Hinweis – Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:
 

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

 

Lesarten

In dieser Sequenz beschreiben die Schülerinnen und Schüler zunächst eine Bil­derfolge („Paul und Laura“), die heutige Lebenswirklichkeit von Kindern wie­dergeben soll (drei Kinder, Mädchen mit Skateboard). Hier wird der oben er­wähnte Vergleich wieder aufgenommen und auf heutige Verhältnisse bezogen. Es geht zum einen um die Unterschiede zwischen „früher“ und „heute“, zum zweiten um die Unterschiede zwischen „Jungen früher – Mädchen früher“ und „Jungen heute – Mädchen heute“. Die sozialen Unterschiede von früher (Ritter­kinder vs. Bauernkinder) sind eingeebnet, der Blick fängt sich in der Sprechbla­se des Bildes: „Das ist nichts für Mädchen“ (Zeile 234). Thematisiert werden geschlechtsspezifische Unterschiede im Verhalten und Denken der Erwachse­nen und der Kinder früher und heute. Die damit verknüpfte Zielsetzung findet sich in der schriftlichen Unterrichtsplanung‘. „Die Schülerinnen und Schüler sollen sich mit Geschlechterrollen kritisch auseinandersetzen“. Damit soll gleichzeitig die Beziehungs- und Konfliktfähigkeit der Kinder gestärkt werden. Sie sollen sich mit dem Zusammenleben beider Geschlechter auseinanderset­zen.

In einem kleinen Gedankenexperiment versetzt die Lehrerin die Kinder in die Situation, wie sie auf dem Bild dargestellt wird: „Ist euch das auch schon mal passiert?“ (Zeile 236) Die Schülerinnen und Schüler sollen vergleichbare Si­tuationen erzählen, bei denen Erwachsene (oder Gleichaltrige) ähnliche Aussa­gen gemacht haben.[1] Die Reihe von Beispielssituationen beginnt die Lehrerin selbst: Auch ihre Tochter wird von der Oma mit diesem Spruch sanktioniert, wenn sie mit einer Pistole spielt oder Fußball.

Zweites Beispiel: Ein Schüler spielt mit seiner Schwester Fußball, die Mutter interveniert.

Drittes Beispiel: Der gleiche Schüler flechtet sich ein Armband, der Oma ge­fallt es nicht. (Lehrerin: „Das ist ja schon fast wie auf diesem Bild“, Zeile 250.) Methodisch handelt es sich um Analogieschlüsse, bei denen unterschiedliche soziale Situationen beschrieben werden, die eines gemeinsam haben: Sanktio­niert wird (in den Beispielen der Schülerinnen und Schüler) von Erwachsenen und Gleichaltrigen (Eltern, Großeltern, Geschwistern, Freunden) das vermeint­lich geschlechtsuntypische Verhalten von Kindern. Im Durchschauen der Vermeintlichkeit wird eine „Auseinandersetzung“ (s.o.) angeregt. An dieser Stelle kommt ein weiteres Moment hinzu. Das Beispiel mit dem Armband geht auf schulische Aktivitäten zurück. Alle Kinder haben solche Armbänder basteln gelernt. Allgemeiner formuliert: Die schulische Norm, keine Unterschiede zwi­schen Jungen und Mädchen beim Werken, Basteln, Stricken usw. zuzulassen, stößt sich an der sozialen Norm, die Eltern, Großeltern, Gleichaltrige vertreten. Damit deutet sich für die Kinder ein Rollenkonflikt an. Was ist von beiden Seiten zu halten?

Viertes Beispiel: Auch einem der Väter ist das Armband aufgefallen. Für seine Bemerkungen gibt es wiederum mehrere Lesarten. Mit „Wie hast du denn das gemacht? Das kann ich ja noch nicht mal“ (Zeile 254f.) zeigt er seine Bewun­derung; so ist es zumindest bei seinem Sohn angekommen, zumal er vorgibt, selbst gerne so ein Armband zu besitzen. Je nach Tonfall und sozialer Bezie­hung[2] kann die Aussage auch ironisch gemeint sein und somit versteckt die „unmännliche“ Herstellung des Armbandes abwerten.

Fünftes Beispiel: Ein Junge wird von der Cousine ermahnt, als er mit ihr mit (Barbie) Puppen spielt. Zwar wird nichts über sein Alter und das der Cousine ausgesagt, aber es könnte durchaus sein, dass er sowohl gegen seine Ge­schlechterrolle als auch gegen seine Altersrolle verstößt (Etwa: „In deinem Al­ter spielt man (!) nicht mehr mit Puppen.“)

Sechstes Beispiel: Um mit einem Dreijährigen zu spielen, lässt sich Joshua ebenfalls auf (Barbie-)Puppen ein oder darauf, sich in einen „Hund“ oder ein „Pferd“ zu verwandeln. Das gefällt dann der Mutter nicht.

