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Einleitende Bemerkungen

Der Wechsel von der Grundschule auf ein exklusives Gymnasium war für Burkhard mit der Erwartung verbunden, dort vor allem auf MitschülerInnen zu treffen, mit denen er sich gut versteht. Während seine zwischenzeitlich gefährdeten schulischen Leistungen mittlerweile kein Problem mehr darstellen, hat sich diese Hoffnung jedoch bisher nicht erfüllt.

Ausgehend von einem narrativen Interview mit Burkhard wird dessen Wahrnehmung/ Konstruktion von Differenzen und Gemeinsamkeiten im Klassenverband rekonstruiert und darauf basierend der Funktion von Distinktion und Vergemeinschaftung nachgegangen. Gefragt wird dabei auch danach, ob der Thematisierung von gesellschaftlichen Benachteiligungsstrukturen innerhalb seiner Argumentation ein besonderer Stellenwert zukommt, oder ob es nicht vielmehr andere Differenzen sind, die von ihm als besonders relevant hervorgehoben werden. Mitgeführt wird bei der Analyse die Reflektion der Frage, welche Bedeutung seinem Erleben von Ungerechtigkeiten zukommt.

 

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

  1. Einstieg

Burkhard besucht die elfte Klasse eines exklusiven Gymnasiums mit Aufnahmeprüfung und -gespräch als Zugangsvoraussetzung. Davon hatte er sich beim Übergang von der Grundschule erhofft „wenigstens nen bisschen unter intelligenteren Leuten [zu] sitzen“ (Z. 694/695), d.h. Anschluss an MitschülerInnen zu bekommen, mit denen er sich versteht. Diese Erwartung wurde jedoch enttäuscht. Seine schulischen Leistungen, mit denen er direkt nach dem Schulwechsel Probleme hatte (vgl. Zschach i.E.), haben sich mittlerweile stabilisiert; er bewegt sich nun ohne allzu großen Lernaufwand im 1-2er-Bereich. Schwieriger gestalten sich Burkhards Beziehungen zu seinen MitschülerInnen.

Die vorliegende Falldarstellung ist aus dem Projekt „Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Klassenverband – Sichtweisen junger Erwachsener beim Wechsel schulischer Bildungskontexte (GUK 11)“ hervorgegangen, das im Lehr- und Forschungsbereich Heterogenität der RWTH Aachen seit November 2015 durchgeführt wird. Aus wissenssoziologischen Perspektive und unter Verwendung der auf Ralf Bohnsack zurückgehenden dokumentarischen Methode[1] wird im Rahmen dieses Projekts untersucht, wie Schülerinnen und Schüler in der Sekundarstufe II (an Berufskollegs, Gymnasien und Gesamtschulen) Differenzen wahrnehmen und konstruieren. Bei der Studie handelt es sich um eine Sekundäranalyse, die auf Interviews zurückgreift, die im Rahmen der DFG-Längsschnittstudie „Peergroups und schulische Selektion – Interdependenzen und Bearbeitungsformen“ (Laufzeit: 1. Mai 2005 bis 31. Oktober 2011) im Kontext des Projektverbundes „Mikroprozesse schulischer Selektion bei Kindern und Jugendlichen“ (Laufzeit: 1. April 2005 bis 31. Oktober 2011) am Zentrum für Schul- und Bildungsforschung der Ludwig-Maximilian-Universität München erhoben worden sind. Insgesamt stehen 25 Interviews mit Lernenden der 11. Klasse zur Verfügung.

Im Folgenden wird zunächst die für Burkhard im Interviewkontext typische Form der Darstellung charakterisiert und ein Überblick über die für Burkhard zentralen Themen gegeben. Im Sinne der dokumentarischen Methode ist bei der sich anschließenden genaueren Analyse die Herausarbeitung der positiven und negativen Gegenhorizonte, Orientierungsrahmen und -schemata Burkhards zentral, die mit diesen Themen in Zusammenhang stehen. In der Zusammenfassung werden die unterschiedlichen Rahmen und Schemata dann aufeinander bezogen und abschließend – unter Bezugnahme auf Wolfgang Klafkis Überlegungen zu einer Neukonzeption des Leistungsbegriffs – Perspektiven aufgezeigt, wie durch pädagogische Rahmensetzungen und Interventionen möglicherweise ein harmonischeres Miteinander zwischen Burkhard und seinen MitschülerInnen erreicht werden könnte.

  1. „ich-weeß es klingt hart aber ds-is leider meine Meinung“ – Burkhards Darstellungsmodus und die für ihn zentralen Themen

Auf die Fragen des Interviewers antwortet Burkhard fast durchgängig im Modus der Argumentation, es gibt nur wenige beschreibende oder erzählende Passagen. Er spricht sehr schnell und dadurch teilweise unverständlich. Dabei verwendet er einen eher elaborierten Sprachcode, zahlreiche Sprichwörter und floskelhafte Formulierungen. Insgesamt ist das Interview stark selbstläufig. Durch diese Darstellungsweise wird u.a. deutlich, dass Burkhard sich über sein Leben schon viele Gedanken gemacht hat, er darüber nicht zum ersten Mal reflektiert.

Zentrale Themen, die Burkhard zur Sprache bringt, sind ein von ihm konstatierter ‚Verblödungsprozess‘[2], der insbesondere seine MitschülerInnen (aber nicht nur diese) betrifft, die Begeisterung für seine Hobbys Musik (Gitarre, Spielen in der Band und Aufnahmetechnik) und Informatik, seine Beziehungen zu seinen MitschülerInnen und zu seinen Freunden, sein Anspruch sich eine eigenständige Meinung zu bilden sowie die Schwierigkeit, die damit verbunden ist, eine eigene Meinung zu vertreten.

  1. „je weiter wir in der Schullaufbahn voranschreiten desto dummer werden eigentlich die meisten Antworten“ – Burkhards Einstellungswandel und die Konstatierung eines allgemeinen Verblödungsprozesses

