Hinweis – Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Einleitende Bemerkungen

Exemplarisch stelle ich in der Feinanalyse die Erzählungen von zwei Mädchen der 4. und 5. Jahrgangstufe gegenüber, beide thematisieren ihren Misserfolg beim Übertritt in die weiterführende Schule. (Hervorhebungen durch die Autorin).

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Mädchen 4. Jahrgangstufe, Übertritt Grundschule Realschule (Pseudonym Rita) (Interview am Ende der 4. Jahrgangstufe)

Also in ddritten Klasse war mir wichtig, dass ich so gute Noten wie ich (ähm) wie möglich schreib und dass ich und dass Mamä dann au mohl auf mich stolz isch. Und dann hab ich halt immer glernt und glernt…. Und in d’4. Klass, da hot Mamä dann glei gsagt, du gescht au auf d’Realschul, weil mei Schwester isch au auf d’Realschul. Mamä lässt uns zwei net auf’s Gymnasium, obwohl ich an Durchschnitt von 2,2 hab und mer (ähm) mmh kann ja (ähm) mit (ähm), wenn’s schlechter als 2,5 isch, kann man ja nimme auf’s Gymnasium. Und wenn man besser isch, dann kann man ja aufs Gymnasium. Mama hot dann glei gsagt, ich darf it (nicht, d. A.) auf’s Gymnasium, sondern ähm ich muss auf d’Realschule. (Pause). Soscht war eigentlich nix mehr! (P)“

Nachfrage: Wie war das für dich, als deine Mutter diese Entscheidung getroffen hat?

„Als ich, ich hätt scho auf’s Gymnasium wollen, und hab au d’Mamä nomol a bar mal gfrogt, wege d’Lena (Freundin, d. A.) und die isch ja super guat und die geht jetzt auf’s Gymnasium und au wege d’Lena, weil ich möchte gern mit dere zammen bleiben. Dann hab ich halt Mamä no a bar mal gfrogt, ob ich jetzt doch doarf und dann hat Mama halt immer nein gsagt und dann hab ich des halt d’Lena gsagt und die war dann halt au arg enttäuscht. Aber ich geh jetzt ja mit der Nicole auf’s äh d’Realschule. Mmh. (Pause).“

Der Übertritt in das Gymnasium war für Rita das erklärte Ziel der Jahrgangstufe 4. Sie wollte, dass die Mutter stolz auf sie ist. Rita beendet ihre erste Erzählung, nachdem Sie zwei Mal auf die abschlägige Entscheidung ihrer Mutter verwiesen hat. Ihre emotionale Schwierigkeit mit dieser für sie widersprüchlichen Situation macht auch der Wechsel von der Erzählform in die Argumentation deutlich: „obwohl ich an Durchschnitt von 2,2 hab“. Ihre Standhaftigkeit und zugleich Hilflosigkeit in dieser Situation erzählt sie: „d’Mamä nomol a bar mal gfrogt“. Sie kann ihrem Bedürfnis nach sozialer Anerkennung – mit der leistungsstarken Freundin Lena auf das Gymnasium zu gehen – ungerechterweise nicht nachkommen. Sie ist enttäuscht, auch wenn sie sich mit einer neuen Freundin, Nicole, zu trösten versucht.

Nachfrage: Wie hast du dich bei dieser Entscheidung gefühlt?

„Also, ich hab mich eigentlich ganz wohl gfühlt (Wenig begeistert!, d. Interviewerin), weil ähm ich hab /.erseht au zwischet Gymnasium und Realschul gschwankt.“

Auf die Nachfrage hin, widerspricht Rita ihrer Eingangserzählung. Die erlebten Widersprüche scheinen mit der widersprüchlichen Erzählung zurückgenommen zu werden. In der weiteren Erzählung kommt ein unvermittelter Bruch in der Erzähl-thematik: sie wechselt über zu ihrem offensichtlich partiell abweichenden Verhalten:

„… (P) Stell auch nicht so viel (P) uäahm irgendwie in der 4. Klasse, da stell ich auch nix mehr so viel an, weil die Jungen, die petzen immer. … und ich hab dann kein Luscht d‘ Frau Bittner zu erklären, warum ich des gsagt hab. Wie nochher glaubt die mir sowieso nich. (P)….(sie erzählt über Berichte der Schwester über eine strenge Lehrerin, die Rita eventuell im nächstem Schuljahr auf der Realschule bekommt) und ich hab halt Angst, weil ich mach gern mal bissle Späßle ich hab halt dacht, dass ich dann halt glei an Strich kriegt. Also davor hab ich schon Angst – a wenig! (Pause)“

Rita setzt sich durch Abweichung zur Wehr. Ihrem Vorsatz, sich bessern zu wollen, setzt sie die Zweifel der Lehrerin entgegen: „nochher glaubt die mir sowieso nich“. Ihr Handeln sieht sie falsch beurteilt; was wiederum die Entscheidung, sich bessern zu wollen, gefährdet. Auch in Zukunft sieht Rita Schwierigkeiten mit den Lehrern auf sich zukommen, ebenfalls wegen einer vermeintlich falschen Einschätzung ihres eigentlichen Naturells.

Nach nochmaliger Nachfrage nach der Entscheidung auf die Realschule zu gehen argumentiert Rita:

„Mir wars eigentlich egal zwischen Gymnasium oder Realschule, eigentlich eher wollte ich auf d’Realschule, weil viele saget, dass man ufd’dem Gymnasium ähm, eh an Angeber wird und arrogant wird und so. Da wollt ich schon lieber auf d’Realschule, weil ich möchte net so vor ähm als Angeber dastehen. (P)“

Rita findet eine scheinbar positive Wendung der mütterlichen Entscheidung, nicht auf das Gymnasium gehen zu dürfen: Ihre Stärke sieht sie in einer besseren „Moral“ liegen; sie ist kein „Angeber“, nicht arrogant, wie die Gymnasiasten. Rita pendelt in ihrer biografischen Reflexivität in widersprüchlicher Weise zwischen einem neues Ethos, einem neuen Selbstwertempfinden und der erzählten Enttäuschung, den Zweifeln an ihrem Selbstwert, innerer Zerrissenheit und äußerlicher Auffälligkeit. Rita hat alles daran gesetzt, dass ihre Mutter stolz auf sie sein kann, doch blieb ihre Leistung ohne Anerkennung. Eine triangulierende Befragung der Mutter ergab, dass diese ihrem Kind die Schwierigkeiten, die sie im Gymnasium hatte, ersparen möchte. In diesem Konflikt zwischen Mutter und Tochter wird eine Konfliktverschiebung auf die Schüler/Lehrer-Ebene und auf die Ebene der Mitschüler greifbar.

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