Siebtes Beispiel: Konrad muss seine Geschichte mit dem Armband auch noch beisteuern. Er hat sein Produkt (stolz?) seinen Eltern gezeigt, aber seine Mutter lehnt es (bzw. das Tragen) für den Jungen ab. Dies zeigt Wirkung, denn er trägt es nicht mehr, obwohl er es noch besitzt („abgegangen“).

Dann verlässt ein erster Schüler die konkrete eigene Lebenswelt. Es gibt ja noch eine andere Wirklichkeit, die der Medien. Im Fernsehen hat er Frauenfuß­ball gesehen. Aber nicht nur das, auch seine Cousine D. spielt Fußball. Diese Tatsachen relativieren den oben genannten Spruch deutlich („Es gibt ja auch Frauen, die Fußball spielen“, Zeile 276). Dem wird noch eines draufgesetzt: „Und das in der ersten Bundesliga schon“ – Bedarf es noch höherer Weihen für die Richtigkeit dieser Erkenntnis?! Bereitwillig greift die Lehrerin den „Ball“ auf: „Ja, das ist genau richtig. Es gibt keinen Grund dafür, besser gesagt, es gibt überhaupt gar keinen Grund zu sagen: Das ist doch nichts für Mädchen und das ist auch nichts für Jungen“ (Zeile 277-279). Damit formuliert die Lehrerin selbst – als Verallgemeinerung einer punktuellen Schüleraussage – die zentrale Erkenntnis (Lehrerin: „Das ist ein ganz wichtiges Stichwort“, Zeile 279) der Unterrichtsstunde. Die Richtung scheint ein-deutig. Der Nachdruck und die Wortwahl („überhaupt gar keinen Grund …“) lassen Zweifel nicht aufkommen. Das Ziel ist anvisiert; jetzt gilt es nur noch den Weg zu ebnen.

Der Unterricht bleibt nicht bei dieser Erkenntnis stehen, sondern wendet unter­schiedliche Perspektiven an, die über Fragen der Lehrerin ins Bewusstsein der Drittklässler gerückt werden. Die nächste Frage ist genetisch angelegt. Lehre­rin: „Was denkt ihr denn, wie so etwas entstanden ist?“ (Zeile 279-280). Die Differenz in den sozialen Normen für Jungen und Mädchen wird auf ihre Entstehungsbedingungen befragt. Zugleich wird aber festgestellt, dass diese Diffe­renz heute teilweise immer noch behauptet wird (siehe Bildergeschichte: Paul und Laura), sie sich zugleich aber auch verändert hat. In den Ausführungen der Lehrerin an dieser Stelle (Zeile 277-293) – einem der wenigen längeren Rede­anteile von ihrer Seite – betont sie den Vergleich von „früher“ und „heute“. Die Schülerinnen und Schüler versuchen, diese doppelte Perspektive der Lehrerin aufzugreifen.

Josephine: „Meine Mutter hat früher immer gern gehäkelt oder gestrickt.“ Lehrerin: „Jaa“ Josephine: „Sie hat mal Topflappen gemacht.“

Der erste Antwortversuch geht aber in eine Richtung, welche die Lehrerin nicht intendiert hat. „Früher“ meint hier: vor wenigen Jahren. Die beschriebenen Tä­tigkeiten entsprechen dem traditionellen Rollenbild, mit dem sich die Schüle­rinnen und Schüler eigentlich auseinandersetzen sollen (s.o.). Aus der Sicht der Schülerin wird hier lediglich eine Erfahrung beschrieben, ohne dass diese in irgendeiner Weise bewertet oder eingeordnet wird. Verfolgt man die Gedankenbewegung dieser Szene, die mit dem von der Lehrerin gezeichneten positi­ven Gegenbild zu „alten Klischees“ beginnt, über den Vergleich von früher und heute zu erfahrungsbezogenen Beispielen der Schülerinnen und Schüler weiter­geht, dann resultiert daraus schließlich für die Kinder der Widerspruch zwi­schen schulischen Normen und ihrer Alltagserfahrung. Was von der Lehrerin nichtkontrovers eingeschätzt wurde, erweist sich für die Kinder als durchaus widersprüchlich und ambivalent.

Quellenangaben:

[1] Auf dem Bild wird dieser Spruch nicht Eltern in den Mund gelegt, sondern einem gleichaltrigen Jungen, der dem Mädchen das Skateboard-Fahren nicht zutraut, und einem älteren Mann, der das Stricken des Jungen nicht versteht. – Die Schulbuchproduktion – die Bildfolge stammt aus einem 1996 veröffentlichten Schulbuch des Cornelsen-Verlages – achtet streng darauf, dass Rollenklischees vermieden und Ausgrenzungen nicht einseitig zu Lasten von Mädchen dargestellt werden. (Wenn man die Perspektive platt umkehrt, könnte man – ideologiekritisch – fragen: Warum sind es gerade zwei männliche Personen, eine junge und eine ältere, die diesen vorurteilsbeladenen Spruch einwerfen?)

[2] Vgl. die klassische Unterscheidung von Inhalts- und Beziehungsaspekten in jeder Kommunikation bei Watzlawick u.a. (1974: 53 ff.).

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