Im Anschluss an den betont offen und allgemein gehaltenen Ausgangsstimulus steigt Burkhard direkt mit dem Thema ein, das er im Laufe des Interviews wiederholt als für sich sehr zentral hervorhebt und das in unterschiedlichen Variationen im Interviewverlauf immer wieder auftaucht: Sein Einstellungswandel[3], der eine Distanzierung von den meisten seiner MitschülerInnen und auch anderen Mitmenschen zur Folge hat und der auf der Erkenntnis basiert, dass seine MitschülerInnen (aber auch die meisten anderen Mitmenschen) einem fortschreitenden ‚Verblödungsprozess‘ unterliegen. Im Satz „je weiter (…) wir ja in der Schullaufbahn voranschreiten desto (…) dummer werden eigentlich die meisten Antworten die hier gegeben werden“ (Z. 17-19) kommt es zu einem bezeichnenden Wechsel vom ‚Wir‘, dass die KlassenkameradInnen noch mit einschließt, zu einer unpersönlich-passiven Formulierung. Später spricht Burkhard dann in der Regel direkter von ‚ihnen‘/‚sie‘ und ‚den anderen‘ als den AkteurInnen, die z.B. für die immer ‚dümmer‘ werdenden Antworten verantwortlich sind. Hier werden pointiert ein positiver und auch ein damit korrespondierender negativer Gegenhorizont (im Sinne Ralf Bohnsacks) zum Ausdruck gemacht: Burkhard ist grundsätzlich an einer Weiterentwicklung seiner Fähigkeiten und dem damit einhergehenden Erhalt von Wertschätzung orientiert – ein erster Orientierungsrahmen. Dieser dokumentiert sich insbesondere in seinen Ausführungen zum kognitiven Rückschritt seiner MitschülerInnen (negativer Gegenhorizont). Im weiteren Verlauf wertet Burkhard die ‚Anderen‘ durch seine Ausdrucksweise stark ab, u.a. als „Gestalten“ (Z. 31), was einem Absprechen von Menschlichkeit und somit Missachtung gleichkommt. Konkret macht Burkhard die „Verdummung“ seiner MitschülerInnen neben den bemängelten kognitiven Leistungen und einer fehlenden eigenen Meinung (insbesondere auch im Schulkontext) und speziell an deren mit starkem Alkoholkonsum verbundenen Partykultur fest. Ein weiterer Kritikpunkt Burkhards gegenüber seinen MitschülerInnen ist deren unreflektierte Übernahme von Inhalten aus von ihm als nicht besonders hochwertig erachteten Medien (RTL, Bild und Fernseh-Serien), die er als ‚Mitschwimmen in der Masse‘ bezeichnet (ein weiterer negativer Gegenhorizont). Er kritisiert außerdem das schnelle Einordnen von Personen in ‚Schubladen‘ (auf der Grundlage von undifferenzierten Bewertungen von Meinungsäußerungen) und schließlich das unkooperative und unhöfliche Verhalten seiner MitschülerInnen sowohl im sozialen Miteinander als auch im Unterrichtskontext. Im Gegensatz dazu ‚versucht‘ Burkhard sich von der ‚Masse‘ und deren kritisiertem Verhalten ‚abzuheben‘, mit der er nicht ‚mitschwimmen‘ möchte (positiver Gegenhorizont). Er ‚versucht‘ insbesondere den Besuch von Partys und den damit verbundenen exzessiven Alkoholkonsum zu vermeiden (negativer Gegenhorizont),[4] trinkt aber schon einmal ein Bier zusammen mit einem Freund (positiver Gegenhorizont). In dieser Gegenüberstellung drückt sich neben der Ablehnung von einem übermäßigen Alkoholkonsum Burkhards Wertschätzung insbesondere ‚tiefgründiger‘ Gesprächen aus, d.h. ernsthafter Kommunikation, die später noch ausgiebiger Thema sein wird (positiver Gegenhorizont). Burkhards Formulierung ‚versuchen‘ macht dabei deutlich, dass z.B. die Abgrenzung gegen den exzessiven Alkoholkonsum ein aktives Bestreben seinerseits darstellt, es sich bei letzterem also um einen negativen Gegenhorizont handelt. Sie lässt darüber hinaus offen, ob ihm das auch tatsächlich immer gelingt.[5] Zwei weitere Orientierungsrahmen deuten sich hier bereits an: Burkhards Ablehnung von Kontrollverlust, bzw. der Orientierungsrahmen „Kontrolle“, und seine Wertschätzung von gelingender Kommunikation, außerdem seine Orientierung am Rahmen „Kompetenz“,[6] den die oben bereits erwähnte Weiterentwicklung impliziert.

  1. „Und natürlich die anderen wieder…“– Die anderen als Abgrenzungsfolie und Beurteilungsinstanz

Den Blick der anderen auf seine Praktiken reflektiert Burkhard über weite Strecken mit: So führt er z.B. aus, dass seine Freizeitaktivitäten Außenstehenden überwiegend als ‚eintönig‘, d.h. langweilig erscheinen mögen und seine inhaltlichen Positionen als ‚hart‘ oder auch ‚krass‘. Generell führt Burkhard die ‚Anderen‘ nicht nur über weite Strecken als eine Folie mit, gegen die er sich abgrenzt, sondern auch als eine Instanz, die sein Verhalten und die von ihm vertretenen Ansichten von außen bewertet. Teilweise betont Burkhard dabei, dass es ihm die Beurteilung durch Außenstehenden egal ist, oder auch, dass seine Gewohnheit, andere ständig zu korrigieren ihm dem ‚Ruf‘ verschafft hat, unangenehm und überheblich zu sein (das ist unten noch ausführlicher Thema). Das Vertreten der eigenen, oftmals Ablehnung provozierenden, Positionen ist für Burkhard allerdings sogar so entscheidend, dass er auch im Unterricht den Lehrenden gegenüber nicht davon Abstand nimmt, und im Zweifelsfall (auch gegen das Anraten der Eltern) bewusst schlechte Noten riskiert: Nachzugeben ginge ihm gegen die ‚Ehre‘. Das Korrigieren der anderen hat er nicht etwa aus Rücksicht auf seinen ‚Ruf‘ mittlerweile zumindest stark reduziert, sondern vielmehr weil er der Ansicht ist, dass es ohnehin ‚nichts bringe‘.

Andererseits haben positive Rückmeldungen (wie z.B. unten dargestellt nach einem Konzert mit seiner Band) für Burkhard eine große Bedeutung und es verletzt ihn offensichtlich, wenn im Schulkontext (z.B. bei der Vorbereitung eines Jubiläums-Schulgottesdienstes durch eine klassenübergreifende Schülergruppe) seine – seiner Ansicht nach guten – Argumente nicht anerkannt werden. Der Fund von satirischen youtube-Videos, durch die Burkhard seine Meinung bestätigt sieht, haben für ihn vor allem deshalb eine so große Bedeutung, weil diese Videos, wie er ausführt, deutlich machen, dass er mit seinen Positionen nicht alleine ist. Obwohl er sich streckenweise sehr dezidiert als Einzelkämpfer inszeniert (so z.B. wenn er, wie oben bereits dargestellt, davon spricht, dass er nicht mit der ‚Masse mitschwimme‘ sondern vielmehr ‚versuche‘ von dieser ‚abzuheben‘), hat kommunikativer Anschluss für ihn also durchaus eine große Relevanz. In diesem Sinne können auch die abschwächenden Formulierungen, die Burkhard fast durchgängig verwendet und die im Gegensatz zu seinen ansonsten eher pauschalen und weitreichenden Aussagen stehen, als Ausdruck davon gelesen werden, dass er fortwährend die Perspektive der anderen mit reflektiert.

Umgekehrt mach Burkhard jedoch wiedererholt deutlich, dass es sich bei den von ihm getroffenen Aussagen um (s)eine persönliche Perspektive handelt. In diesem Sinne lässt sich schließlich auch sein Sprachtick, seine Aussagen ständig durch das Modulierungsverfahren „sag ich ma/l“ zu relativieren (insgesamt 53mal) erklären. So schwächt er sogar die Bedeutung des für ihn so bedeutungsvollen Einstellungswandels gleich zu Beginn bei der Einführung des Themas ab, indem er zwar zum einen davon spricht, dass dieser Wandel die ganze Welt (und darüber hinaus alle seine Lebensbereiche) betreffe, sich seine Einstellung aber lediglich „son bisschen verändert“ habe: „die persönliche Einstellung der ☺ der ganzen Welt sag ich mal gegenüber hat sich son bisschen verändert sag ich mal“ (Z. 8/9).

  1. „früher hat man so den Grundsatz gehabt so man begegnet erstmal generell allen Menschen freundlich“ – Burkhards Prozess der Distanzierung

Burkhards Darstellung des Distanzierungsprozesses in Bezug auf seine MitschülerInnen und weitere Mitmenschen ist ambivalent. Einerseits betont er zwar wiederholt, seine aktive Rolle in diesem Geschehen: Auf der Grundlage von Beobachtungen habe er aktiv rationale Entscheidungen getroffen und damit die Situation in der Hand. Zudem habe seine Enttäuschung über seine Mitmenschen auch einen positiven Aspekt, indem sie ihn nämlich aus einem Zustand der Täuschung befreit habe. Andererseits kann ausgehend von anderen Interviewabschnitten rekonstruiert werden, dass Burkhard sich als dem von ihm geschilderten Geschehen ausgeliefert erlebt.

