Hinweis – Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Einleitende Bemerkungen

Auch Sina muss sich mit einem hohen Transformationsdruck auf ihren sportbezogenen Orientierungsrahmen auseinandersetzen. Demgegenüber weist sie auf den ersten Blick bezüglich schulischer Erwartungen und Leistungsanforderungen keinerlei Passungsprobleme auf. Ihre bildungsbezogenen Orientierungen erweisen sich durchweg als stark zukunfts- und leistungsbezogen. Gute schulische Leistungen spielen für sie eine große Rolle. Sie setzt sich zum Zeitpunkt des Interviews intensiv mit ihrem schulischen Abschluss aus einander und stellt bereits Planungen für ihre berufliche Laufbahn an. Damit bezieht sie sich stark auf anstehende Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz. Sie strebt das Abitur als schulischen Abschluss an. Ein Abschluss, der darunter liegt, markiert folglich ihren negativen Gegenhorizont. Insgesamt gesehen gibt ihre biografische „Verlaufskurve“ zunächst keine Hinweise auf Leidens druck, Anomalität oder Behandlungsbedürftigkeit.

Hinsichtlich des Diskursverlaufes im Interview lässt sich festhalten, dass dieser – im  starken Kontrast zur Fallstudie „Nevin“ – von vielen detaillierten Erzählungen, Beschreibungen und Themenentfaltungen und sehr viel stärker durch eigenständige biografische Sinnkonstruktionen geprägt ist.

Sina besucht ebenfalls seit der fünften Klasse die Gesamtschule C. Ihre sportliche Karriere bezeichnet Sina im biografischen Teil des Interviews selbst als „ein bisschen sehr holprig“ (Z. 75). Zunächst verläuft ihre sport­liche Biografie jedoch sehr idealtypisch: Nachdem sie mit acht Jahren mit ihrem Sport begonnen hat, wurde sie im Verlauf der Grundschulzeit nach einer lückenlosen Reihe sportlicher Erfolge und einer Talentsichtung in den entsprechenden Kader aufgenommen und hat angefangen, am Olympiastützpunkt intensiv zu trainieren. Nach der Grundschulzeit erfolgte dann der Wechsel auf die Gesamtschule C, um dort weiterhin die Möglichkeit zu ha­llen, mit dem leistungssportlichen Training fortzufahren. Mit 13 Jahren erlebt sie den ersten Einbruch in ihrer sportlichen Karriere: Sie erkrankt – zunächst unerkannt – an Pfeifferschem Drüsenfieber, woran sie „letztendlich zwei Jahre daran zu knacken hatte“ (Z. 123). An ihre vorherigen Erfolge kann sie aufgrund der krankheitsbedingten Leistungseinbußen trotz intensiven Trai­nings nicht mehr anschließen. Eine degenerative Schulterverletzung, die sich nicht erfolgreich therapieren lässt, beendet schließlich ihre Zeit am OSP und die betreibt ihre Sportart auf Anraten der Stützpunkt-Trainer nunmehr ledig­lich im Rahmen eines Vereinstrainings, um die körperlichen Belastungen entsprechend dosieren zu können. Nach drei Monaten des Vereinstrainings stellt sie jedoch fest, dass es „mir keinen Spaß mehr gemacht hat weil das einfach nur noch war du bist man kommt nicht weiter und es ist so ja auch ne Last so für einen zu merken dass man es einfach nicht mehr sozusagen drauf hat“ (Z. 154-156). Sie verbürgt zwar auch im Sport wie in der Schule eine strebende Haltung, dennoch kommt es aufgrund ihrer ausbleibenden Erfolge zu Spannungsmomenten im leistungssportlichen Trainingskontext. In der Konsequenz hört sie mit ihrem Leistungssport auf und fängt mit 15 Jahren ein breitensportlich ausgerichtetes Rudertraining an. Dies beendet sie aller­dings nach weiteren drei Monaten wieder, als sie im Rahmen eines nationalen Schulvergleichswettkampfes, an dem sie trotz erfolgtem Karriereabbruch in Ihrer alten Sportart teilnimmt, feststellt, dass ihr doch noch etwas an ihrem alten Sport liegt. In der Folge sucht sie sich einen neuen Verein und fängt wieder an, auf leistungssportlichem Niveau zu trainieren. Als sie schließlich im Rahmen eines Trainingslagers erneut Probleme mit der Schulter be­kommt, stellt sie schließlich ihren Wiedereinstieg stark in Frage: „ja soll das schon wieder ein Zeichen sein soll’s einfach schon wieder nicht so sein“ (Z. 214-215).

Zum Zeitpunkt des Interviews steht sie vor dem Entschluss, ihre sport­liche Karriere zu beenden. Hinzu kommt, dass sie nach der zehnten Klasse für ein Schuljahr nach England gehen will und in Erwägung zieht, im Anschluss an das Auslandsjahr ein bilinguales Profil mit dem Schwerpunkt Englisch in der Oberstufe und nicht das obligatorische Kadersportprofil, das speziell auf die Trainings- und Wettkampfbedürfnisse der Leistungssportler und -sportlerinnen der Schule C ausgerichtet wurde, zu wählen.

Im Folgenden werden analog zur vorherigen Fallinterpretation des Kernfalls wiederum einzelne Passagen aus dem Interview mit Sina gemäß der dokumentarischen Methode interpretiert, um ihren individuell-biografischen Orientierungsrahmen und darüber ihre Arbeit am Bildungsgang und an der Passung zur Schule C rekonstruieren zu können. Jedoch werden für den vorliegenden Fall und dem folgenden (Kontrast-)Fall nunmehr drei Sequenzen für die Interpretation herangezogen, um die Fallstudien in verdichteter Weise darstellen zu können. Diese ausgewählten Passagen gründen wiederum auf der im Schritt der formulierenden Interpretation vorgenommenen Dokumentation des thematischen Verlaufs und beziehen sich analog zum Kernfall auf solche Stellen, in denen subjektive Bildungsgangkonstruktionen hinsichtlich Schule und Sport sowie eigene Positionierungen zu den objektiven Bildungsganganforderungen vorgenommen wurden.

Die erste thematisch relevante Passage thematisiert Sinas Interesse für ein bilinguales Oberstufenprofil und gibt damit Hinweise auf die spezifische Konstruktion ihres subjektiven Bildungsgangs und ihres individuellen bildungsbezogenen Orientierungsrahmens. Die Passage wird analog zum methodischen Vorgehen im Kernfall wiederum sequenzanalytisch betrachtet.

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

 

I:        Ich hör da so ein bisschen raus dass du noch nicht weißt was für ne hohe Gewichtung der Sport einfach dann dort in dem Jahr haben wird für dich

 S:       Ja-ja so ist das auch eher.

 I:        Hmhm – – spannend – – wie stellst du dir das dann vor du hattest eben gesagt du würdest dann nach dem Jahr auch gerne wieder hierhin zurückkommen – bewusst diese Schule dann auch wieder

 S:      Ja ja weil also – ahm ich weiß nicht irgendwie weil es hier ja halt auch 13 Jahre gibt und weil hier weil der Oberstufenverband ist ja zusammen geschlossen mit noch drei anderen Schulen und es gibt ja so viele verschiedene Profile und die bieten hier halt das Profil in Englisch bilingual an ist zwar auf ner anderen Schu­le auf dem F-Gymnasium aber ahm es ist halt einfach so auch – die Schule ist bei mir in der Nähe und Leute kenn ich hier alle gut und ja das ist schon – also es sollte schon diese Schule sein.

 I:        Du würdest dich dann ich hab das eben rausgehört von den andern Mitschüler von dir dass ihr auch diesen sportbezogenen Bereich wählen könnt weil du sag­test gerade Englisch bilingual das war der Bereich den du dann gerne wählen würdest also auch dort hast du das schon fest vor Augen oder sagst du gut werd ich noch kucken

S:      Ja – – nee das hab ich schon fest vor Augen weil ähm also nachher werden glaub ich noch Fragen zum Sport gestellt weil ich bin nicht mehr im Kader weil’s da halt so ne Zeit gab und ähm ja als wenn du also man kann halt das Leistungs­sportprofil nehmen und es gibt dann halt noch dieses KADERsportprofil wo dann alle so Kadersportler reinkommen und ich weiß nicht ob ich weil ich möchte halt auch später was mit meiner Sprache die ich da so lerne machen und des­wegen weiß ich nicht ob so dann das Sportprofil so das richtige ist aber also Englisch bilingual das find ich schon gut. (Z. 44-67)

 I:        Ich hör da so ein bisschen raus dass du noch nicht weißt was für ne hohe Ge­wichtung der Sport einfach dann dort in dem Jahr haben wird für dich

 Die Interviewerin knüpft an dieser Stelle im Interview an die Thematik Leis­tungssport an. Sie stellt fest, dass für Sina eine gewisse Unsicherheit über den Fortgang ihrer weiteren sportlichen Karriere „dort“ vorhanden ist. Diese Ortsangabe legt nahe, dass sie sich mit dieser Feststellung auf Sinas Vorha­ben bezieht, das folgende Schuljahr in England zu verbringen. Dies könnte eine Ursache für einen möglichen Bruch in ihrer sportlichen Laufbahn dar­stellen, da davon auszugehen ist, dass sich ein leistungssportliches Training unter den besonderen Bedingungen, die ein Auslandsjahr mit sich bringt, nicht so ohne weiteres fortgesetzt werden kann.

Werden an dieser Stelle Vergleichshorizonte weiterer Fälle des Samples angelegt, so lässt sich dieser Umstand schon als ungewöhnlich charakterisie­ren, da die Mehrheit der interviewten Nachwuchsathleten und -athletinnen lest mit dem Fortgang der eigenen sportlichen Karriere oder auch mit der Weiterführung sportlicher Aktivitäten auf einem nicht-leistungsbezogenen Niveau plant. Selbst Nevin, der sich mit mehreren sportlichen Rückschlägen auseinandersetzen musste, „kuckt mal“, wie es für ihn weitergehen könnte und offenbart darüber eine gewisse Hoffnung für den Fortgang seiner Sport­karriere.

Allerdings konkretisiert die Interviewerin ihre Feststellung noch nicht in Form einer spezifischen Fragestellung, die beispielsweise Sinas Befindlich­keiten über diesen Umstand fokussiert, sondern thematisiert lediglich ihren eigenen Eindruck. Da der thematische Anschluss in Form einer Feststellung gewählt wurde, ist davon auszugehen, dass die Interviewerin von der Rich­tigkeit ihrer Annahme überzeugt ist. Eine Verneinung ließe sich zwar hypo­thetisch annehmen, ist aber vor diesem Hintergrund eher unwahrscheinlich. Sina wird folglich dazu aufgefordert, die angestellte Vermutung zu bestätigen und bekommt damit grundsätzlich auch die Möglichkeit geboten, an der weiteren Themenentfaltung aktiv mitzuwirken.

