Hinweis – Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Einleitende Bemerkungen

[…] Neben zahlreichen Gesprächen mit Studierenden, die im Kontext der Hauptseminare zum Literarischen Unterrichtsgespräch an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg geführt wurden, leitete ich vier Gespräche mit Grund-schulkindern. Jeweils zwei davon entstanden in dritten beziehungsweise vierten Klassen an zwei Grund-, Haupt- und Werkrealschulen im Rhein-Neckar-Raum. [1]  Das Gedicht Zirkuskind von Rose Ausländer bildete die Textgrundlage aller literarischen Gespräche und war bis dahin nicht Gegenstand des Literaturunterrichts, weshalb ich davon ausgehen konnte, dass es sich in allen Gesprächsgruppen um die erste Begegnung mit diesem Text handelte. Nach Auskünften der Klassenlehrerinnen hatten die Schüler mit dem Literarischen Unterrichtsgespräch bislang noch keine Erfahrungen gemacht. […]

 

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Nachdem das Gedicht zweimal im Sitzkreis vorgelesen worden ist, bringe ich den Impuls ein, sich eine Spur „AUSwendig zu merken und als Zeichen, dass wir die Spur auswendig gelernt haben, drehen wir unser Textblatt einfach UM und legen es uns auf den Schoß“ [L 34/16 (4,1)]. Danach leite ich die erste Runde ein, in der sich die Gesprächsteilnehmer mit ihrem Namen und ihrer Spur kurz vorstellen.

Einige der zu Gesprächsbeginn eingebrachten Textspuren möchte ich im Folgenden zitieren: In den dritten und vierten Klassen werden vor allem die komplexen Metaphern des Gedichts genannt und als potentielle „Spuren“ identifiziert. In diesen ersten Beiträgen wird besonders deutlich, dass die Schülerinnen und Schüler die bildlichen Formen des uneigentlichen Sprechens umkreisen: Linda denkt, dass „auf dem Seil über die Arena der Erde, das ist irgendwie auch ein bisschen auch * so ein bisschen MAgisch so irgendwie“ [41/7 (4,1)], woran Tina einige Beiträge später anknüpfen kann. Sie scheint die Unendlichkeit, die in dieser Metapher anklingt, zwar wahrzunehmen, aber es fällt ihr (un-)sagbar schwer, diese Vorstellung zu versprachlichen, weil „ich kann s jetzt nicht beschreiben, es ist irgendwas auch bisschen MAgisch und MYStisches“ [76/9 (4,1)]. Mit ihrem Beitrag stößt sie einen neuen und produktiven Gesprächsprozess an, in dem die anderen Teilnehmer die Faszination, die von dieser – im wahrsten Sinne des Wortes – großen Metapher ausgeht, um weitere Deutungshypothesen erweitern [alle Gesprächsbeiträge 4,1]:

Bei über die Arena der Erde dann * man weiß ja nicht * also * da das ist ja ein Zirkus so mal über ner Arena, aber es ist irgendwie komisch * es könnte der Name vom Zirkus sein oder vielleicht auch irgendetwas Interessantes, vielleicht ist da drunter mal irgendwas GeHEIMnisvolles gefunden worden oder irgend so etwas. [Ramona 77/7]

Ja wie die Tina schon gesagt hat * irgendwie hat das was so ein bisschen MAgisches und BeZAUberndes, wenn man den die Strophen jetzt best, dann denkt man irgendwie ähm *

ja ist die Erde ist eigentlich nur eine Arena, weil ganz viele kleine Sachen passieren, die * ja manchmal schlimm und manchmal schön sind [L: mhm]. [Linda 78/12]

Es kann auch sein, dass das KIND jetzt grad TRÄUMT und dass das dann denkt, dass die Arena jetzt die ganze ERde wäre und wie die Linda schon gesagt hat, dass da immer kleine DINge passieren * und dass das immer ganz anders ist. [Judith 79/5]

Und da steht ja au/ * oben in der zweiten Zeile * spiele mit Einfällen * dass und in dem ganzen Gedicht werden ja auch diese Einfälle beschrieben [L: mhm] und das halt (…). [Tina 80/10]

Ich glaube die Linda hat gerade gesagt, wenn man auf einem Seil läuft oder das hört sich in dem Text so an, als ob die ganzen Dinge auf der Erde ganz klein sind * und so geht es mir auch, wenn ich mir da ein BILD von mache, fällt mir auch auf* ah ganz WEIT oben auf einem Seil und alles ist unten klein * gefällt euch das Bild? ** Weil es ist ja auch schon gefährlich. [L 81/32]

Ja * weil ähm wenn s wirklich so * das gibt es doch in Zirku/ ähm Zirkussen oft, dass mal, dass jemand dort oben auf dem Seil das Gleichgewicht verLIERT, dann kann man ihn nicht mehr auffangen oder vielleicht irg/ etwas rechtzeitig holen und [Linda: und dann bricht er sich was] dann kann da was kann was Schlimmes passieren. [Pierre 82/4]