Insgesamt wird durch die Interpretation rekonstruiert, dass am Beginn des Distanzierungsprozesses Situationen standen, in denen die Kommunikation Burkhards mit seinen Mitmenschen misslang. Dabei handelte es sich überwiegend um Situationen, in denen Burkhard seine kognitiven Kompetenzen gegenüber seinen MitschülerInnen zur Schau stellte: Burkhard kritisierte seine MitschülerInnen und andere Mitmenschen z.B. für Fehler bei der Kommasatzung, die falsche Schreibweise von Fremdworten oder auch die Unterscheidung zwischen den beiden Wörtern ‚das‘ und ‚dass‘. Mit seinen ständigen Verbesserungsversuchen, kommt er bei seinen Peers allerdings nicht gut an. Vielmehr eilt ihm mittlerweile der ‚Ruf‘ voraus, unangenehm zu sein. Auf diesen ‚Ruf‘ ist er aber geradezu stolz, und stellt ihn zumindest nicht infrage. Von seinen Verbesserungsversuchen nimmt Burkhard entsprechend auch nicht etwa aufgrund seines daraus resultierenden Images Abstand, sondern weil er der Ansicht ist, dass diese Versuche ohnehin ‚nichts bringen‘ und er den von ihm konstatierten ‚Verblödungsprozess‘ sowieso nicht aufhalten könne. Er resigniert hier gewissermaßen. Anhand von Burkhards bereits angedeuteter Darstellung des Distanzierungsprozesses als von ihm selbst gesteuert und auf eigenen Entscheidungen basierend – und damit unter seiner Kontrolle – lässt sich ein weiterer oben bereits angedeuteter Orientierungsrahmen rekonstruieren: Seine Kontrollorientierung. Diese wird jedoch dadurch konterkariert, dass Burkhard immer wieder in Darbietungen als ein Geschehen, dem er hilflos ausgesetzt ist, verfällt.

Die Abwertung seiner MitschülerInnen und seine daraus resultierende Ablehnung ihrerseits wird für Burkhard dabei zu einem wichtigen Element zum Erhalt eines positiven Selbstbildes, das allerdings auf der expliziten Ebene der Orientierungsschemata verortet ist (vgl. Schütz 1983). Er habe es gar nicht nötig sich mit ihnen abzugeben. Mit dem Spruch „der Klügere gibt nach“ (Z. 625 ähnlich Z. 1373) deutet Burkhard zudem wiederholt Niederlagen in Diskussionen zu Beweisen der eigenen Überlegenheit um. Burkhard adelt sich geradezu durch die Ablehnung der anderen und bewältigt dadurch seine Erfahrung der Zurückweisung durch die anderen.

Es gibt im Klassenkontext jedoch zumindest eine kleine Anzahl von Mitschülern, mit denen Burkhard sich versteht, worüber er „ganz froh“ (Z. 289) ist: Zu viert sitzen sie in der ersten Reihe. Verbindend ist u.a. die Praktik, andere zu korrigieren („am liebsten würde-de-ganzen-Tach-damit-beschäftigt-(die-anderen-z-korrogieren)“, Z. 593/594). Dabei scheinen sie auch ähnlich leistungsstark zu sein: Sie ‚treiben‘, so Burkhard, gemeinsam ‚den Unterricht voran‘. Und ohne diese Unterstützung – so seine Einschätzung – würde die gesamte Klasse immer noch „beim ersten Text hängen weil se immer noch nich wissen wie se nen vorlesen sollen“ (Z. 595-597). Bei dieser Gruppe um Burkhard handelt es sich – zumindest aus seiner Sicht – also um die insgesamt leistungsstärkste Gruppe im Klassenverband. Allen anderen fehlt es an grundlegenden kognitiven und schulischen Fähigkeiten. Doch lediglich einen dieser Mitschüler bezeichnet Burkhard auch tatsächlich als seinen ‚Freund‘: Er geht mit dieser Bezeichnung im Interview sehr sparsam um, verwendet sie gewissermaßen als besondere Auszeichnung. Die anderen Mitglieder dieser leistungsstarken Gruppe hält Burkhard immerhin für wert, mit ihnen zu sprechen, wie er ausführt. Entscheidend ist hier insbesondere auch die für Burkhard wichtige geteilte Praxis, eine eigene Meinung zu haben. So antwortet Burkhard an einer späteren Stelle im Interview auf die Nachfrage seines Interviewers nach seinen „Freunden“ (Z. 1041), mit denen er in der „ersten Reihe sitzt“ (Z. 1042):

„hmm nee also wie gesagt äh von dem ich schon öfter erzählt hab von dem von dem einen guten Freund der sitzt mitten in der Reihe die anderen das sind eher so das sind die würd ich (nicht) mit zu meinen Freunden zählen aber das sind Leute mit denen ich mit denen ich gut auskomme sag ich mal also die-s-die-s doch definitiv äh verdient haben mit anderen Leuten mal Gespräche zu führen im Gegensatz zu den ganzen anderen Leuten weil die eben auch sich ne eigenen Meinung äh bilden und bilden können und äh das ist immer so ganz ganz wichtig finde ich“ (Z. 1044-1050)

  1. „ich hätte och sagen können ne ja jetzt reichts jetzt kann ich das ein bisschen“ – Kompetenz und Expertentum

Für Burkhards Selbstbild (vgl. Schütz 1983) ist die eigene (insbesondere kognitive) Kompetenz zentral: So erzählt er davon, dass er sich in der Schule ohne allzu großen Lernaufwand im 1-2er Bereich bewegt und gemeinsam mit seinen offensichtlich ebenfalls (kognitiv) leistungsstarken Freunden produktiv zum Unterrichtsgespräch beitrage, dieses ‚vorantreibe‘. Mehr Aufwand in bessere schulische Leistungen zu investieren lehnt er allerdings für sich ab. Im Gegensatz dazu hat er sich im Freizeitkontext auf zwei Gebieten ein gewisses Profi-Können erarbeitet, das über einfache Grundkenntnisse hinausgeht: zum einen im Bereich der Informatik, zum anderen im Bereich Musik. Hier beschränkt sich Burkhards Orientierungsrahmen nicht auf Kompetenz. Stattdessen praktiziert Burkhard hier ein über bloße Kompetenz hinausgehendes Expertentum oder gar Virtuosität.

Am Anfang von seiner Beschäftigung mit dem Bereich Informatik stand Burkhards Wunsch, nicht immer auf die Hilfe seines Vaters angewiesen zu sein. Letzterer hat hier offensichtlich auch gewisse Kenntnisse aufzuweisen und war seinem Sohn beim Einstieg in das Gebiet behilflich. Burkhard kontrastiert sein damaliges eingeschränktes Anfängerwissen bezüglich Computern gegenüber seinem aktuellen Kenntnisstand als eher ‚hobbymäßig‘ (Z. 303), was sein mittlerweile erreichtes Level implizit als weit über das ‚Hobbymäßige‘ hinausgehend charakterisiert. Inzwischen hat er im Computerbereich im Schulkontext bereits verantwortungsvolle Aufgaben übernommen: Er war maßgeblich am Aufbau eines Schulnetzwerkes beteiligt und ist die „erste Adresse“ (Z. 339/340) bei auftretenden Problemen. Darüber hinaus hat er bereits einen bezahlten Programmier-Auftrag einer Firma ausgeführt. Basierend auf der Entscheidung, sich nicht nur mit Computer-Grundkenntnissen zu begnügen, sondern darüber hinaus auch mit dem Programmieren zu beschäftigen, entwickelte sich Burkhards Faszination für das Gebiet Informatik, die dazu führte, dass er ‚weitergemacht‘ hat. Dieses ‚Weitermachen‘ kontrastiert Burkhard explizit mit der Möglichkeit, sich mit Basiswissen zufrieden zu geben: „dass ich auch eben weitergemacht hab (.) ich hätte och sagen können ne ja jetzt reichts jetzt kann ich das ein bisschen“ (Z. 330-331). Burkhard grenzt seine Umgangsweise mit dem Computer zudem durch die Verwendung des wissenschaftlichen Begriffs ‚Informatik‘ insbesondere auch gegenüber dem ‚Zocken‘ ab, wobei er selbst zwar auch hin und wieder einmal ‚zockt‘ aber eben nicht ausschließlich und auch nicht primär. Burkhards technische Ausstattung im Computerbereich scheint im Verlauf der letzten Jahre ebenfalls besser und gewissermaßen professioneller geworden zu sein.