Gleichzeitig wird über die Thematisierung der sportlichen Karriere ein Einstieg in die Darstellung des sportbezogenen Orientierungsrahmens vorbe­reitet. Weitere Anschlüsse ließen sich nun – sofern die Annahme bestätigt wird – über eine Konkretisierung der Umstände ermöglichen, die zu einer von Sina vorgenommenen Veränderung ihrer Orientierungen und Haltungen bezüglich ihres Sporttreibens geführt haben. Auch ein Anschluss, der weiter auf das von Sina anvisierte Auslandsjahr und damit stärker auf den schul- und bildungsbezogenen Orientierungsrahmen abzielt, wäre denkbar.

S:   Ja-ja so ist das auch eher.

Erwartungsgemäß bestätigt Sina die Vermutung der Interviewerin auf der inhaltlichen Ebene und führt ihre Antwort minimal aus, indem sie eine Relativierung ihrer Bestätigung vornimmt: Es ist nicht so, dass sie sich unsicher über den Fortgang ihrer Karriere ist, sondern es ist „eher“ so. Sie deutet mit ihrer Bestätigung zwar zunächst formal ihre Bereitschaft an, diese Thematik weiter zu entfalten, weiterführende Aspekte werden von ihr jedoch nicht angeboten. Auf der inhaltlichen Ebene wird von Sina eine Einschränkung ihrer Bestätigung vorgenommen: Die Interviewerin liegt mit ihrer Anfrage nicht vollkommen richtig. Dies ist erläuterungsbedürftig. Demnach ist an dieser Stelle die Interviewerin gefragt, das bereits eröffnete Thema über ge­zielte Anschlussfragen und Erzählaufforderungen weiter auszudifferenzieren und zu konkretisieren, um auf diese Weise Grundlegendes über den individu­ellen Orientierungsrahmen Sinas in Erfahrung bringen zu können. Dies lässt sich an dieser Stelle weniger auf eine starke kommunikative Zurückhaltung zurückführen, wie es beim Interview mit Nevin der Fall war, sondern viel­mehr auf die Form der sehr geschlossenen Anfrage, die wenig Raum für weiterführende Themenentfaltungen lässt, denn minimalistische Informati­onsbeiträge sind für den gesamten Diskursverlauf des vorliegenden Inter­views mit Sina eher untypisch. Im Gegenteil: Die Mehrzahl ihrer Beiträge enthalten ausführliche Beschreibungen und Erlebnisdarstellungen, die ihre individuelle Orientierungsfigur hinsichtlich Schule und Sport grundlegend konstituieren.

I:  Hmhm – – spannend – – wie stellst du dir das dann vor du hattest eben gesagt du würdest dann nach dem Jahr auch gerne wieder hierhin zurückkommen – bewusst diese Schule dann auch wieder

Eine weiterführende Explikation des sportbezogenen Orientierungsrahmens wird von der Interviewerin nicht eingefordert: Diese bestätigt durch das „hmhm“ und kommentiert zwar Sinas Informationsbeitrag („spannend“), knüpft aber nicht weiter an die ursprüngliche Thematik an, indem sie bei­spielsweise danach fragt, wie es denn zu dieser veränderten Sporteinstellung gekommen ist. Im Gegenteil: Sie bezieht sich auf eine vorangegangene Se­quenz, in der eine mögliche Rückkehr auf die Schule C nach dem von Sina anvisierten Auslandsjahr thematisch wurde.

Es ließe sich allerdings auch riskant vermuten, dass die beiden, wenn auch kurzen Pausen, welche die Interviewerin eingangs an ihre Kommentare, insbesondere an ihre eigene Bestätigung, anschließt, einer daran anschließen­den und damit selbstläufigen weiteren Themenentfaltung durch Sina dienen sollen, was letztendlich jedoch nicht gelingt und schließlich zur Einsetzung eines neuen Themas im Sinne einer Proposition durch die Interviewerin führt.

Über eine zukunftsbezogene Frage, die zunächst Sinas Vorstellungen über die Zeit nach dem Auslandsjahr thematisiert, versucht sie, eine Erzählung, die Sinas bildungs- und zukunftsbezogene Orientierungen betrifft, einzuleiten: Wie stellst du dir das dann vor? Diese Frage wird jedoch wiederum durch eine weitere Frage, ob sie dann auch wieder bewusst die Schule C wählen würde, zwar ergänzt, jedoch gleichzeitig durch diese Vorgabe wiederum eingeschränkt. Dies könnte zur Folge haben, dass diese Frage lediglich bestä­tigt bzw. verneint wird und weiterführende Erläuterungen wiederum unter­bleiben. Dennoch ist es für Sinas individuellen Bildungshorizont von Bedeutung, ob sie die Schule C selbstbestimmt nach ihrem Auslandsjahr wieder wählt und diese darüber auch in ihrem positiven Gegenhorizont verortet oder ob sie sich aus anderen, möglicherweise fremdbestimmten Gründen für diese Schule entscheiden muss.

S:   Ja ja weil also – ähm ich weiß nicht irgendwie weil es hier ja halt auch 13 Jahre gibt und weil hier weil der Oberstufenverband ist ja zusammen geschlossen mit noch drei anderen Schulen und es gibt ja so viele verschiedene Profile und die bieten hier halt das Profil in Englisch bilingual an ist zwar auf ner anderen Schu­le auf dem F-Gymnasium aber ähm es ist halt einfach so auch – die Schule ist bei mir in der Nähe und Leute kenn ich hier alle gut und ja das ist schon – also es sollte schon diese Schule sein.

Sina bestätigt die Anfrage der Interviewerin und gibt über die Öffnungsklau­sel „also“[1] auch implizit ihr Einverständnis nach den „Spielregeln“ eines Interviews, eine Erzählung einzuleiten. Ihre Bestätigung, die sich darauf bezieht, dass sie auch nach dem Auslandsjahr wieder an die Schule C zu­rückkehren möchte, begründet sie nach einer eingangs angedeuteten Unsi­cherheit („ähm ich weiß nicht“) umfangreich, indem sie zunächst argumenta­tiv darauf verweist, dass „es hier ja halt auch 13 Jahre gibt“. Sie bezieht sich damit auf die Möglichkeit, die Hochschulreife an der Gesamtschule C nicht, wie an Gymnasien derzeit (Stand 2012) üblich, nach zwölf, sondern erst nach 13 Jahren Schulzeit erlangen zu können. Dies lässt darauf schließen, dass sie damit die Schule C, was den Weg zu ihrem Bildungsabschluss betrifft, auf­grund dieser Option, mehr (Lern-)Zeit für schulische Anforderungen zu ha­ben, in ihrem positiven Gegenhorizont verortet. Das Gymnasium mit der verkürzten Lernzeit von zwölf Jahren bei gleich bleibenden Lerninhalten würde entsprechend den negativen Gegenhorizont in ihrem Orientierungs­rahmen markieren.

Formal verbleibt Sina mit ihrer Beschreibung kommunikativer Wissensbe­stände auf der Ebene der Orientierungsschemata, die sich im vorliegenden Fall auf institutionalisierte und normierte schulische Bildungsganganforde­rungen beziehen und ohne weiteres von ihr expliziert werden können (vgl. Bohnsack, 2011b, S. 133). Dennoch lässt sich annehmen, dass auch diese Orientierungsschemata relevant für Sinas individuellen Orientierungsrahmen sind.

Ihr Enaktierungspotenzial als weiteres konstitutives Element ihres Erfah­rungsraumes zielt folglich auf die Wahl der Schule C ab, auch wenn die sportliche Förderung, über die sich die Schule C maßgebend profiliert, nicht (mehr) im Fokus ihrer Überlegungen steht, sondern vielmehr die Möglichkeit der verlängerten Lernzeit bis zum Abitur den Zuschlag für die Wahl dieser Schule gibt.

Dieser erste Teil der vorliegenden Passage lässt sich formal der Textsorte Argumentation zuzuordnen und hat ihren Zeitbezug folglich in der Gegen­wart der Erzählerin. Damit hebt sie sich deutlich von narrativen Formen der Darstellung ab. Die anschließende Beschreibung der Wahlmodi in der gym­nasialen Oberstufe sowie der um ein Jahr verlängerten Schulzeit an der Ge­samtschule C dient entsprechend der argumentativen Konstruktion von Hin­tergrundinformationen, um Sinas Begründungen für die Interviewerin plausi­bel zu machen.

Eine weitere Begründung, die Sina für ihre Rückkehr an die Schule C nach ihrem Auslandsaufenthalt heranzieht, erfolgt über den Oberstufenver­band, welcher „viele verschiedene Profile“ und insbesondere das Profil „Englisch bilingual“ anbietet. Damit wird abermals der positive Gegenhori­zont über den Bezug, in dem „Oberstufenverband“, zu dem auch die Schule C gehört, Englisch vertieft in der Oberstufe lernen zu können, weiter ausge­schärft. Implizit findet damit ebenfalls eine klare Abgrenzung von einem der beiden Sport-Profile[2] der Schule C statt, welche keine vertiefte Auseinan­dersetzung mit sprachlichen Unterrichtsfächern ermöglichen, sondern sich verstärkt neben der profilgebenden sportwissenschaftlichen über eine natur- bzw. gesellschaftswissenschaftliche Fächerkombination profilieren. Damit wendet sie sich deutlich, wie es bereits von der Interviewerin vermutet wurde, von einem (leistungs-)sportlichen Horizont ab, denn die weitere schu­lische Förderung ihrer Sportkarriere wäre unter den institutionellen Bedin­gungen nur über einen Eintritt in das „Leistungssport-Profil“ möglich.

Jedoch plant sie nicht, die Schule zu wechseln, sondern sieht die Wahl des Oberstufenprofils Englisch bilingual ganz pragmatisch. „Es ist halt ein­fach aus so“: Die Schule ist in ihrer Nähe, wobei nicht deutlich wird, ob sie damit die Nähe des F-Gymnasiums, das in Kooperation mit der Schule C das von Sina anvisierte Oberstufenprofil anbietet oder die der Schule C zu ihrem Wohnort meint. Zudem kenne sie ihre Mitschüler „alle gut“; damit verortet sie die Peereinbindung an der Schule C als weiteres zentrales Element ihres Erfahrungsraumes in ihrem positiven Gegenhorizont. Die Bekanntschaften aus ihrem schulischen Umfeld, die Anerkennung der Peers erhalten damit eine herausragende Bedeutung für ihren individuellen Orientierungsrahmen, welche beispielsweise im Interview mit Nevin von diesem nicht explizit angesprochen wurde.

