslung vom normalen Schulalltag garantieren.

Religiöse Zugehörigkeit wird als eng gekoppelt an die ethnische Zugehörigkeit wahrgenommen: Muslimische Feiertage begehen „die türken das Zuckerfest heißt „eigentlich“ anders als „wir deutschen“ es nennen. Wenn muslimische Familien darüber hinaus auch christliche Feiertage begehen, geschieht dies aus der Perspektive der Gruppe aus einem Wunsch nach Anpassung (Z. 502ff.).

In Bezug auf sich selbst und die christlichen Feiertage, die die beiden begehen, erleben sie allerdings durchaus Interesse und auch eine Thematisierung im Unterricht. Bei Liv scheint dies allerdings ausgeprägter zu sein als bei Lili:

Umgang mit Mehrsprachigkeit

Schon zu Beginn des vorhergehenden Kapitels wurde deutlich, dass an Lilis Schule mitgebrachte Mehrsprachigkeit keine Rolle spielt. So weiß Lili nicht, ob „der größte teil der klasse auch ne andere spräche kann oder nicht“ (Z. 489f.), was die Bedeutungslosigkeit dessen im Schulalltag hervorhebt. Im Anschluss an diese Passage wird das .Thema auf Initiierung der Diskussionsleiterin noch weiter ausgebaut:

 

Das Sprechen einer nichtdeutschen Herkunftssprache wird hier als im Schulalltag insofern von Bedeutung herausgestellt, als damit Schwierigkeiten bei der Bewältigung des Unterrichtsstoffs einhergehen können. Hier dokumentiert sich also eine Orientierung an schulischen Anforderungen, mit denen Kinder mit nichtdeutscher Herkunftssprache größere Schwierigkeiten haben. Darin steckt eine Normalitätsvorstellung darüber, welche Fähigkeiten Kinder in der Schule haben sollten.

Gleichzeitig gehen beide Teilnehmerinnen an dieser Stelle auch auf die Perspektive von Kindern mit nichtdeutscher Herkunftssprache ein. Liv schätzt die Situation als „doof für die“ ein. Lilis zuvor angedeutete aufgeklärt-korrekte Haltung zeigt sich hier noch deutlicher als Orientierung an einem Gleichheitsideal, das unabhängig von Schulleistungen für alle gilt. Diese Orientierung steht allerdings in Konkurrenz mit der an schulischen

Anforderungen. Einerseits relativiert Lili Livs Aussage, indem sie darauf hinweist, dass nicht alle Kinder mit nichtdeutscher Herkunftssprache schulische Schwierigkeiten haben. Andererseits verbleibt sie damit in der Orientierung an schulischen Anforderungen und der zuvor hergestellten Unterscheidung verschiedener allochthoner Kinder. Dieses Muster zeigt sich auch in dem nachgeschobenen Einwurf: Sie geht darauf ein, dass Kinder, die in Deutsch „n bisschen zurückliegen“, dafür in anderen Bereichen vielleicht „besser“ sind. Mit ihrem Beispiel „englisch“ verbleibt sie aber bei einer Sprache, die im schulischen Rahmen von Bedeutung ist.

Später wird die Frage diskutiert, ob es an den Schulen ein Deutschgebot gibt:

Die Erfahrungen mit einem Gebot, Deutsch zu sprechen, sind unterschiedlich. An Livs Schule scheint es eine solche Regel offiziell zwar nicht zu geben, das Sprechen anderer Sprachen wird aber dennoch zeitweise untersagt. Dies scheint insbesondere in Bezug auf solche Kinder der Fall zu sein, die „türkisch“ sprechen. Aus Livs Perspektive scheint diese Regel auch gerechtfertigt zu sein, da es sich um Situationen handelt, in denen die Kinder „schlecht über andere“ reden. Sie orientiert sich also an den sozialen Beziehungen in der Schule. Im Redeimport der Lehrkraft drückt sich beispielhaft eine Gleichsetzung von übler Nachrede und Sprechen einer

nichtdeutschen Sprache aus. Lili hingegen weiß nicht, ob es eine solche Regel an ihrer Schule gibt, wenn, dann wird sie nicht öffentlich durchgesetzt. In ihren Augen ist ein Deutschgebot aber auch nicht notwendig, da die Schülerinnen ohnehin von sich aus in der Schule in keiner anderen Sprache sprechen wollen.