In Bezug auf den zweiten für ihn sehr wichtigen Bereich, die Musik, erzählt Burkhard zwar auch einmal kurz davon, dass er ein gewisses ‚Talent‘ dafür habe, entscheidend sei jedoch gewesen, dass er dieses Talent ‚ausgebaut‘ habe: Seine aktuelle Band hat seine Kompetenz im musikalischen Bereich offensichtlich dann auch direkt anerkannt: Im Gegensatz zu einem anderen Musiker, der vor ihm vorgespielt hat, habe sie ihn sofort ‚genommen‘, weil er so gut war. Seinerseits genießt er es jetzt besonders, dass die anderen Mitglieder der neuen Band ebenfalls schon recht gut spielen: Es sei „natürlich schon geil wenn man [einen] Schlagzeuger hat ders richtig drauf hat der seit acht Jahren spielt oder soo“ (Z. 202-203). Im Gegensatz dazu habe es sich bei den Mitgliedern seiner früheren Band zum Großteil um „Zwangsmusiker“ (Z. 205) gehandelt. In der aktuellen Band sei „einfach ein-Können an dem-Ding-hat das is natürlich schon wesentlich lustiger als wenn man da irgendwie so (.) solche Zwangsmusiker das sitzen hat“ (Z. 204-205).

Der Kontakt mit der neuen Band ist bezeichnenderweise durch einen Aushang zustande gekommen, auf den Burkhard in der Musikbibliothek in Leipzig gestoßen ist. Bereits, dass er dort überhaupt unterwegs war, drückt eine gewisse „Ernsthaftigkeit“ im Rahmen seines Musizierens aus. Ein weiterer Punkt, den Burkhard als entscheidenden Unterschied zwischen der früheren und der aktuellen Band hervorhebt, ist, dass die neue Band nur im absoluten Ausnahmenfall covere – und „eigene Musik, das kann eben nicht jeder“ (Z. 258). Burkhard geht es also auch hier um eine gewisse Virtuosität (als Orientierungsrahmen), die er hier zusammen mit den anderen Bandmitgliedern erreicht, darüber hinaus um die eigene Besonderheit und schließlich seine Authentizität sowie die seiner Freunde (zwei weitere Orientierungsrahmen). Die Band kommt, wie Burkhard unterstreicht, auch bei anderen gut an. Das macht er durch das Erzählen von mehreren Auftritten vor einem größeren Publikum deutlich, auf die in der Zukunft zudem weitere folgen sollen. Darüber hinaus schildert er Situationen, in denen er zusammen mit den anderen Bandmitgliedern positive Rückmeldungen erfahren hat und führt aus, dass diese Rückmeldungen eine wichtige Rolle für sein Selbstbild spielen (Orientierungsrahmen „Anerkennungsrückmeldung“):

„deswegen is das schon (.) doch recht gut wenn och-danachm Auftritt mal Leute ankommen ja hier könnt ihr mal hier Facebookseite ansagen oder MySpace Seite war richtig jut hier schreib mal auf oder sch-gib mal Emailadresse her oder so und dann sieht man dann wirklich äh Leute wie sie dann mal ein Kommentar oder so lassen das es gut is und so das is (.) das is doch ne ungemeine Befriedigung muss ich mal so sagen ☺ das man eben merkt das man doch nich nur (.) umsonst spielt“ (Z. 288-294)

Auch im Bereich des Musik-Machens hat Burkhards technische Ausstattung eine gewisse „Professionalität“ erreicht. So besitzt Burkhard mittlerweile nicht nur insgesamt sieben Gitarren und genießt es, sich (auch beim Alleine-Spielen, nach dem Nachhause-Kommen) jeweils ein passendes Instrument aussuchen zu können. Im Bereich Tontechnik besitzt er inzwischen ebenfalls ein höherwertiges und ausgefeiltes Equipment, das er sukzessive immer weiter ausgebaut und verbessert hat. Dieses aktuelle ausgefeilte Equipment kontrastiert Burkhard mit der einfachen Ausstattung, mit der er begonnen hat. Zusammen verfügen die Bandmitglieder aktuell zudem über einen eigenen Proberaum

Ähnlich wie der wissenschaftliche Begriff ‚Informatik‘ unterstreicht bereits Burkhards Wortwahl bezüglich seines Spielens in der Band seine „Ernsthaftigkeit“ und zudem Kompetenz: Er spricht nicht einfach vom gemeinsamen „Musik machen“, sondern vom ‚musizieren‘. Diese Bezeichnung klingt deutlich distinguierter und konnotiert im Unterschied zu den Formulierungen „Musik machen“ oder auch „üben“ zudem bereits eine gewisse Virtuosität.

Burkhards Orientierungsrahmen der „Kompetenz“ und des „Anerkennungserhalts“ realisiert sich interessanterweise auch in seinem Verhalten im Rahmen der Interviewsituation: Auch hier ist er auf eine optimale Erfüllung der Aufgabe bedacht, indem er wiederholt nachfragt, was der Interviewer genau hören wolle. Er erzählt sogar, dass er einmal damit angefangen habe, sich Notizen zu relevanten Situationen zu machen, um dem Interviewer davon beim nächsten Interview (es handelt sich bereits um Burkhards drittes Interview im Projektkontext) erzählen zu können. Indem er zahlreiche bildungssprachliche Ausdrücke, Fremdworte und kompliziertere Satzgefüge verwendet, erzeugt er Burkhard auch sprachlich einen gewissen Duktus des Expertentums. Dass Burkhard häufig eine Metaperspektive einnimmt lässt sich darüber hinaus als Ausdruck von Distanzierungs- und Kontrollbestrebungen lesen.

  1. „natürlich die die sich zur Oberschicht zählen, die drei Autos vor der Tür stehen haben“ –Sozioökonomische Unterschiede und Meritokratie

Burkhard sind nicht nur seine eigenen Kompetenzen (in bestimmten Bereichen) sehr wichtig, er kritisiert auch scharf seines Erachtens unangemessene Kompetenzanmaßung anderer. Regelrecht empört ist er darüber, dass – seiner Einschätzung nach – finanziell bessergestellte MitschülerInnen, die im schulischen Bereich nicht so viel „leisten“, trotzdem erwarten ebenfalls eine hohe Punktzahl zu erreichen, z.B. aufgrund einer quantitativ hohen Beteiligung am Unterricht. Er hat insbesondere wenig Verständnis dafür, dass sie sich aufgrund der sozioökonomischen Lage ihrer Elternhäuser für etwas ‚Besseres‘ halten und daraus die Berechtigung ableiten, in Diskussionen das letzte Wort zu haben. Darüber hinaus ärgert es Burkhard sehr, dass viele seiner MitschülerInnen ‚aufgeschnappte‘ Meinungen nicht nur ‚herausposaunen‘ sondern auch als wertiger ausgeben, als sie – seiner Ansicht nach – eigentlich sind.