Ihre bildungsbezogenen Orientierungen spielen zwar einerseits eine we­sentliche Rolle bei der (Wieder-)Wahl der Schule C, andererseits werden jedoch Dimensionen der Vertrautheit in Bezug auf die sozialen Bindungen und auch hinsichtlich der Umgebungsbedingungen dieser Wahl vorangestellt. Diese müsste sie bei einem Schulwechsel hinter sich lassen. Anders als Nevin muss sie jedoch auch in einem „höheren“ Bildungsgang nicht die spezifi­schen Fremdheitserfahrungen bearbeiten, die sich im Fall eines Bildungsauf­stiegs bei gleichzeitigem Bestehen eines Migrationshintergrundes vermuten lassen. Auf struktureller Ebene dürften sich daher für sie keine besonderen Anpassungsanforderungen finden lassen. Sie muss ihre Herkunftsbedingun­gen nicht transformieren.

I:        Du würdest dich dann ich hab das eben rausgehört von den andern Mitschülern von dir dass ihr auch diesen sportbezogenen Bereich wählen könnt weil du sag­test gerade Englisch bilingual das wär der Bereich den du dann gerne wählen würdest also auch dort hast du das schon fest vor Augen oder sagst du gut werd ich noch kucken

Die Interviewerin knüpft an die Erzählung an und fordert Sina daran an­schließend auf, sich konkret zu ihrem Entschluss, das Profil Englisch bilingu­al zu wählen, zu positionieren und damit auch ihren individuellen Orientie­rungsrahmen über weitere Gegenhorizonte weiter auszuschärfen. Damit the­matisiert sie implizit Mechanismen, Deutungen und Aushandlungen, die letztendlich zu Sinas Entscheidung geführt haben, sich gegen eines der bei­den Sportprofile und damit gegen die weitere schulische Förderung ihrer Sportkarriere und für das bilinguale Profil zu entscheiden.

Vom Diskursverlauf her lässt sich festhalten, dass die Interviewerin im Modus der „erfragenden Bestätigung“ ihrer Annahmen bzw. ihrer Zusam­menfassungen verbleibt. Sie bezieht sich in ihrer Anfrage auf andere Inter­views aus dem Sample, in denen sie erfahren hat, dass es für Kaderathleten grundsätzlich die Option gibt, auch eine spezifischen „sportbezogenen Bereich“ in der Oberstufe zu wählen. Offen bleibt an dieser Stelle, ob die Interviewerin als „sportbezogenen Bereich“ das allgemeine oder das spezifische Kadersport-Oberstufen-Profil bezeichnet. Damit konfrontiert sie Sina mit dem negativen Gegenhorizont ihrer eigenen Entscheidung für das bilinguale Oberstufenprofil und der damit einhergehenden Abkehr vom Leistungsspensum auf diese Weise weitere Informationen über ihren Erfahrungsraum zu erlangen.

Letztlich bietet die Interviewerin Sina mit ihrer Anfrage jedoch lediglich die Option, sich für eine der beiden Antwortmöglichkeiten zu entscheiden Entweder hatte sie die Wahl „schon fest vor Augen“ oder sie hält sich eine endgültige Entscheidung, die gegebenenfalls erst nach dem Auslandsjahr getroffen werden muss, noch offen. Damit erhält die Frage allerdings einen suggestiven Charakter. Eine höhere Konkretisierung von Sinas Entscheidungsprozessen bzw. einen detaillierten Einblick in ihre Überlegungen und Aktivitäten, die dieser Wahl vorausgingen, werden damit nicht explizit eingefordert.

S:       Ja – – nee das hab ich schon fest vor Augen weil ähm also nachher werden glaub ich noch Fragen zum Sport gestellt[3] weil ich bin nicht mehr im Kader weil’s da halt so ne Zeit gab und ähm ja als wenn du also man kann halt das Leistungs­sportprofil nehmen und es gibt dann halt noch dieses KADERsportprofil wo dann alle so Kadersportler reinkommen und ich weiß nicht ob ich weil ich möch­te halt auch später was mit meiner Sprache die ich da so lerne machen und des­wegen weiß ich nicht ob so dann das Sportprofil so das richtige ist aber also Englisch bilingual das find ich schon gut.

Sina entscheidet sich für eine der beiden Antwortmöglichkeiten, und zwar hat sie die Wahl des bilingualen Oberstufenprofils „schon fest vor Augen“. Sie füllt damit ihr bisher eher hypothetisch dargelegtes Enaktierungspotenzial mit deutlicher Aktivität und plant, ihre individuellen Orientierungen demnach auch konkret umzusetzen. Dies wird auch über ihre engagierte Darstellung der beiden Profile und ihrer Positionierung dazu deutlich, die aufgrund ihrer – wenn auch nicht gerade metaphorischen – Dichte durchaus den Charakter einer Fokussierungsmetapher und damit eine hohe thematische Relevanz für die Bestimmung ihres Orientierungsrahmens erhält.

Auf formaler Ebene lässt sich festhalten, dass Sina gemäß der Fragestel­lung zunächst argumentativ antwortet, indem sie die Gründe ihrer Profil-Wahl auf einer theoretisch-abstrakten Ebene erläutert. Sie wählt zum einen das Profil „Englisch bilingual“, da sie nicht mehr dem Kader angehört und damit auch ohnehin nicht mehr die Möglichkeit hat, am Profil für Kader-Sportler teilzunehmen. Damit bewegt sie sich insgesamt auf der Ebene theoretisch-kommunikativen Wissens. Sodann beschreibt sie auf einer alltagstheoretischen Ebene die institutionellen Bedingungen der Profiloberstufe als notwendige Hintergrundinformation für die Darstellung ihrer Motive. Das für alle Schüler und Schülerinnen der Oberstufe zugängliche Leistungssport-Profil kommt für sie ebenfalls nicht in Frage, denn auch dieses läuft ihren Bildungs- und zukunftsbezogenen Orientierungen zuwider: Sie „möchte spä­ter was mit ihrer Sprache machen“.

Abschließend nimmt sie positiv Stellung zu ihrer Profilwahl, indem sie ihre eigenen Motive bilanziert: „Englisch bilingual das find ich schon gut“. Damit bringt sie ihre eigene Person ins Spiel und positioniert sich deutlich in ihrem bildungsbezogenen Orientierungsrahmen zu sprachlichen Bildungsin­halten in der Oberstufe.

An dieser Stelle zeigt sich deutlich, wie kommunikatives und implizites Wissen miteinander verknüpft sein können, sodass eine Trennung der Text­sorten Erzählung/Beschreibung sowie Argumentation/Bewertung, wie sie auch Schütze (1983) zur Analyse biografisch-narrativer Interviews vor­schlägt, hinsichtlich ihrer Aussagekraft sowohl auf der formalen als auch auf der semantischen Ebene der Textinterpretation für die Rekonstruktion des individuellen Orientierungsrahmens überdacht werden müssen. Die Grenzen zwischen der Frage nach dem „was“ und der nach dem „wie“ verschwimmen oftmals. Im Rahmen dokumentarischer Interpretation lassen sich auch argu­mentative bzw. evaluative Stellungnahmen zur Rekonstruktion positiver bzw. negativer Gegenhorizonte heranziehen, wobei darüber jedoch das implizite Erfahrungswissen und die jeweilige Handlungspraxis der Befragten nicht rekonstruiert werden können, da man sich ausschließlich auf der Ebene des kommunikativen Erfahrungsraumes bewegt. Daher ist es von großer Bedeu­tung, ob ein Gegenhorizont im Rahmen einer Erzählung oder einer Argumen­tation zum Ausdruck gebracht wird (vgl. Przyborski & Wohlrab-Sahr, 2009, S. 292).

Im vorliegenden Fall lässt sich Sinas Anwendung einer argumentativ ge­prägten Antwort jedoch auch als aktive Auseinandersetzung mit etablierten Orientierungen und zudem mit einem bislang ebenso etablierten Kontext deuten. Dahinter lässt sich – wenn auch eher spekulativ – unter Rückgriff auf bildungstheoretische Bezugslinien ein Bildungsprozess vermuten (vgl. z. B. Marotzki, 1990; 1991), dessen Ursprung bzw. Vorgeschichte jedoch nicht offengelegt wird. War Sinas schulische Karriere bislang von den Bedingun­gen des Leistungssports geprägt, wie es ihre biografische Konstruktion nahe­legte, so sieht sie sich nach ihrem Entschluss, ein Auslandsjahr einzulegen und damit auch die Sportkarriere womöglich endgültig zu beenden, mit der Notwendigkeit konfrontiert, ihre Sinnzuschreibungen ihrer Lern- und Lebensgeschichte neu zu definieren. Sie zweifelt daran, dass das „Sportprofil so das richtige ist“, wobei sie sowohl das „allgemeine“ als auch das Kadersportprofil in den Blick nimmt. Damit berührt sie ein für sie wichtiges Passungs-Thema: Ihre bildungsbezogenen Orientierungen lassen sich nicht mit den Bedingungen eines sportbezogenen Bildungsgangs in Einklang bringen und stellen sie vor die Anforderung, diese spannungsreiche Passungskonstellation zu bearbeiten. Über diese Darstellung dokumentiert sich ein aktiver Umgang mit der Krise, denn Sina kann nicht länger auf ihre eingespielten Routinen und etablierten Entscheidungskriterien setzen. Sina reflektiert ihn Präferenzen und greift neue Handlungsoptionen auf, die den vertrauten Rahmen ihrer Selbst- und Weltsicht transformieren.

In der Auseinandersetzung mit der Entwicklungsaufgabe, eine Zukunfts-Perspektive zu entwickeln, dazu passende Strategien zu entwerfen und ihr Leben zu planen, reflektiert Sina ihre Präferenzen und trifft neue Entscheidungen, die den vertrauten Rahmen ihrer Selbst- und Weltsicht grundlegend transformieren. De facto würde dies für sie aber auch bedeuten, sofern sie diesen Orientierungen tatsächlich folgt, die Schule wechseln zu müssen, da die gegebenen Bedingungen der Schule C nicht zu ihren Entwicklungswünschen passen. Ein genauer Blick darauf zeigt, dass dies dann auch der Fall ist. denn das bilinguale Profil wird, wie sie eingangs berichtet hat, im Oberstufenverbund am F-Gymnasium angeboten. Somit wechselt sie zumindest temporär die Schule.

Die folgende Passage thematisiert Sinas sportbezogenen Orientierungs­rahmen. Sie spannt ihren Sporthorizont über positive und negative Gegenho­rizonte bezüglich des idealen Trainerhandelns auf. Zentral für die Bestim­mung ihres sportbezogenen Orientierungsrahmens sind ihre Sinnhorizonte, die sich darauf beziehen, wie (Leistungs-)Sport sein sollte und auch, wie Trainer sich gegenüber ihren Athleten verhalten sollten. Die umfassende Darstellung ihrer eigenen Erlebnisse im Trainingskontext und vor allem ihrer Entscheidungsprozesse in Hinblick auf ihr Karriereende führte im Rahmen der formulierenden Interpretation zur Auswahl dieser Passage, da gerade in engagierten und detaillierten Darstellungen (individuelle) Orientierungsrah­men besonders deutlich werden.