Während beide in diesen Passagen kein größeres Interesse an den Herkunftssprachen ihrer Mitschülerinnen zeigen, gibt es interessanterweise einen längeren Gesprächsabschnitt (nicht abgedruckt), in dem sie einen Sprachvergleich über Schrift und Rechtschreibung zwischen Deutsch, Englisch, Russisch und Japanisch vornehmen. Offensichtlich besteht grundsätzlich bei beiden durchaus Interesse an verschiedenen Sprachen.

Zusammenfassung

Liv und Lili erleben ihren aktuellen Schulalltag beide überwiegend positiv. Einen großen Einfluss darauf hat die Beziehung zu ihren Lehrkräften. Bei beiden zeigt sich eine Orientierung an länger gehenden stabilen Beziehungen; insbesondere die Klassenlehrkraft erhält als Bezugsperson einen wichtigen Status. Als Privatschülerin nimmt sich Lili ihren Lehrkräften gegenüber in einer sehr machtvollen Position wahr. Liv sieht für sich hingegen keine Möglichkeiten der Einflussnahme. Für sie ist es gut denkbar, auch von als negativ wahrgenommenen Lehrkräften unterrichtet zu werden.

In Bezug auf die soziokulturelle und sprachliche Pluralität an ihren Schulen dokumentiert sich eine kollektive Orientierung an einer Normalitätsvorstellung, vor deren Hintergrund die jeweiligen Schülerinnen eingeordnet werden. Dabei wird zwischen zwei Gruppen allochthoner Schülerinnen differenziert. Die Kinder der ersten Gruppe passen sich dieser Normalitätsvorstellung überwiegend an, sprechen gutes Deutsch, zeigen gute Schulleistungen, verwenden ihre Herkunftssprache nicht und fallen im Schulalltag nicht weiter auf. Die Kinder der zweiten Gruppe werden demgegenüber als fremd erlebt. Sie sprechen ein abweichendes Deutsch, haben Schwierigkeiten in der Schule, tragen Kopftuch, verwenden ihre Herkunftssprache und begehen eigene Feiertage. Die Gruppe verortet sich dabei selbst als autochthon.

Davon abgesehen vollzieht die Gruppe aber auch Perspektiv Wechsel und zeigt stellenweise ein Bekenntnis zu einem Gleichheitsideal, das teils in Konkurrenz mit der Normalitätsvorstellung steht.

Im Schulalltag erleben beide kaum Thematisierung soziokultureller und sprachlicher Pluralität. Wenn, dann geschieht dies eher informell und an einzelne Personen geknüpft. Beide Schulen sind von Monolingualität geprägt, die in Livs Fall gegebenenfalls auch durch die Lehrkräfte durchgesetzt wird. Es ist davon auszugehen, dass ein Interesse an Sprachen grundsätzlich bei beiden vorhanden ist, das aber offensichtlich in der Schule in Bezug auf die Sprachen der Schülerinnen bisher nicht aufgegriffen wird. Aktuell wird die Bedeutung nichtdeutscher Herkunftssprachen vor allem aus einer Defizitperspektive wahrgenommen.

Fußnoten:

[1] Den Anteil von Kindern mit nichtdeutscher Herkunftssprache zu ermitteln war leider nicht möglich.

Mit freundlicher Genehmigung des Logos-Verlages.
http://www.logos-verlag.de/cgi-bin/engbuchmid?isbn=3777&lng=deu&id=

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