Dass andere nicht nur auf ihr eigenes Leistungsvermögen setzen müssen, weil sie Eltern haben, die aufgrund ihrer gesellschaftlichen Position durch Gespräche mit LehrerInnen etc. auf die Schullaufbahn ihrer Kinder Einfluss nehmen können (d.h. neben dem ökonomischen und kulturellen auch über soziales und symbolisches Kapital verfügen und dieses unterstützend einbringen können – und diese Möglichkeit auch nutzen), empfindet Burkhard als ausgesprochen ungerecht. Im Zusammenhang mit dem Blick in die eigene Zukunft betrachtet er es als nicht fair, dass andere sich z.B. viel weniger Gedanken darüber machen müssen, wie sie ein Studium finanzieren können als er selbst. Für ihn wäre z.B., wie er ausführt, eine Psychologiestudium schlichtweg nicht bezahlbar. Worauf Burkhard zählen kann, sind seine eigene Leistung und seine Kompetenzen – und das ist auch, was seiner Ansicht nach zählen sollte. Er zeigt sich enttäuscht darüber, dass das meritokratisches Versprechen in seinen Augen nicht eingelöst wird. Mit diesen Einstellungen Burkhards (auf der bewussten Ebene der Orientierungsschemata) korrespondiert sein oben bereits eingeführter (unbewusster) Orientierungsrahmen „Kompetenz“.

Im Kontrast zu Burkhards dezidierten Abgrenzungs- und Distinktionsbestrebungen gegenüber den ‚dummen‘ Bessergestellten auf der expliziten Ebene der Orientierungsschemata steht eine kurze fast utopisch wirkenden Sequenz, in der Burkhard überbelegt, dass sich doch eigentlich alle SchülerInnen sehr gut verstehen könnten und er es bedauert, dass dieses fantasierte harmonische Miteinander nicht Realität ist.

„wo ich mir so denke das muss doch eigentlich nich so sein dann können-se einfach alle Freunde sein aber es funktioniert im Endeffekt nich weil (.) die eben der Meinung das se was besseres sind ich sag ma ich könnt natürlich auch so mit ner Einstellung rangehen ich bin was besseres als ihr weil ihr seid blöd oder so mach ich aber nich ich versuch ja wenigstens noch (.) äh (.) sie nich gleich zu beleidigen mit irgendwelchen (.) Sätzen wie eben das genannte Beispiel schon (.) oder im Endeffekt funktionierts nich und das is eben (.) ja man lässt sich auch nich auf das Niveau runter so viel Ehre hat man dann ja noch aber die-s-leider bei den anderen nich vorhanden das sind einfach so Sachen das is so [seufzt] ach das is traurig“ (Z. 680-690)

Aus seiner Sicht liegt die Ursache dafür, dass dieser von ihm vorgestellte friedliche Umgang miteinander nicht funktioniere, alleine bei den anderen und in deren Überheblichkeit aufgrund ihres besseren sozioökonomischen Status. Er sei da ganz anders und sei nicht arrogant, obwohl er insbesondere aufgrund seiner ausgeprägten Kompetenzen durchaus Berechtigung dazu hätte. Diese Sichtweise stellt ihn zwar als moralisch überlegen dar, dafür aber der Situation passiv ausgeliefert. Das Misslingen eines positiven und produktiven Miteinanders beschäftige Burkhard nachhaltig – „eigentlich viel zu viel“ (Z. 587), wie er anmerkt – worin sich ein weiteres Mal seine Sehnsucht nach kommunikativem Anschluss ausdrückt. Sein verbalisiertes Orientierungsschema, nicht überheblich zu sein, steht hier im Kontrast zu seinen Alltagspraktiken und damit einem seiner positiven Gegenhorizonte: Seinen MitschülerInnen und anderen Mitmenschen gegenüber praktiziert Burkhard durchaus einen überheblichen Umgang.

Burkhards zentrales Distinktionskriterium im Klassenverband ist dabei das der (kognitiven) Kompetenz. Neben den Schulleistungen (wie z.B. der Rechtschreibung, der Kommasetzung, mathematischen Kenntnissen und dem Vermögen, sich konstruktiv ins Unterrichtsgespräch einzubringen) spielt für ihn dabei die Fähigkeit, sich eine reflektierte und darüber hinaus auch gut fundierte eigene Meinung zu bilden aber auch schulkonformen Verhalten und ein faires Diskussionsverhalten eine wichtige Rolle. Primär unterscheidet Burkhard nach diesen Gesichtspunkten zwischen sich (sowie den ihm näher stehenden Mitschülern) und den ‚anderen‘. Diese Abgrenzung scheint für Burkhard jedoch damit zusammen zu fallen, dass die anderen finanziell besser gestellt sind und deren Eltern nicht nur über mehr ökonomisches, sondern vor allem auch soziales und symbolisches Kapital verfügen.

„da gibts Leute die schreiben ey halts Maul Junge (.) n-man sich wirklich fragt hm-hat-dr deine Mutter keine Manieren beigebracht s-dann natürlich die die sich zur Oberschicht zählt die dann keene Ahnung drei Autos vor der Tür stehen haben äh dreistöckiges Haus mit fünfhundert Quadratme-und denken-se sind was Besseres das heißt sie dürfen allgemein sich erstmal über die die ihrer Meinung nach unter ihnen stehen (.) äh einfach mal (.) d-dürfen sie beleidigen oder was weiß ich die-s-is ja die ham ja im Prinzip so wie so Recht weil (.) und wenn man dann versucht mal äh zu argumentieren (…) dann-schreiben die eben noch ma ey halts Maul Junge (.) und das schreiben die eben so lange bis-einfach aufhört (.) und die nehmen sich immer raus das letzte Wort zu haben (.)(…) im Endeffekt ham se dann immer Recht (.) weil im Endeffekt äh (.) kenn-se da wieder irgendjemanden un-so un das is das is wie hier wenn die Eltern dann irgendwie Lehrer kennen oder so und dann kriegen die Eltern manchmal Noten besser“ (Z. 650-673)

Eigentlich hatte Burkhard von diesen sozial bessergestellten MitschülerInnen, auf die er durch seinen Wechsel auf ein exklusives Gymnasium getroffen ist, erwartet, dass sie auch kognitiv kompetent seien und sich im Miteinander fair verhalten würden (‚gut erzogen‘):

„vor allem da denk ich das Argument ja warum ich unbedingt aufs Gymnasium wollte erstens bessere Schulbildung und zweitens da gibts nich so viele Assis[7] auf Deutsch weil das war immer so meine Angst so (.) ja kommst jetzt an irgend ne andere Schule und dann hier war immer so Aufnahmetests und da-auf-ma-sch-gedacht hier müsste man doch wenigstens nen bisschen unter intelligenteren Leuten sitzen aber anscheinend funktioniert das auch nich“ (Z. 690-695)

Er hatte sich erhofft, sich mit ihnen auf Basis kognitiver Kompetenz gut mit den neuen MitschülerInnen zu verstehen. Dass diese Hoffnung enttäuscht wurde und Burkhard zudem von seinen MitschülerInnen zurückgewiesen wird (insbesondere dann, wenn er seine kognitiven Kompetenzen ausspielt) wird von ihm als Kränkung erlebt, auf die er mit einem Prozess der Distanzierung reagiert – verbunden mit einer kategorischen Abwertung der anderen.