Wurden die einzelnen Passagen bislang anhand ihrer Sprecherwechsel in einzelne Sequenzen aufgeteilt, so muss für die folgende Passage dieser Mo­dus aufgrund deren Länge geändert werden: Die Einteilung einzelner Se­quenzen erfolgt anhand der von Sina vorgenommenen Propositionen, die sich insbesondere dadurch auszeichnen, dass individuelle Orientierungsgehalte oder Aspekte einer Orientierung im Rahmen einer Thematik zum ersten Mal im Gespräch bzw. im transkribierten Text aufgeworfen werden.

Die formale Diskursorganisation muss an dieser Stelle außer Acht gelas­sen werden, da sich die folgende Sequenz ausschließlich auf eine längere Erzählung Sinas bezieht, die wiederum aus einem übergeordneten Themen­komplex entnommen wurde, welcher in der kompletten Darstellung jedoch einer übersichtlichen und ergebnisorientierten Interpretation zuwiderlaufen würde. Daher wurde auch die Themeneinführung bzw. -einsetzung durch die Interviewerin nicht berücksichtigt, da sich diese vielmehr auf eine übergeordnete Thematisierungslinie bezog.

S:     Genau – und dann sind wir auch ins Trainingslager gefahren und ALLES war wieder gut und dann kam wieder nach irgendwie ner Woche Trainingslager die Schulter zurück hat sich schon wieder gemeldet und dann dachte ich so och nee nicht schon wieder das kann ja jetzt nicht sein – da muss ich dazu sagen beim Rudern waren’s dann die Knie die nicht mitgemacht haben – und dann hab ich mir auch wieder die Frage gestellt – ja soll das schon wieder ein Zeichen sein soll’s einfach schon wieder nicht so sein und ahm – ja und dann hab ich jetzt halt so mittlerweile also jetzt da ich ahm – – ja jetzt im Sommer nach England gehe war meine Trainerin dann auch eher wenn ich mal nicht zum Training gekom­men bin selbst wenn ich gelernt habe war sie ja pff so geht ja sowieso – und da wenn man so dass dann so hört von den andern dann denkt man auch so oh okay das ist jetzt auch wieder so – weil also für mich sollte ein Trainer auch eher so sein so motivierend sozusagen komm doch mal wieder zum Training tu es für dich tu es nicht für mich oder für irgendjemand andern tu es für dich und wenn du halt keine Zeit hast wenn du lernen willst dann tu es aber jedes Mal wenn man wenn man hat dann so das Training abgesagt dann war es so ach nicht schon wieder so und ahm da dachte ich dann auch erstmal so okay gut und dann war es wieder halt weil also ich finde Sport sollte Spaß machen und man sollte es gerne tun und dann wieder diese das war wieder dieser Druck hin zu MÜS­SEN so und also mittlerweile ist es dann auch so dann war ich jetzt wieder krank irgendwie dicke fette Erkältung und dann hat man das auch schon wieder so ge­hört ja und sie fragt dann immer nur lebt die eigentlich noch oder so und erkun­digt sich nicht richtig bei mir erkundigt sie sich nicht und ahm ja und das war ist dann halt wieder und jetzt jetzt denke ich mir noch wir haben jetzt nächste Wo­che nee diese Woche sind noch die Hamburger Meisterschaften und dann haben wir noch ähm so also danach haben wir noch irgendwann so nen kleinen Ab­schiedswettkampf so von unserm Verein ähm ja und dann also so und ich wollte das jetzt eigentlich auch noch so durchziehen bis jetzt dieses Wochenende und dann wollte ich halt eine Woche einfach auch so sagen so ja hör mal – also ir­gendwie klappt das so nicht und – – ja also sportlich – – ich weiß nicht ob man so damit abschließen kann aber so innerlich im Kopf denk ich mir schon wieder so oh nee (Z. 208-237)

 S:     Genau – und dann sind wir auch ins Trainingslager gefahren und ALLES war wieder gut und dann kam wieder nach irgendwie ner Woche Trainingslager die Schulter zurück hat sich schon wieder gemeldet und dann dachte ich so och nee nicht schon wieder das kann ja jetzt nicht sein – da muss ich dazu sagen beim Rudern waren’s dann die Knie die nicht mitgemacht haben – und dann hab ich mir auch wieder die Frage gestellt – ja soll das schon wieder ein Zeichen sein soll’s einfach schon wieder nicht so sein

Sina bezieht sich in dieser Passage auf eine vorangegangene Erzählung, die ihren Entschluss thematisierte, nach dem Abbruch ihrer Leistungssportkarriere und der Aufnahme des Rudertrainings wieder in ihrer alten Sportart mit einem leistungssportlichen Training anzufangen.

In der vorliegenden Sequenz führt sie nach einer einleitenden Bestätigung der vorangehenden Aussage der Interviewerin („Genau“) ihre Erzählung fort, was sich unzweifelhaft an der viermaligen Verwendung der Wortkombination „und dann“ erkennen lässt. Sina berichtet, wie sie zu Beginn ihrer „zweiten“ Leistungssportkarriere an einem Trainingslager teilnimmt, wo zunächst „ALLES“ „wieder gut“ war und sie dennoch binnen einer Woche erneut Schmerzen in der Schulter verspürte. Wiederum stellt sie ihre leis­tungsorientierte Teilnahme am Wettkampfsport implizit in Frage, indem sie in ihre Erzählung einen „inneren“ Kommentar einbaut und darüber ihre Krisensituation hervorhebt: „ och nee nicht schon wieder das kann ja jetzt nicht sein „. Diese Aussage wird von ihr besonders engagiert als „wörtliche Rede“ vorgetragen, was darauf hindeutet, dass dieser Vorfall auch in der Gegenwart von besonderer Bedeutung für sie ist und darüber auch ihre individuellen Orientierungen beeinflusst, denn es geht um ihre Sportkarriere, die abermals von gesundheitlichen Problemen bedroht ist.

Die von ihr eingeschobene Hintergrundkonstruktion, die im Modus einer Beschreibung vorgenommen wird, zielt ebenfalls auf gesundheitliche Prob­leme ab, die während ihrer Teilnahme am Rudertraining aufgetreten sind. Darüber verdeutlicht sie wiederum die Verletzungsproblematik, die sich wie ein roter Faden durch ihre Sportkarriere zieht, und zwar auch in der „Alterna­tivsportart“: „beim Rudern waren’s dann die Knie die nicht mitgemacht ha­ben „.

Anschließend setzt sie ihre Erzählung fort, indem sie sich erneut auf die Situation der Schulterproblematik bezieht, in der sie sich die Frage gestellt hat, ob dies „schon wieder ein Zeichen sein“ soll. Damit werden die Verletzungs- bzw. auch die Krankheitsproblematik zu fremdbestimmten Faktoren, zu „Zeichen“ in Sinas Karriere, die ihr zeigen, dass es „einfach schon wieder nicht so sein“ soll. Es handelt sich in ihrer Sichtweise demnach um ein Mus­ter, das immer wieder zu verschiedenen Zeitpunkten und Phasen ihrer Sport­karriere in Erscheinung tritt und auf das sie selbst keinen unmittelbaren Einfluss hat. Mit dem Auftreten der Schulterproblematik hat sie sich „auch wie­der die Frage gestellt“. So bleibt ihr nur die Möglichkeit, auf diese von ihr konstruierten „Zeichen“ zu reagieren, sie zu deuten und zu bearbeiten. Impli­zit wird damit auch ihre Passung zum Leistungssport und darüber auch zum Verbundsystem in Frage gestellt, denn sie kann die an sie gestellten sport­lichen Anforderungen aufgrund gesundheitlicher Probleme nicht erfüllen. Auch damit muss sie sich auseinandersetzen.

Offen bleibt in dieser Sequenz, wie die „Geschichte“ weitergeht, also wie sie im Trainingslager auf die Schulterproblematik reagiert und wie sie dieses „Zeichen“ in Hinblick auf ihre Sportkarriere gedeutet hat.

-ja und dann hab ich jetzt halt so mittlerweile also jetzt da ich ahm – – ja jetzt im Sommer nach England gehe war meine Trainerin dann auch eher wenn ich mal nicht zum Training gekommen bin selbst wenn ich gelernt habe war sie ja pff so geht ja sowieso

Sina führt ihre Erzählung fort, indem sie ein neues Unterthema einführt und sich darüber auf ihre gegenwärtige Lage bezieht. „Jetzt im Sommer“ geht sie für ein Jahr nach England. Dies führt sie einleitend als erläuternde Hinter­grundinformation für ihre daran anschließende abstrahierende Beschreibung einer Auseinandersetzung mit ihrer Trainerin über ihre fluktuierende Teil­nahme am Training an. Diese Situation lässt sich aufgrund der Satzkonstruk­tion, die über einen Nebensatz mit zeitlichem und vor allem auch wiederkeh­rendem Bezug eingeleitet wird, als typisch charakterisieren: Immer wenn Sina nicht zum Training gegangen ist, dann war es der Trainerin, Sinas ein­geschobener wörtlicher Rede nach zu urteilen, egal: „Ja pff so geht ja so­wieso“. Der Einschub, „selbst wenn ich gelernt habe“, dann demonstrierte die Trainerin entsprechend Gleichgültigkeit, weist darauf hin, dass auch die Gründe der fehlenden Beteiligung am Training für die Reaktion der Trainerin nicht von Belang waren. Nach dieser Schilderung lässt sich annehmen, dass Sina die Reaktionsweisen der Trainerin in ihrem negativen Gegenhorizont ihres eigenen Trainings- und Trainerverständnisses verortet, indem sie deut­lich auf die fehlende Anerkennung ihrer Beweggründe, vom Training fortzu­bleiben, hindeutet.

Damit deutet sich eine Idealvorstellung eines Trainers in ihrem positiven Sporthorizont an, der ein deutlicheres Interesse an den Bil­dungsganggestaltungen seiner Athleten und Athletinnen an den Tag legt und Verständnis dafür zeigt, wenn diese aufgrund schulischer Verpflichtungen vom Training fortbleiben (müssen).