Gerade diese Ausschnitte verdeutlichen, dass sich am Alteritätspotential des Textes der literarische Verstehensprozess entzünden kann. Auf Linda und Tina scheint die Textstelle eine große Faszination auszuüben, weil sie sie zunächst selbst in das Gespräch einbringen, ohne dazu überhaupt eine Deutungs-hypothese versprachlichen zu können. Die Beiträge der Kinder stoßen in diesem Fall einen gemeinsamen Prozess des Metaphernverstehens an.  Die Textdetektive ringen förmlich mit der poetischen Sprache des Textes, was an der auffälligen Häufung von (mimetischen) Umschreibungen wie magisch, mystisch, bezaubernd und geheimnisvoll deutlich wird. Durch diesen tentativen Annäherungsprozess könnten die Schüler bemerken, dass die metaphorische Sprache mit ihren Funktionen eine Sphäre eröffnen kann, die ihnen das situative Abstoßen von der Lebenswirklichkeit und den in ihr wirksamen Regeln ermöglicht.

Mit Maria Lypp ließe sich die Auswahl solcher Spuren durch die Text-detektive erklären, da sie zwischen der Unverständlichkeit des Textes und seiner Bedeutsamkeit für Kinder eine Wechselbeziehung beobachtet. Ihr zufolge „wächst die textuelle Bedeutung in dem Maße, in dem die allgemeinsprachliche verwischt wird“ (1984, S. 30), sodass die Stellen, die das Potential für einen

die Lebenswirklichkeit übersteigenden Übergang ermöglichen, von den Schülerinnen und Schülern wohl zunächst an der Textoberfläche aufgrund ihrer alteritären Sprachlichkeit identifiziert werden. Die Bedeutung wie auch das Verstehen dieser Stellen, in diesem Fall einer Metapher, scheint für die Kinder zunächst sekundär zu sein. Demnach könnten auf sprachlicher Ebene Übergangsindikatoren in Form von Textstellen identifiziert werden, die von der üblichen – und off von den Kindern mit viel Anstrengung geübten – alltagssprachlichen Zeichenverwendung abweichen.

Die Annäherung an das Verstehen komplexer Stellen kann, wie es die Transkriptausschnitte andeuten, im weiteren Gesprächs verlauf als sekundärer Prozess angestoßen werden, der mit Heinz Schlaffer als „tolerante Antwort auf die vermehrte Erfahrung von Fremdheit“ (2005, S. 185) gedacht werden kann, die die ganze Gruppe, nicht nur Einzelne, zu einer mäandrierenden Annäherung oder Umkreisung des Textes motiviert. Beeindruckend verdeutlichen die von Ramona, Linda, Judith, Tina und Pierre in das Gespräch eingebrachten Hypothesen zum Balanceakt des Ich auf dem Seil über die Arena der Erde, dass die Textdetektive sowohl personal als auch thematisch aufeinander Bezug nehmen, indem ihre Gesprächsbeiträge wie kleine Zahnräder ineinander greifen. Zum einen verfugen die Schülerinnen und Schüler der vierten Klasse bereits über besonders elaborierte Gesprächskompetenzen, zum anderen zeigt sich darin die gute Gesprächsatmosphäre, die – nicht nur in der Primarstufe – als wichtiges Fundament für die Annäherung an das Alteritätspotential gedacht werden muss.

 

Fußnoten:

[1] An dieser Stelle möchte ich mich sehr herzlich bei den Schülerinnen und Schülern bedanken, mit denen ich Gespräche zum Gedicht Zirkuskind führen konnte. Die Namen wurden verändert und anonymisiert. Ich bedanke mich außerdem sehr herzlich bei Gerhard Härle und Marcus Steinbrenner, mit denen ich mich über didaktische und methodische Überlegungen zum Vorgehen beraten konnte.

[2] Vgl. dazu den sehr interessanten Aufsatz von Irene Pieper (2004), in dem sie sich intensiv mit dem Prozess des Metaphernverstehens in literarischen Gesprächen mit Schülern über das Gedicht Zirkuskind auseinandersetzt.

 

Literaturangaben:

Lypp, Maria (1984): Einfachheit als Kategorie der Kinderliteratur. Frankfurt a. M.: dipa

Pieper, Irene (2004): Poetische Verdichtung: Schüler und Schülerinnen interpretieren Rose Ausländers Gedicht Zirkuskind im Unterrichtsgespräch. In: Kein endgültiges Wort. Die Wiederentdeckung des Gesprächs im Literaturunterricht. Hg. von Gerhard Härle und Marcus Steinbrenner. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, S. 219-239

Schlaffer, Heinz (2005): Poesie und Wissen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp

 

Mit freundlicher Genehmigung des Schneider Verlags
http://www.paedagogik.de/index.php?m=wd&wid=2055

 

Nutzungsbedingungen:
Das vorliegende Dokument ist ausschließlich für den persönlichen, bzw. nicht-kommerziellen Gebrauch bestimmt – es darf nicht für öffentliche und/oder kommerzielle Zwecke außerhalb der Lehre vervielfältigt, bzw. vertrieben oder aufgeführt werden. Kopien dieses Dokuments müssen immer mit allen Urheberrechtshinweisen und Quellenangaben versehen bleiben. Mit der Nutzung des Dokuments werden keine Eigentumsrechte übertragen. Mit der Verwendung dieses Dokuments erkennen Sie die Nutzungsbedingungen an.