MitschülerInnen mit kognitiven Beeinträchtigungen werden in Burkhards Ausführungen ebenfalls nur als Kinder von Eltern thematisiert, die finanziell besser ausgestattet sind als seine Familie und darüber hinaus über Einflussmöglichkeiten (d.h. insbesondere soziales und symbolisches Kapital) verfügen, mit denen sie ihre leistungsschwachen Kinder im Schulkontext unterstützen können, sodass sie z.B. die Schule nicht verlassen müssen, obwohl sie, laut Burkhard, eigentlich besser eine Förderschule besuchen sollten. Sie unterlaufen damit ebenfalls das meritokratische Prinzip.[8]:

„wir ham Leute in der Klasse die können nich richtig lesen können die können einfach nich vorlesen da sind se einfach zu blöd für (.) äh sicherlich kann man mal sagen ja ich hab LRS und was was sich sonst-immer alles für Atteste kriegt oder so (.) wobei ich dann wieder ne Gegenfrage stellen könnte warum sie dann an nem Gymnasium äh sind wenns doch irgendwelche Förderschulen geben könnte wo man das eben nen bisschen beheben könnte oder so zum Beispiel haben wir auch wieder (.) äh (.) ja so aus meiner ehemaligen Klasse aber der is-ja jetzt immer noch in der Schule und den schleifen se auch jedes Jahr wieder mit der is auch eigentlich nur hier weil seine Mutter hier an der Schuel Lehrerin is2 (Z. 497-505)

  1. „dass man das doch irgendwie nicht so ganz sinnlos in dieser Gesellschaft ist“ –Freundschaften, Kommunikation und das Bedürfnis, eine sinnvolle Rolle in der Welt einzunehmen

Insgesamt misst Burkhard gelingender Kommunikation einen sehr hohen Wert bei: So schätzt er beim Zusammenspiel in der Band besonders, dass hier mit Kritik offen und produktiv umgegangen werden kann. An den Alkoholexzessen im Rahmen der Partys stört ihn besonders, dass durch sie keine ernsthafte Kommunikation mehr möglich ist. Den aus seiner Sicht reichen MitschülerInnen wirft er vor, dass in den Diskussionen mit ihnen nicht die besseren Argumente, sondern der gesellschaftliche Status entscheidend sei, was eine erfolgreiche Diskussion unmöglich mache. Sehr positiv berichtet er dagegen von stundenlangen Skype-Konferenzen. Eng verbunden mit dem Orientierungsrahmen (gelingende) Kommunikation ist der Orientierungsrahmen (erfolgreiche) Kooperation, der sich ebenfalls anhand des Interview rekonstruieren lässt: Fast begeistert erzählt Burkhard z.B. von einem – mit einer längeren Zugreise verbundenen – Konzertbesuch zusammen mit dem vielleicht besten Freund, und von der gemeinsamen Organisation einer Shisha- und einer LAN-Party zusammen mit mehreren Klassenkameraden. Eine Form der von ihm ansonsten eher abgelehnten Praxis des ‚Zockens‘, die Burkhard als positiv konnotiertes Erlebnis schildert, ist das gemeinsame Bauen von eigenen Welten mit einer nicht näher eingeführten Gruppe von MitspielerInnen in Minecraft, einem im Internet zugänglichen Open-World-Spiel, in dem auch mehrere MitspielerInnen zusammen agieren können. Sowohl die Orientierung an (gelingender) Kommunikation als auch an (produktiver) Kooperation lässt sich schließlich auch anhand von Burkhards bereits oben dargestelltem Verhalten in der Interviewsituation rekonstruieren.

Seinen aktuellen Freunden misst Burkhard nicht nur in der Gegenwart, sondern auch in der antizipierten Zukunft eine hohe Bedeutung zu: Zwar steigt er in das Thema mit dem eigentlich das Gegenteil ausdrückenden Sprichwort „Freunde kommen und gehen“ (Z. 1399) ein, macht dann aber sehr deutlich, dass er durchaus davon ausgeht, dass insbesondere die noch relativ jungen Freundschaften zu den anderen Bandmitgliedern auch nach Abschluss der Schule fortbestehen. Er malt sich dabei sogar unterschiedliche Szenearien aus, wie das konkret aussehen könnte (regelmäßige Treffen, um zusammen Musik zu machen, gemeinsames Studium, evtl. sogar Zusammenleben in einer gemeinsamen WG) und äußert abschließend, dass es „zumindest … schade“ (Z. 1498) wäre (hier schwächt er seine Aussage auf die für ihn typische Weise wieder ab), wenn diese Freundschaften entgegen seinen Erwartungen doch zerbrechen würden. Dass seine Freunde ihn brauchen und er sich seinerseits auf sie verlassen kann sei „eben ne ganz schöne Sache die einem nen bisschen Rückhalt irgendwie“ (Z. 2015/2016) gebe, das seien „immer so Sachen und so ähm die einem so ein bisschen die Bestätigung geben, dass man das man äh doch irgendwie die Person ist die nicht so ganz sinnlos in dieser Gesellschaft irgendwie ist“ (Z. 1009-1011). Diese Schilderungen erinnert an Burkhards Erzählung von positiven Rückmeldungen nach Konzertauftritten und der Bedeutung, die diese für ihn haben. Ihm ist es offensichtlich wichtig, eine subjektiv als sinnvoll empfundene Rolle in der Welt einzunehmen, die er kurz zuvor sehr pauschal abgewertet hat.

  1. „im Prinzip bin ich ja auch nur nen ganz normaler Mensch“ – Erleben der eigenen Besonderheit als Hintergrund für die Thematisierung der eigenen Normalität

U.a. durch seine Betonung, dass seine aktuelle Band nicht covere, was „eben nich jeder“ (Z. 258) könne, hebt Burkhard einen weiteren für ihn wichtigen Orientierungsrahmen hervor, der mit dem sich in das seinen Praxen ausdrückende Expertentum zusammenhängt: Seine eigene ‚Besonderheit‘ und auch die seiner Freunde. Interessanterweise wird das Wort ‚besonders‘ dabei vom Interviewer in‘s Spiel gebracht, allerding mit einem anderen Bezug: Im Nachfrageteil des Interviews hakt der Interviewer nach, indem er danach fragt, ob es etwas gäbe, an das Burkhard sich „besonders gut erinnern“ (Z. 346) könne. Burkhard greift den Begriff „besonders“ auf, deutet ihn aber sofort um bzw. verändert den Bezug, indem er davon spricht, dass sein ‚Alltag‘ “mehr oder weniger monoton(es)“ (Z. 352/353) sei, es darin „nich so viele besondere Situationen“ (Z. 353) gebe und darum nicht „irgendwie erwähnenswert“ (Z. 354) wäre. Im Folgenden greift Burkhard dann jedoch die Frage, ob etwas an seinem Leben ‚besonders‘ sei immer wieder auf und setzt dieser (an vielen Stellen verneinten) Besonderheit die Formulierung etwas sei lediglich ‚Standard‘ (oder es handele sich bei dem gerade Erzählten um ‚Standarddinge‘) entgegen. Burkhards positiver Gegenhorizont (oder sogar Orientierungsrahmen) etwas Besonderes zu sein korrespondiert mit dem oben bereits eingeführten negativen Gegenhorizont ‚in der Masse mitschwimmen‘.