Vor dem Hintergrund einer Logik, die eine Karriere als von „Zeichen“ beeinflusst betrachtet, ließe sich diese mangelnde Anerkennung durch die Trainerin als ein weiteres, von außen gegebenes „Zeichen“ einführen, auf das Sina reagieren muss. Sina befindet sich mit ihren Orientierungen und Haltun­gen in einer Krisensituation, da diese sich nicht mit denen ihrer Trainerin vereinbaren lassen und somit unverkennbar auf eine fehlende Passung hin­weisen. Um diese wieder herzustellen, müsste Sina ihre individuellen Orien­tierungen entweder grundlegend modifizieren und an die ihrer Trainerin anpassen oder ihren Orientierungen treu bleiben und entsprechend nicht mehr am Training teilnehmen bzw. sich eine neue Trainerin suchen. Für die Rekonstruktion ihres individuellen Orientierungsrahmens ist es zu­dem von besonderer Bedeutung, dass Sina die beschriebene Situation in der Vergangenheit verortet und damit insbesondere Prozesse der Entwicklung, Strukturierung und gegebenenfalls auch der Transformation, also die Ent­wicklungsgeschichte ihres Orientierungsrahmens bis zu ihren derzeitigen individuellen Orientierungen hinsichtlich ihres Sport- und Trainingsverständ­nisses wiedergibt.

und da wenn man so dass dann so hört von den andern dann denkt man auch so oh okay das ist jetzt auch wieder so – weil also für mich sollte ein Trainer auch eher so sein so motivierend sozusagen komm doch mal wieder zum Training tu es für dich tu es nicht für mich oder für irgendjemand andern tu es für dich und wenn du halt keine Zeit hast wenn du lernen willst dann tu es aber jedes Mal wenn man wenn man hat dann so das Training abgesagt dann war es so ach nicht schon wieder so und ahm da dachte ich dann auch erstmal so okay gut

 Sina setzt ihre Erzählung weiter fort, indem sie über die Darstellung einer Auseinandersetzung mit ihrer Trainerin den positiven Gegenhorizont ihres Trainer- und Sportverständnisses weiter entfaltet. Zunächst lässt sich inhalt­lich jedoch feststellen, dass sie die Äußerungen der Trainerin, die sie zuvor in wörtlicher Rede wiedergegeben hat, nicht in einer persönlichen Auseinander­setzung erfahren hat, sondern dass diese über Dritte an sie herangetragen wurden, was letztendlich bedeutet, dass die geschilderte Konfrontation mit der Trainerin nicht in einer face-to-face-Situation stattgefunden hat.

Sina formuliert in engagierter Weise hypothetische Ansprüche an einen für sie idealen Trainer bzw. an eine ideale Trainerin, die sich damit in ihrem positiven Gegenhorizont verorten lassen: „also für mich sollte ein Trainer auch eher so sein so motivierend“. Darüber hinaus sollte ein Trainer/eine Trainerin ihrer Ansicht nach ein vorrangiges Interesse an der Person und entsprechend nicht (nur) an der Leistung des Athleten haben und dieses auch vertreten: „tu es für dich tu es nicht für mich oder für irgendjemand andern“. Sie diskutiert damit das Dilemma zwischen Freiwilligkeit und Zwang.

Sie möchte den Sport „für sich selbst machen“ und möchte diesen Ansatz auch von ihrer Trainerin bestätigt wissen und über diese bestärkt werden („tu es für dich“), scheint jedoch emotional an das System des Leistungssports ge­bunden zu sein, denn zum Zeitpunkt des Interviews hat sie zwar das Karrie­reende bereits geplant, ist aber noch nicht aus dem Training ausgestiegen. Würde sie diese Krisensituation in rationaler Weise betrachten, so hätte sie bereits nach ihrem Entschluss, ihre sportliche Karriere zu beenden, das Trai­ning gekündigt, um der offensichtlich rollenförmig strukturierten Trainer- Athlet-Beziehung zu entgehen.

Auch schulische Belange sollten aus Sinas Sicht von einem „Ideal“-Trainer berücksichtigt werden. Dies alles scheint bei ihrer Trainerin jedoch nicht der Fall zu sein. Diese reagiert bei Trainingsabsagen eben nicht ver­ständnisvoll, sondern zeigt wenig Verständnis, wie Sina in wörtlicher Rede berichtet: „Ach nicht schon wieder“. Sina verortet das Verhalten ihrer Trai­nerin eindeutig in ihrem negativen Gegenhorizont. Laut Sinas hypotheti­schem Idealentwurf eines Trainers wird darüber die Antinomie zwischen einer rollenförmig strukturierten, prinzipiell austauschbaren und in erster Linie auf eine funktionsspezifische Vermittlung ausgerichtete Trainer-Athlet-Beziehung und einer Beziehung, in der die Trainerin sie als ganze Person achtet, über alle Widersprüche hinweg von Sina einseitig gelöst (vgl. Helsper et al., 2001, S. 51 f.). Ein Trainer sollte sich ihrem Anspruch nach insbesondere auch um die spezifischen persönlichen Belange seiner Athleten und Athle­tinnen kümmern und sich ihrer Ansicht nach auch bzw. vor allem „diffus“ auf diese als „ganze Personen“ beziehen (vgl. ebd.). Dennoch erfährt sie deutlich, dass es im System Leistungssport, gerade wenn dieser auf einen lediglich binären Leitcode „Sieg/Niederlage“ bezogen wird, keine vorrangige Orientierung an der Person stattfindet. Durch diese Erkenntnis zerbricht ge­wissermaßen ihre „Illusion“.

Wird davon ausgegangen, dass Trainer und Trainerinnen im Nachwuchs­bereich auch in pädagogischer Hinsicht „professionell“ agieren, dann müssen sich diese qua Profession mit höchst komplexen und fragilen Arbeitsbündnis­sen auseinandersetzen und dabei eine Balance zwischen den gegenläufigen diffusen, nicht-rollenförmigen Anteilen und funktional-spezifischen Anteilen finden (vgl. Schierz, Thiele & Fischer, 2006)[4]. Denn es kann weder für die Trainerin noch für die Athletin „von Nutzen sein, die sachliche, rollenhafte Kooperation mit formauflösenden Nähewünschen zu belasten, so bedeutsam eine auch Nähe nicht scheuende und auf Vertrauen gegründete Zugewandtheit in der pädagogischen Beziehung auch ist“ (Combe, 2005, S. 71f.).

Vor diesem Hintergrund liegt die Vermutung nahe, dass Sina (noch) nicht zwischen einer rollenförmigen und einer nicht-rollenförmigen Beziehung unterscheidet und daher darauf Wert legt, auch diffuse Anteile in das beste­hende Arbeitsbündnis zwischen ihr und der Trainerin einbringen zu können.

Wird dieser pädagogisch-professionelle Zusammenhang mit Oevermann (1996, S. 146ff.) unter dem prophylaktischen „Fokus Therapie“ betrachtet, so ließe sich annehmen, dass Sinas Sozialisationsprozess noch nicht abgeschlos­sen ist. Denn erst nach Abschluss der so genannten „Adoleszenzkrise“ sind Heranwachsende in der Lage, auch mit widersprüchlichen Rollenanforderun­gen umzugehen (vgl. ebd.). Solange dies nicht der Fall ist, bedürfen sie der von außen gesteuerten Wahrung ihrer Integrität und besonderen Schutz ihrer Autonomie in pädagogisch-professionellen Arbeitsbündnissen (vgl. ebd.).

Für die weitere Interpretation ist nun die Frage entscheidend, wie Sina diese Krisensituation deutet und bearbeitet. Sie steht an der Schwelle zu einer „endgültigen“ Entscheidung und sucht andeutungsweise nach „Zeichen“, die ihr diese abnehmen können. Ein „Zeichen“ könnte beispielsweise – neben ihren bereits geschilderten verletzungsbedingten Problemen – das von ihr bemängelte Verhalten ihrer Trainerin sein, die ihr damit diesen letzten Schritt zur Beendigung des Trainingsverhältnisses und zum Abschied vom Leis­tungssport abnehmen würde. Darüber könnte sie diese Entscheidung letztend­lich nach „außen“ abgeben.

und dann war es wieder halt weil also ich finde Sport sollte Spaß machen und man sollte es gerne tun und dann wieder diese das war wieder dieser Druck hin zu MÜSSEN so und also mittlerweile ist es dann auch so dann war ich jetzt wie­der krank irgendwie dicke fette Erkältung und dann hat man das auch schon wieder so gehört ja und sie fragt dann immer nur lebt die eigentlich noch oder so und erkundigt sich nicht richtig bei mir erkundigt sie sich nicht und ahm ja und das war ist dann halt wieder und jetzt

Sina setzt ihre Erzählung fort, indem sie die Erfahrungskrise zwischen ihren eigenen Ansprüchen und Idealvorstellungen und den tatsächlichen Reaktio­nen und Verhaltensweisen ihrer Trainerin situationsbezogen weiter ausführt. Wiederum bezieht sie sich auf die bereits angesprochenen Dilemmata: Einer­seits findet sie, dass Sport „Spaß machen“ und man „es gerne tun“ sollte und andererseits bezieht sie sich auf einen „Druck hin zu MÜSSEN“. In ihrer Idealvorstellung, sollte Sport auch auf Leistungsniveau demnach ohne Zwang betrieben werden können. Unter den gegebenen leistungssportlich ausgerich­teten Trainingsbedingungen ist ihr dies aber nicht möglich, denn es ist anzu­nehmen, dass das – wenn auch temporäre – Fehlen von Trainingsbereitschaft, die eben auf Freiwilligkeit beruht, zum Ausschluss von der Trainingsgruppe führen könnte und zudem einem kontinuierlichen Trainingsprozess zuwiderliefe.

Auch die Situation einer Trainingsabsage wird erneut geschildert. Dies­mal wird eine „dicke fette Erkältung“ als Ursache angeführt. Dennoch bleibt die Reaktion – wie sie „das auch schon wieder so hört“ von ihren Trainings­partnern – der Trainerin gleich, denn diese fragt lediglich: „lebt die eigentlich noch“. In der von Sina wiedergegebenen wörtlichen Rede der Trainerin wird die Distanz zu ihrer Person deutlich, denn Sina wird nicht mit ihrem Namen angesprochen, sondern lediglich als „die“ tituliert, was die als krisenhaft zu charakterisierende Trainerin-Athletin-Beziehung unterstreicht. Sina ist eine Athletin unter vielen und wird von der Trainerin demnach als reine Funktions- bzw. Rollenträgerin behandelt, denn auch die Trainerin löst die Antino­mie zwischen Nähe und Distanz einseitig auf, jedoch in Richtung einer reinen rollenförmigen Betrachtung des bestehenden Arbeitsbündnisses. Damit scheint die Situation für Sina festgefahren zu sein.

und jetzt jetzt denke ich mir noch wir haben jetzt nächste Woche nee diese Wo­che sind noch die Hamburger Meisterschaften und dann haben wir noch ähm so also danach haben wir noch irgendwann so nen kleinen Abschiedswettkampf so von unserm Verein ähm ja und dann also so und ich wollte das jetzt eigentlich auch noch so durchziehen bis jetzt dieses Wochenende und dann wollte ich halt eine Woche einfach auch so sagen so ja hör mal – also irgendwie klappt das so nicht und – – ja also sportlich – – ich weiß nicht ob man so damit abschließen kann aber so innerlich im Kopf denk ich mir schon wieder so oh nee

Sina wechselt in der Abschlusssequenz dieser Passage die Darstellungsweise von einer Erzählung hin zu einer Beschreibung und stellt darüber ihre ge­genwärtige (Krisen-)Situation dar. Wiederum bezieht sie sich in sprachlich kompakter Weise auf ihr Karriereende, denn das Ende steht offensichtlich unmittelbar bevor: Es stehen noch zwei sportliche Wettkämpfe an: die Ham­burger Meisterschaften und einer, den sie als „Abschiedswettkampf so von unserm Verein“ bezeichnet. Erneut bezieht sie sich auf die fehlende Passung zwischen ihren Trainings- bzw. Sportvorstellungen angesichts ihres Karriereendes und der an sie gestellten Anforderung, anstehende Wettkämpfe zu bestreiten.