Burkhards Erleben der eigenen ‚Besonderheit‘ drückt sich paradoxerweise indirekt in einer Passage aus, in der er davon spricht, dass sein Leben „nicht so unbedingt was Besonderes“ und er selbst „im Prinzip (…) nur nen ganz ganz normaler Mensch“ neben „sieben Milliarden andere[n]“ sei:

„also sag mal mein Leben ist jetzt nicht so unbedingt was Besonderes sage ich mal ich bin im Prinzip bin ich ja auch nur nen ganz normaler Mensch ich meine gibt ja noch sieben Milliarden andere (.) und (..) also wie gesagt also es läuft sag ich mal einfach ich bin so zufrieden so mit dem wie das alles ist (.)“ (Z. 1316-1319)

Dass Burkhard überhaupt so explizit über die Nicht-Besonderheit seines Lebens und seine ‚Normalität‘ spricht, lässt sich als Ausdruck seines Gefühls der eigenen Besonderheit lesen: Nur vor diesem Hintergrund werden diese Ausführungen nämlich überhaupt notwendig. Und Burkhard schränkt seine Negation der eigenen Besonderheit durch die Formulierungen „nicht so unbedingt“ und „im Prinzip“ auch gleich wieder ein. Im Anschluss an diese ambivalenten Ausführungen spricht Burkhard interessanterweise von seiner Zufriedenheit mit seiner aktuellen Lebenssituation und seinem Leben generell, was angesichts der Ausführungen zum allgemeinen Prozess der Weltverdummung erst einmal erstaunen mag. Auf die Frage des Interviewers nach einer rückblickenden Gesamtbilanz seines Lebens antwortet Burkhard „(entspannt is) eigentlich ne ganz gute Beschreibung so für alles“ (Z. 1298/1299). Entscheidend ist dabei für ihn vor allem, dass er „nicht viel jetzt für die Schule machen muss und trotzdem noch akzeptable Noten hat(ten) (.) was eben nicht bei allen der Fall war“ (Z. 1308-1310). Dass er (anders als manche MitschülerInnen, die er auch hier einmal wieder als Vergleichsfolie mitführt) nicht übermäßig viel Zeit in die Schule investieren muss, ermöglicht es ihm, in andere Bereiche Zeit zu investieren und dort erfolgreich zu sein, wodurch er positive Erlebnisse hat:

„ja wie gesacht ich musiziere relativ viel (.) weil man sich da auch mal ganz mit ausdrücken kann (.) zur-Zeit spiel ich in einer Band wir machen so Metall (Trash)Metall so der-dreher (.) und (.) da kann man doch auch mal ganz gerne seine m-unmut eben Luft lassen wenn man doch mal eben irgendwie so ne (.) son kleines Problemchen wieder mit irgend ner (.) mit irgend ner Sache hat und (.) da kann man es eben auch ma ganz schön in den Texten ausdrücken“ (Z. 156-162)

Burkhard erlebt das Spielen in der Band u.a. als eine Möglichkeit ‚Luft ab zu lassen‘, wenn er Ärger hat und – u.a. durch die gemeinsam verfassten Texte – seine Probleme zu artikulieren, eine Möglichkeit, die andere nicht haben. Dass er – anders als andere – über diese Option ‚abzuschalten‘ verfüge sei möglichweise der Grund dafür, dass er weniger Alkohol trinke als z.B. seine MitschülerInnen.

„und das ist einfach irgendwo was was nicht viele Leute eben haben diese Möglichkeit dass man sich einfach ma (.) ja man kann sich eben nicht nur besaufen auf Deutsch man kann auch einfach mal Musik machen und das ist so (.) was auch glaub ich ein Grund dafür is das ich kaum Alkohol trinke J  weil ich einfach andere Varianten habe um irgendwie mal abzuschalten.“ (Z. 237-242)

Der negative Gegenhorizont, sich mit Alkohol zu berauschen, wird hier erneut mit dem Zusammenspiel in der Band kontrastiert, zwei sehr unterschiedliche Möglichkeiten „irgendwie mal abzuschalten“ (S. 242).

Wiederum ambivalent schildert Burkhard auch seinen Traum, gemeinsam mit seinen Bandkollegen ‚entdeckt‘ und berühmt zu werden:

„und kann auch natürlich sein das es ähmm das es sie sagen das uns das jetzt die Band von also unsere Band jetzt von irgendnem Plattenlabel entdeckt wird und wir jetzt innerhalb von von nem Jahr irgendwie zu ganz berühmten Leuten werden was ich nicht glaube gibt natürlich auch viele die dann sagen ich verlasse mich jetzt auf die Musik aus mir wird irgendwas und das wollte ich in die Ecke wollte ich jetzt auch nicht unbedingt abdriften natürlich wenn sich mal irgendwas ergibt oder so wenn man von der Musik leben kann ist es natürlich schön aber ich ich versteif mich jetzt nicht darauf was ja auch leider viele Leute machen die dann eben sagen ich muss jetzt von der Musik leben anders gehts nicht die dann aber nichts können oder kein Glück haben deswegen wie gesagt erstmal was studieren und dann eben gucken was man berufstechnisch dann machen kann“ (Z 1272-1282)

Er leitet die Passage mit „und kann natürlich auch sein“ ein und schließt sie mit „was ich nicht glaube“ ab. Sich auf diese (unwahrscheinliche) Option ‚einzulassen‘ würde in seinen Augen nämlich ein ‚Abdriften‘ bedeuten, was ihm im Gegensatz zu anderen Leuten nicht passiere. Burkhard bezeichnet diese Möglichkeit als „natürlich schön“ er ‚versteife‘ sich aber nicht darauf. Burkhard betont hier seinen Realitätssinn (ebenfalls ein positiver Gegenhorizont) und dass er pragmatisch, vernünftig und sicherheitsorientiert an seine Berufsplanung herangehe. Etwas später führt er den negativen Gegenhorizont des ‚Abdriftens‘ dann noch einmal genauer aus: Er könne auch Absacken und z.B. durch Drogensucht, auf der Straße landen, eine Entwicklung, die seinem Orientierungsrahmen der Kontrolle widerspräche. Dem steht als positiver Gegenhorizont seine tatsächliche bzw. angestrebte Praxis gegenüber: „vernünftiges Abi machen, studieren dann immer noch mal gucken, was sich da so ergibt“ (Z. 1474).

  1. „wie gesagt es ist eigentlich alles entspannt so Alltag Schulleben alles“

Zusammenfassung

Auf der Ebene der Orientierungsschemata definiert sich Burkhard stark über Abgrenzungen. Diese betreffen nicht nur seine MitschülerInnen, sondern die gesamte Gesellschaft (im Modus eines universellen Weltbezuges), der er eine weitreichende ‚Verblödung‘ attestiert und die er auch ansonsten stark abwertet. Auf der Ebene seiner Orientierungsrahmen dagegen spielen gelingende Kommunikation sowie produktive Kooperation eine wichtige Rolle. Der Orientierungsrahmen der (gelingenden) Kommunikation, für die ein Verzicht auf ein allzu schnelles Einordnen in Schubladen, das Akzeptieren guter Argumente und ein konstruktiver Umgang mit Kritik zentrale Aspekte darstellen, lässt sich u.a. anhand der ‚stundelangen Skype-Konferenzen‘, Burkhards Bevorzugung eines gemeinsamen Glases Bier gegenüber Partys, auf denen durch die starke Alkoholisierung Kommunikation nicht mehr möglich ist und generell der wichtigen Rolle, die gute Gespräche im Rahmen seiner Freundschaften spielen, rekonstruieren. Die Orientierung von Burkhard an (produktiver) Kooperation; d.h. an dem Rahmen, gemeinsam etwas qualitativ ‚Gutes ‘hervorzubringen, lässt sich ebenfalls anhand zahlreicher seiner im Interview dokumentierten Praktiken rekonstruieren: u.a. der Spaß am Zusammenspielen in der neuen Band und die Konzerte mit den daraus hervorgehenden positiven Rückmeldungen, die gemeinsame Konstruktion von Minecraft-Welten und die gemeinsamen Organisation von LAN-Partys, die Begeisterung über den Konzertbesuch mit einem engen Freund, der Stolz darauf, das Schul-Netz ‚hochgezogen‘ zu haben und in diesem Kontext nach wie vor ein geachteter Ansprechpartner zu sein und schließlich das Bestreben ein guter Interviewpartner zu sein, was zugleich einer gelungenen Kommunikation entspricht. Der Orientierungsrahmen der (gelingenden) Kooperation ist mit einem anderen Orientierungsrahmen verknüpft, der oben bereits angesprochen wurde: Wenn möglich, bewegt sich Burkhard im Rahmen seiner Kooperationen auf einem Level, der über das ‚Mäßige‘ hinausgeht, d.h. auf einem möglichst professionellen Niveau des Expertentums oder sogar der Virtuosität. Das lässt sich z.B. anhand des Zusammenspiels in der Band und den von Burkhard übernommenen Aufgaben im Computerbereich rekonstruieren.