Es gibt offensichtlich für ausscheidende Athleten und Athletinnen die Möglichkeit, sich im Rahmen eines Wettkampfes vom Leistungssport zu verabschieden, dennoch scheint Sina sich ihrer anscheinend vormals geplan­ten Teilnahme an diesen Wettkämpfen nicht mehr sicher zu sein und zweifelt an ihrem erst kürzlich gefassten Entschluss, ob sie diese Wettkämpfe „noch so durchziehen“ möchte und auch daran, „ob man so damit abschließen kann“, wobei letztendlich ungeklärt bleiben muss, ob das „so“ ihren Ab­schied vom Leistungssport bezeichnet oder ihr Auseinandersetzung mit den gegebenen Trainingsbedingungen.

Daraus lässt sich insgesamt schließen, dass sie sich ihren Abschied vom Leistungs- und Wettkampfsport anders vorgestellt hat und ihre subjektiven Relevanzen anders verorten würde. In der Auseinandersetzung mit ihren eigenen Orientierungen wird zudem ein Enaktierungspotenzial offenbart, mit dem sie beabsichtigt, diese umzusetzen: Sie nimmt sich vor, deutlich zu sa­gen, dass es „so“ irgendwie nicht klappt. Der Adressat oder die Adressatin dieser Äußerung wird von ihr zwar nicht genannt, aufgrund des bisherigen Gesprächsrahmens lässt sich jedoch annehmen, dass sie darüber eine mögli­che Auseinandersetzung mit ihrer Trainerin thematisiert, die anders als bisher in einer direkten face-to-face-Situation ausgetragen werden würde. Dafür spricht auch ihre Ansage in direkter Rede, mit der sie diese Auseinanderset­zung einzuleiten gedenkt: „ja hör mal – also irgendwie klappt das so nicht“. Darüber würde die bislang von ihr eher gedankenexperimentell ausgetragene Auseinandersetzung mit den Trainingsroutinen ihrer Trainerin auf eine refle­xive Ebene gehoben, und zwar auf die „sportliche“ Betrachtungsebene der Situation, in der beide „Parteien“ als Rollenträger fungieren.

Die dritte zu interpretierende Passage bezieht sich explizit auf das Pas­sungsverhältnis von Athletin und Institution und wird analog zu den anderen Fällen im Interview über die Frage nach dem „typischen Schüler“ an der Schule C eingeleitet, um darüber auch Sinas Positionierung zur symbolischen Ordnung und den Schüleridealen der Schule rekonstruieren zu können. Letzt­endlich kann darüber auch ihr Passungsverhältnis zu den vorgegebenen An­erkennungsstrukturen spezifiziert werden.

I:        Bei euch ist ja auch die Besonderheit an der Schule oder ich nenn’s jetzt mal eine Besonderheit dass ihr Sportklassen habt aber ihr habt ja einfach auch noch drei andere Klassen in eurer Jahrgangstufe wenn ich dich jetzt fragen würde so gibt es deiner Meinung nach einen typischen Schüler wo man weiß so jo die kommen hier von dieser Schule? Also als Beispiel ich bin in ner Stadt zur Schule gegangen – da gab’s drei Gymnasien – kirchlich katholisch Nonnenbunker Städtische und dann noch so nen Gemischtes und man konnte irgendwie so ja war klar dass die von der Schule kommen – da gab’s so Kennzeichen für

 S:       Ja also

 I:        Findest du das kann man hier sagen für die Schülerschaft?

 S:      Auf jeden Fall

I:        Was ist das denn für dich?

S:      Die Aussprache das Verhalten so – also da merkt man so ja oder wer also – – wenn man – also von manchen Leuten denkt man das gar nicht also ich sag’s mal so die Sportlerklassen sind eher noch so die mit der niedrigsten ja das soll jetzt nicht irgendwie so feindlich klingen – also mit der niedrigsten – der nied­rigsten Ausländerrate so – ich hab nichts gegen Ausländer – also nur noch mal so nebenbei gesagt ähm – aber – – es ähm man merkt es wer anders ist wer also wenn man das mal so zum Beispiel so sagt so wer von aus der Sportlerklasse ist und wer nicht – und ja so von andern Schulen also bei manchen Leuten merkt man wirklich uh Gymnasium okay bei den andern mhm na gut ist nicht so ganz klar – halt auch hier – – ähm wenn das hab ich ganz oft erlebt – also man erwartet es nicht so wenn wer also vor allen Dingen gerade bei Hamburgern ja welche Schule bist du denn? Ja Gesamtschule C – oh okay so also – – also ja wie gesagt ganz viele Leute denken dass es echt so ne schlimme Schule ist – ist es aber nicht – das versuchen wir so vielen Leuten zu sagen aber – ja

 I:        Findest du du bist passend hier an der Schule? Oder gab’s     auch Situationen wo du dachtest irgendwie passe ich hier nicht hin

S:       – – Mhm – – es kommt drauf an also manche Klassen mögen die  Sportlerklassen nicht also es ist weil die denken ja privilegierter und total versnobt und einfach so – aber – – ja also nicht passend — mhm – – fällt mir grad nicht so ein (Z. 847 877)

 I:        Bei euch ist ja auch die Besonderheit an der Schule oder ich  nenn’s jetzt mal eine Besonderheit dass ihr Sportklassen habt aber ihr habt ja einfach auch noch drei andere Klassen in eurer Jahrgangstufe wenn ich dich jetzt fragen würde so gibt es deiner Meinung nach einen typischen Schüler wo man weiß so jo die kommen hier von dieser Schule? Also als Beispiel ich bin in ner Stadt zur Schule gegangen – da gab’s drei Gymnasien – kirchlich katholisch Nonnenbun­ker Städtische und dann noch so nen Gemischtes und man konnte irgendwie so ja war klar dass die von der Schule kommen – da gab’s so Kennzeichen für

Die Interviewerin leitet ausführlich in die Installation eines neuen Themas ein, welches sich über die formulierende Interpretation als Frage nach dem typischen Schüler der Schule C zusammenfassen lässt und darüber seine Relevanz für die Rekonstruktion des Wechselverhältnisses von institutionel­ler Einbindung und subjektiver Bildungsgangkonstruktion erhält.

Zunächst wird die Besonderheit der Profilierung der Schulklassen an der Schule C herausgestellt. Neben der Sportklasse gibt es drei weitere Klassen, denen eine besondere Profilierung von der Interviewerin jedoch nicht zuge­schrieben wird: „Ihr habt ja einfach noch drei andere Klassen in eurer Jahr­gangsstufe“. Damit führt sie bereits eine Ordnungskategorie ein, die einen Unterschied zwischen vermeintlich „typischen“ Schülern der Sportklassen und den „typischen“ Schülern der Stadtteilklassen an der Schule C in ihrer an diese Einführung anschließenden Frage von vorneherein festlegt. Im Anschluss an diese Frage nach dem typischen Schüler, die angesichts der Einleitung, die verschiedene Klassen thematisierte und damit unterschiedliche Schülertypen implizierte, widersprüchlich formuliert wird, folgt eine längere Pause, in der Sina jedoch nicht antwortet.

Gerade in Interviews sind Pausen von besonderer Bedeutung, da sie oft­mals vom Interviewenden als Abbrüche in der Kommunikation gewertet werden, die es zu überbrücken gilt. Dies geschieht möglicherweise auch in der vorliegenden Passage: Die Interviewerin konkretisiert ihre Anfrage nach der Pause, indem sie ein Beispiel gibt, um etwaige Verständnisschwierigkei­ten seitens Sina auszuräumen. Sie erläutert, dass es gewisse „Kennzeichen“ gäbe, die auf die Herkunft aus einer bestimmten Schule hinweisen können und verweist beispielhaft auf eigene, biografische Erfahrungen aus ihrer Schulzeit. Diese „Kennzeichen“ werden jedoch von ihr nicht weiter ausgeführt, so dass sich nicht festmachen lässt, ob sie sich auf äußerliche Eigen­schaften oder auf Verhaltensmerkmale der Schüler und Schülerinnen bezieht. Dennoch verliert die Frage über diese Konkretisierung an Offenheit. Sie zielt nunmehr konkret auf die Bestätigung einer Feststellung ab und wird darüber sehr niedrigschwellig aufgebaut. Diese Vorgehensweise läuft dem bisherigen Interviewverlauf zuwider, denn anders als es bei Nevin der Fall war, zeigt Sina, dass sie durchaus in der Lage ist, komplex strukturierte Anfragen de­tailliert zu beantworten und beweist darüber hinaus über ihre dichte Erzähl­weise auch ein deutliches Interesse an der Aufrechterhaltung des Interview-Gesprächs.

In einer weiteren Lesart könnte die Pause auch für ein Interesse der Inter­viewerin an einem möglichen selbstläufigen Anschluss durch Sina stehen, in dem sie sich zu der Feststellung der Interviewerin positioniert. Auf eine ex­plizite Nachfrage würde dann in dieser Lesart verzichtet werden. Sina würde darüber folglich eine kurze „Denkpause“ eingeräumt werden, in der sie sich für eine Antwort sammeln könnte. Dies gelingt jedoch nicht.

S:  Ja also

Sina schließt direkt an die Frage an der Interviewerin in „überlappender“ Weise an. Sie fällt ihr mit ihrer nahezu minimalen Bestätigung „ja also“ ins Wort, welche sich zunächst auch als spontane Bereitschaftsäußerung und Auftakt einer Erzählung deuten ließe, die jedoch zunächst nicht weiter ausgeführt wird, da die Interviewerin ihre Frage direkt im Anschluss weiter aus­führt. Somit kann eine thematische Weiterführung, wie sie über die einleiten­den Worte nahegelegt werden, von Sina nicht weiter entfaltet werden.

Zugleich lässt sich inhaltlich über diese Bestätigung annehmen, dass Sina den biografischen Erfahrungen der Interviewerin zustimmt: Es gibt auch ihrer Ansicht nach tatsächlich typische Schüler an der Schule C, die anhand gewis­ser Kennzeichen identifiziert werden können. Darüber wird nun auch ein gemeinsames Gesprächsthema installiert, das sich in Hinblick auf den thema­tischen Bereich der Passungsverhältnisse von Athletin und Institution weiter ausführen ließe.

I:    Findest du das kann man hier sagen für die Schülerschaft?

Die Interviewerin stellt ihre Frage erneut und setzt darüber die Themenentfal­tung fort, indem sie konkret danach fragt, ob ihre Vermutung zuträfe, ob man das „hier sagen“ könne, dass es auch für typische Schülerschaft der Schule C gewisse „Kennzeichen“ gäbe, anhand derer sie eindeutig identifiziert werden könnten. Diese Spezifizierung und Konkretisierung der eingangs gestellten Frage offenbart eine gewisse Relevanz für den weiteren Interviewverlauf, denn wenn Sina eben nicht der Ansicht wäre, dass es diese „Kennzeichen“ und damit folglich auch keine typische Schülerschaft gäbe, wäre die weitere Entfaltung der Thematik hinfällig. Sina könnte sich dann weder einer ty­pischen noch einer untypischen Schülerschaft zuordnen und darüber gegebe­nenfalls auch keine Passungen zur Schule konstruieren.

Da diese Frage sehr geschlossen und damit gleichermaßen wenig erzähl­generierend ist und zudem im Prinzip eine reine Wiederholung der Eingangs­frage in veränderter Formulierung darstellt, ist davon auszugehen, dass Sina diese auch lediglich bejahen wird, was nachfolgend auch deutlich wird:

S:   Auf jeden Fall

Sina bestätigt die Aussage und schließt sich darüber formal der von der Inter­viewerin vorgeschlagenen Thematisierungslinie an. Auf der inhaltlichen Ebene wird in dieser Äußerung, die zumindest minimal über eine reine Bestä­tigung hinausführt, darüber Auskunft erteilt, dass die spezifische Schüler­schaft der Schule „auf jeden Fall“ über gewisse Kennzeichen als C-Schüler identifiziert werden könne. Es gibt folglich keine Ausnahmen. Sie ist sich sicher. Damit beantwortet Sina zwar die Frage der Interviewerin, bietet je­doch keine weitere Ausdifferenzierung, Modifizierung oder Detaillierung der vorliegenden Thematik an. Dementsprechend ist es auf der Basis dieser In­formationen noch nicht möglich, Gegenhorizonte zu bestimmen, die Sinas individuellen Orientierungsrahmen konturieren würden. Es liegt also an der Interviewerin, an diese Bestätigung anschließend über eine explizite Erzählaufforderung eine Themenentfaltung in Gang zu bringen.

I:    Was ist das denn für dich?

Die Interviewerin knüpft an Sinas Bestätigung an und fordert sie nunmehr explizit auf, ihre Perspektive auf die spezifischen Kennzeichen der Schüler­schaft der Schule C auszudifferenzieren und sich zu positionieren: „Was ist das denn für dich?“ Zu erwarten wären demnach eine Aufzählung von Merkmalen und Kriterien, die die typische Schülerschaft der Schule C cha­rakterisieren. Jedoch wird nicht ersichtlich, ob sich die Frage auch auf die eingangs eingeführte Unterscheidung der Sportklassenschüler von den Stadt­teilklassenschülern bezieht oder die gesamte Schülerschaft in den Blick nimmt. Daher liegt es an Sina, diesen Aspekt in ihre Antwort, sofern er eine Rolle spielt, mit einzubeziehen.

S:       Die Aussprache das Verhalten so – also da merkt man so ja oder wer also – -wenn man – also von manchen Leuten denkt man das gar nicht also ich sag’s mal so die Sportlerklassen sind eher noch so die mit der niedrigsten ja das soll jetzt nicht irgendwie so feindlich klingen – also mit der niedrigsten – der nied­rigsten Ausländerrate so – ich hab nichts gegen Ausländer – also nur noch mal so nebenbei gesagt ähm – aber – – es ähm man merkt es wer anders ist wer also wenn man das mal so zum Beispiel so sagt so wer von aus der Sportlerklasse ist und wer nicht – und ja so von andern Schulen also bei manchen Leuten merkt man wirklich uh Gymnasium okay bei den andern mhm na gut ist nicht so ganz klar – halt auch hier – – ähm wenn das hab ich ganz oft erlebt – also man erwartet es nicht so wenn wer also vor allen Dingen gerade bei Hamburgern ja welche Schule bist du denn? Ja Gesamtschule C – oh okay so also – – also ja wie gesagt ganz viele Leute denken dass es echt so ne schlimme Schule ist – ist es aber nicht – das versuchen wir so vielen Leuten zu sagen aber – ja

Für den Diskursverlauf kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass Sina unmittelbar mit einer ausführlichen Darstellung dieser „Kennzeichen“ ant­wortet. Zunächst führt sie die „Aussprache“ und das „Verhalten“ als wesent­liche Indikatoren zur Identifizierung einer typischen Schülerschaft an und deutet Bezüge zu einem konjunktiven Erfahrungsraum an („also da merkt man so ja“). Sina führt diesen Ansatz aber nicht weiter fort, sondern berichtet auf kommunikativer Ebene mit Bezug auf die Eröffnungsfrage von Unter­schieden zwischen den Schülern und Schülerinnen der Sport- und denen der Stadtteilklassen. Demnach ist laut Sina die „Ausländerrate“ in den Sport­klassen niedriger als in den Parallelklassen und damit als deutliches Unterscheidungskriterium zu werten, welches von ihr jedoch nicht weiter beispielsweise hinsichtlich einer Lebensform, einer politischen Ordnung oder auch in Bezug auf einen spezifischen gemeinschaftlichen Zusammenhang spezifiziert wird (vgl. Mecheril & Hoffarth, 2006, S. 229). Damit bleibt die Bezeichnung diffus und unscharf. Es werden darüber lediglich Zugehörigkei­ten und Nicht-Zugehörigkeiten konstruiert und dokumentiert.

Darüber hinaus würde „man“ es merken „wer anders ist“. Damit wech­selt sie erneut von ihrer persönlichen Ansicht auf die Ebene eines „verallgemeinerten Anderen“[5] (vgl. Mead, 1975, S. 194ff.). Sina als Teilnehmerin des konjunktiven Erfahrungsraums einer Sportklasse weiß implizit, „wer anders ist“, folglich nicht dazugehört und auch nicht in die Sportklasse pas­sen würde. Sie schreibt damit allen Mitgliedern der Sportklassen die gleichen habituellen Haltungen, Einstellungen und verbürgten Wertvorstellungen zu, mit Hilfe derer sie eben in der Lage sind, zu merken, wer passt bzw. wer nicht passt (vgl. ebd.). Damit dokumentiert sich ein kollektives Zugehörigkeitsverständnis. Der „verallgemeinerte Andere“ ist demnach ihr Bild, das sie von einer bestimmten Rolle oder auch von einem bestimmten Erfahrungskon­text, und zwar dem der Sportklasse, hat. Sina nimmt in der vorliegenden Situation die Haltung ihrer sie umgebenden Personen an und drückt darüber ihre Identifikation mit der Sportklasse aus (vgl. ebd.).

Zudem greift sie das eingangs eingeführte Beispiel der Interviewerin auf und weist, wenn auch implizit, auf Unterschiede zwischen Schülern der Ge­samtschule und Gymnasialschülern hin, die ihr aufgefallen sind: „also bei manchen Leuten merkt man wirklich uh Gymnasium“. Jedoch werden diese Unterschiede von ihr nicht explizit gemacht, sondern verbleiben auf einer impliziten Ebene ihres konjunktiven Erfahrungsraumes. Allenfalls der Kom­mentar „uh“ liefert einen Hinweis darauf, dass Sina das Gymnasium nicht in ihrem positiven Gegenhorizont verortet, sondern, wie in der vorigen Sequenz bereits angedeutet, gesamtschulbezogene Orientierungen aufweist.

Die Ebene wechselt sie erst in ihrer abschließenden Erzählung einer Si­tuation, indem sie sich auf ein offenbar wiederkehrendes Erlebnis von Zuge­hörigkeitssituationen bezieht. Sie berichtet von einer Interaktion, die dem Kontext nach zu urteilen zwischen ihr und einem bzw. einer anderen Jugend­lichen stattfand, welche sie in wörtlicher Rede wiedergibt und dabei beide „Rollen“ spricht: „ja welche Schule bist du denn? Ja Gesamtschule C – oh okay“. Offensichtlich wurde sie in dieser wiederkehrenden Situation gefragt, zu welcher Schule sie denn gehen würde. Diese Art der Fragestellung irritiert, denn in dieser wird zwischen der Person und der Institution nicht getrennt. Vor einem schulischen Hintergrund wäre zu erwarten, dass gefragt würde: „ja auf welche Schule gehst du denn?“ Die Frage scheint die Antwortende – Sina – jedoch nicht zu verwundern, denn sie antwortet ohne Umschweife mit dem Namen der Schule. Denkbar wäre demnach ein sportlicher Kontext, in dem dieses Gespräch stattfindet. In dieser Lesart würde diese Interaktion bei­spielsweise im Rahmen eines Schulwettkampfes, auf dem Schüler und Schü­lerinnen für ihre Schulen starten, durchaus berechtigt sein. Die abschließende Reaktion des Gesprächspartners fällt recht „sparsam“ aus: „oh okay“. Die Antwort wird zwar von ihrem Gesprächspartner zur Kenntnis genommen, jedoch nicht weiter kommentiert. Dies lässt darauf schließen, dass Sinas Gesprächspartner die Schule C durchaus bekannt ist, sodass er nichts hinzu­zufügen hat. Da Sina diese Interaktion in ihrer Antwort jedoch als etwas Besonderes hervorhebt, kann darauf geschlossen werden, dass die „verhalte­ne“ Reaktion („oh okay“) ihres Gesprächspartners durchaus von Relevanz ist. Dies wird dann auch in ihrem Abschlussplädoyer deutlich: „also ja wie gesagt ganz viele Leute denken dass es echt so ne schlimme Schule ist – ist es aber nicht – das versuchen wir so vielen Leuten zu sagen aber – ja“. Der sparsame Kommentar ihres Gegenübers wird somit zum Schlüssel für die Charakterisierung der Schule C als von Außenstehenden wahrgenommene „schlimme Schule“, also als eine Schule mit einem negativen Image. Sina verteidigt die Schule C jedoch in ihrem positiven Gegenhorizont und deutet darüber Bezüge zu einer übergreifenden, offenbar polarisierenden Diskussion um die Schüler und Schülerinnen der Schule C an. Diese Orientierung setzt sie – und schließt wiederum weitere Teilnehmer ihres konjunktiven Erfahrungsraumes als „verallgemeinerte Andere“ mit ein („man“) – sogar um, indem sie „versucht“, diese Haltung auch nach außen zu tragen. Jedoch scheint dieser Versuch nicht viel Wirkung zu zeigen, was sie mit dem Neben­satz, den sie mit „aber“ einleitet, jedoch nicht zu Ende führt, auch andeutet. Die Gründe dafür scheinen jedoch unklar zu sein.

I:        Findest du du bist passend hier an der Schule? Oder gab’s auch Situationen wo du dachtest irgendwie passe ich hier nicht hin

Mit diesem Anschluss bleibt die Interviewerin im Rahmen der bereits eröff­neten Themenentfaltung und führt mit der Frage nach der Passung zu Schule ein neues Unterthema ein, über das sie eine weitere Positionierung Sinas einfordert, indem sie ihre Perspektive fokussiert. Jedoch bietet die Frage aufgrund ihrer Geschlossenheit kaum Möglichkeiten weiterer thematischer Anschlüsse, denn sie kann letztendlich nur bejaht oder verneint werden. Eine explizite Erzählaufforderung liegt damit nicht vor. Anders wäre es gewesen, wenn die Interviewerin beispielsweise direkt nach Situationen der Nicht­-Passung gefragt hätte („Wie sahen die Situationen aus wo du dachtest ir­gendwie passe ich hier nicht hin?“).

Wird darüber hinaus davon ausgegangen, dass Sina auch nach ihrer Rückkehr aus dem Ausland die Schule C wählt, lässt sich annehmen, dass durchaus ein harmonisches Passungsverhältnis vorhanden ist. Unter Berück­sichtigung dessen, dass sie nicht in die Sportklasse zurückkehrt, ließe sich jedoch erwarten, dass gerade in diesem schulischen Kontext spannungsreiche Konstellationen zu erwarten sind.

S:           – – – Mhm – – es kommt drauf an also manche Klassen mögen die Sportlerklassen nicht also es ist weil die denken ja privilegierter und total versnobt und einfach so – aber – – ja also nicht passend mhm – – fällt mir grad nicht so ein

Sina antwortet erst nach einigem Zögern. Eine eindeutige Positionierung über positive bzw. negative Gegenhorizonte wird thematisch zunächst nicht sicht­bar. Sie kann die Anfrage weder bestätigen noch ablehnen, denn es komme „drauf an“. Demnach fühlt sie sich mal passend und mal nicht. Wiederum dokumentiert sich in ihrer Antwort eine Haltung, die auf einer allgemeinen und distanzierten Ebene verbleibt, denn sie expliziert nicht ihre eigene Per­spektive, sondern spricht als Mitglied der „Sportlerklasse“ und betrachtet demnach Passungsverhältnisse auch ausschließlich von diesem „Sportlerhori­zont“ aus: Die „Sportlerklasse“ wird demnach von „manchen Klassen“ der Schule C nicht gemocht, „weil die denken ja privilegierter und total versnobt und einfach so“. Damit greift sie die eingangs getroffene Unterscheidung der Interviewerin auf und thematisiert darüber die von den „Sportlern“ wahrge­nommenen Ansichten der Stadtteilklassen gegenüber den Sportklassen. Diese Linie wird von ihr jedoch nicht weiter ausgeführt, sodass letztendlich unge­klärt bleiben muss, wie Sina bzw. die „Sportlerklasse“ mit den Vorbehalten der anderen Klassen umgeht.

Abschließend lässt sich festhalten, dass ihr – mit Bezug auf ihren sport- und peerbezogenen Erfahrungsraum – keine expliziten Situationen der „Nicht-Passung“ einfallen, so dass insgesamt festgehalten werden kann, dass sich ihre Passungsarbeit ausschließlich auf das spannungsreiche Verhältnis zwischen eigenen bildungsbezogenen Entwicklungswünschen und -Vor­stellungen und den spezifischen objektiven Bildungsganganforderungen der Schule bezieht, die eben für Angehörige der Sportklassen keine Förderung in sprachlichen Fächern vorsieht.

Wird diese Passage abschließend noch einmal insgesamt in den Blick ge­nommen und mit der äquivalenten Passage aus dem Fall „Nevin“ verglichen, so lässt sich konstatieren, dass diese sowohl formal, aber vor allem auch inhaltlich maximal kontrastieren. Während Nevin den typischen Schüler der Schule C über die Anforderungen an einen aus seiner Sicht idealen sekundä­ren Schülerhabitus konstruiert, den er auch selbst – wenn auch eher passiv – anstrebt, charakterisiert Sina diesen über beobachtete und höchst negativ attribuierte Merkmale und Verhaltenseigenschaften, von denen sie sich je­doch deutlich abgrenzt. Weiterhin sind Nevins Erfahrungskonstellationen unverkennbar von Differenz geprägt. Er muss sich von seinen Klassenkame­raden sowohl in sportlicher, vor allem aber in schulischer Hinsicht negativ abgrenzen. Dahingegen kann Sina sich als Teil der „Sportlerklasse“ positio­nieren und sich in ihrer Antwort auf diesen spezifischen Erfahrungsraum beziehen.

 

Fußnoten:

[1] Die Einleitung „also“ ließe sich damit auch grundsätzlich als Zurückweisung der Interviewerfrage deuten, denn der darauffolgende Anschluss „ich weiß nicht“ zögert die Erzählung hinaus und gibt vor diesem Hintergrund einen weiteren Beleg für eine unsichere Haltung, die gegebenenfalls zunächst auf eine weitere Konkretisierung der Fragestellung durch die Interviewerin wartet, um den an sie gestellten Erwartungshaltungen gerecht zu werden. Diese Konkretisierung bleibt jedoch aus und Sina leitet ihre argumentative Passage dennoch ein. letztlich könnte die Aussage „ich weiß nicht“ auch einen „inneren Kommentar“ darstellen, der sich darauf bezieht, dass sich Sina diese Frage tatsächlich noch nicht gestellt hat.

[2] Die Gesamtschule C bietet in der Oberstufe (ab dem elften Jahrgang) zwei unterschiedlich strukturierte Sportprofile in der gymnasialen Oberstufe an. Ein Oberstufenprofil enthält grundsätzlich immer eine vorab festgesetzte Fächerkombination. Für Schüler und Schülerinnen. die den entsprechenden Verbandskadern angehören, wird ein so genanntes „Kader- sport-Profil“ angeboten, das die Trainingszeiten der Athleten und Athletinnen in den Stundenplan integriert, indem beispielsweise auch Unterricht quasi als Training angeboten wird. Dieses Profil wird von den Interviewteilnehmern oftmals auch als „Leistungssportprofil“ bezeichnet. Jedoch unterscheidet es sich maßgeblich von dem zweiten „Sport-Profil“: „Lebenswelt Sport“, das die Schule C als Option für alle sportinteressierten Schüler der Oberstufe bereithält und welches sich ebenfalls über das Schulfach Sport als Leistungskurs profiliert.

[3] Die Schüler und Schülerinnen der Sportklasse wurden an zwei aufeinanderfolgenden Tagen interviewt, sodass ihnen zwischendurch genug Zeit blieb, sich untereinander über die Interviewinhalte auszutauschen. Äußerungen wie „also nachher werden glaub ich noch Fragen zum Sport gestellt“ waren gerade am zweiten Interviewtag oftmals zu vernehmen.

[4] Ob Sinas Trainerin in der oben dargestellten Situation in pädagogischer Hinsicht „professionell“ agiert oder nicht, ist für die Interpretation des vorliegenden Falls nicht von Relevanz, sondern es geht ausschließlich darum, wie die Jugendliche eine von ihr als ambivalent- krisenhaft empfundene Situation deutet und bearbeitet, um auf diese Weise Aufschlüsse über ihr implizites Wissen zu erhalten.

[5] Mead unterscheidet die Identitätsentwicklung über das „Spiel“ und den „Wettkampf‘. Im nachahmenden „(Rollen-)Spiel“ nehmen Kinder verschiedene Rollen ein (bspw. die eines Elternteils oder die des Lehrers). Darüber lassen sie sich auf verschiedene Identitäten ein, spiegeln sie diese jedoch nur und verallgemeinern noch nicht die Rollenerwartungen der Bezugspersonen (vgl. Mead, 1974. S. 191ff.). Dies geschieht erst im Kontext des so genannten „Wettkampfes“, in dem das Kind auch die Haltungen und Erwartungen aller anderen Teilnehmer einnehmen können muss, um ein übergreifendes Ziel zu erreichen (vgl. ebd., S. 196). Diese organisierte Gemeinschaft bezeichnet Mead (ebd.) als das „verallgemeinerten Andere“. Das Kind orientiert sich in diesem „Entwicklungsstadium“ demnach auch an generalisierbaren Erwartungen.

Literaturangaben:

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Helsper, W., Böhme, J., Kramer, R.-T. & Lingkost, A. (2001). Schulkultur und Schulmythos. Rekonstruktion zur Schulkultur I. Opladen: Leske + Budrich.

Marotzki, W. (1990). Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie. Biographietheoretische Auslegung von Bildungsprozessen in hochkomplexen Gesellschaften. Weinheim: Deutscher Studienverlag.

Marotzki, W. (1991). Aspekte einer bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung. In D. Hoffmann & H. Heid (hrsg.) Bilanzierungen erziehungswissenschaftlicher Theorieentwicklung. Erfolgskontrolle durch Wissenschaftsforschung (s.229-134). Weinheim: Deutscher Studienverlag.

Mead, G.H. (1975). Geist, Identität und Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Mecheril, P. & Hoffarth, B. (2006). Adoleszenz und Migration. Zur Bedeutung von Zugehörigkeitsordnungen. In V. King & H.-C. Koller (Hrsg.), Adoleszenz – Migration – Bildung. Bildungsprozesse Jugendlicher und junger Erwachsener mit Migrationshintergrund (S.221-240). Wiesbaden: VS.

Oevermann, U. (1996). Theoretische Skizze einer revidierten Theorie professionalisierten Handelns. In A. Combe & W. Helsper (Hrsg.), Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns (S.70-182). Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Przyborski, A. & Wohlrab-Sahr, M. (2009). Qualitative Sozialforschung. Ein Arbeitsbuch. München: Oldenbourg Verlag.

Schütze, F. (1983). Biographieforschung und narratives Interview. Neue Praxis, 13, 283-293.

Mit freundlicher Genehmigung des Budrich Verlages.
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