Dieser Orientierungsrahmen des Expertentums und der Virtuosität lässt sich als Teil eines umfassenderen Orientierungsrahmens (und dessen extremste Ausprägung) interpretieren: der Kompetenzdarstellung im Sinne des primären Orientierungsrahmens, der für Burkhards Praxen generell eine wichtige Rolle spielt. Im Schulkontext handelt es sich dabei in erster Linie um kognitive Kompetenzen, die allerdings nur teilweise in Zusammenhang mit dem Schulstoff stehen: Burkhard positioniert sich gemeinsam mit drei seiner Klassenkameraden, mit denen er zusammen in der ersten Reihe sitzt, als den anderen MitschülerInnen kognitiv überlegen. Daneben ist für Burkhard die Kompetenz, sich eine eigene Meinung zu bilden, zentral. Als weitere (ebenfalls kognitive) Schwächen seiner MitschülerInnen benennt Burkhard verbreitete Schwierigkeiten mit der Rechtschreibung und der Interpunktion, grundlegende Wissenslücken im Mathematikunterricht und mangelnde Lesekompetenz. Durch seine Praxis der Kompetenzdarstellung vollzieht Burkhard dabei gegenüber den wenigen ihm nahestehenden Mitschülern eine Vergemeinschaftung in wertender Abgrenzung zu allen anderen. Deren fehlendes kognitives Leistungsvermögen, das sich auch in dem unkritischen Umgang mit „den Medien“ äußert, ist Teil des von Burkhard beklagten ‚Verblödungsprozesses‘ und damit, zumindest auf der Ebene der Orientierungsschemata Ursache für seinen Prozess der Distanzierung.

Gegenüber seinen MitschülerInnen und anderen Gleichaltrigen geht Burkhard mit seiner Kompetenz nicht immer diplomatisch um, indem er sie z.B. für Fehler in der Rechtschreibung und Interpunktion kritisiert, was dazu führt, dass er seinerseits zurück gewiesen wird. Insbesondere eilt ihm mittlerweile der Ruf voraus, andere ständig zu korrigieren, eine Praxis, die ihn ebenfalls mit seinen Schulfreunden verbindet.

Während sich Burkhard bei seinen Hobbys ausdrücklich nicht mit einem hobbymäßigen Niveau zufrieden gibt, begnügt er sich hinsichtlich der Schulleistungen mit Noten im 1-2-er-Bereich. Exzellenz und Virtuosität müssen es hier also nicht unbedingt sein, was er pragmatisch damit begründet, noch Zeit genug für seine Hobbys haben zu wollen, also eine selbst gewählten Prioritätensetzung und damit wiederum unter seine Kontrolle, ein weiterer für Burkhard wichtiger Orientierungsrahmen, der unten noch ausführlicher dargestellt werden soll.

Zentral ist die Vergemeinschaftung über die Praxis Kompetenzdarstellung insbesondere auch für den Zusammenhalt mit den anderen Bandmitgliedern. Neben der gemeinsam praktizierten Kompetenz spielt hier auch die erfolgreiche Kooperation – und schließlich auch die gelingende Kommunikation – eine wichtige Rolle: Mit gegenseitiger Kritik kann hier offener und produktiv umgegangen werden

Die Zurückweisungen und die Ablehnung, die Burkhart seitens der – seiner Einschätzung nach reicheren – MitschülerInnen widerfährt, wendet er ins Positive und scheint sich über diese regelrecht zu adeln. Sich von den anderen ‚abzuheben‘ scheint für ihn dabei manchmal fast einen Selbstzweck zu erfüllen. Neben dem Rückhalt durch die Gleichgesinnten im Klassenverband und seine Bandkollegen und dem ostentativen Ausagieren von Kompetenz hilft ihm ein weiterer, oben bereits kurz angesprochener Orientierungsrahmen – nämlich der der Kontrolle – dabei, diese erfahrene Verletzung zu bewältigen: Wie sich an mehreren Interviewabschnitten rekonstruieren lässt, ist es Burkhard wichtig, das Geschehen selbst in der Hand zu haben und auf der Grundlage von Beobachtungen und Überlegungen rationale Entscheidungen getroffen zu haben bzw. zu treffen: Das betrifft insbesondere den in Burkhards Darstellung zentralen Distanzierungsprozess von seinen MitschülerInnen und anderen Mitmenschen, den er u.a. durch die Formulierung nicht einfach ‚in der Masse mit zu schwimmen‘ ebenfalls positiv labelt. Auch die Einnahme einer Metaperspektive (und die fortwährende Mitführung der möglichen Perspektive anderer) kann als eine Praxis zur Ermöglichung von Kontrolle oder zumindest zum Gewinn von Sicherheit gesehen werden. Burkhards Haltung, nach Möglichkeit stets die Kontrolle über das Geschehen zu behalten, korrespondiert mit seinem Gefühl des Ausgeliefertseins, das für sein Erleben zentral ist, das sich anhand anderer Passagen in denen er in die Darstellung des Distanzierungsprozesses als ein Geschehen, dem er hilflos ausgeliefert ist abgleitet.

Dem Orientierungsrahmen Kompetenz und einer zumindest partiellen Weiterentwicklung dieser Kompetenzen hin zum Expertentum oder sogar zur Virtuosität kommt deshalb eine besonders große Rolle zu, weil dieser das Einzige ist, worauf er – so sein Selbstbild – bauen kann, während andere (zusätzlich oder auch stattdessen) auf die Unterstützung ihrer Eltern zählen können. So überlegt er auch, dass er gerne ein Studium absolvieren würde, das auf seinen bereits erworbenen Kompetenzen in den Bereichen Informatik und Tontechnik oder auch seinem musikalischen Können aufbaut, während für ihn ein Psychologiestudium aus Kostengründen überhaupt nicht infrage kommt. Dass viele seiner MitschülerInnen nicht nur auf ihre eigenen Leistungen aufbauen können und dabei nicht nur finanziell besser gestellt sind (und sich z.B. über die Finanzierung eines Studiums keinerlei Gedanken machen müssen) sondern darüber hinaus auch vom kulturellen, sozialen und symbolischen Kapital ihrer Eltern profitieren (wenn diese z.B. Lehrer am Gymnasium ihrer Kinder sind oder eine andere einflussreiche Position einnehmen), empfindet Burkhard als ungerecht: Für ihn stellt das meritokratische Leistungsprinzip einen positiven Bezugsrahmen dar und er ist enttäuscht, wenn das damit verbundene (meritokratische) Leistungsversprechen nicht eingelöst wird, da er dieses als gerecht empfindet und von dem er darüber hinaus potenziell profitiert.

Trotz der Verletzungen, die Burkhard durch die Zurückweisung von Seiten seiner MitschülerInnen erfahren hat, ist die grundsätzliche Haltung, die Burkhard zu seinem Leben einnimmt ‚entspannt‘. Möglich wird Burkhards auf den ersten Blick vielleicht überraschende grundsätzliche Zufriedenheit zum einen durch eine Art „Immunisierung“, zu der ihm seine Selbstdistanzierung vor der ‚verblödenden‘ Welt verhilft, zum anderen aber auch durch den Rückhalt den er seitens seiner wenigen, aber „ausgesuchten“ Freunde, durch seine (unterschiedlich weit ausgebauten) Kompetenzen und die positiven Rückmeldungen, die er sowohl von seinen Freunden als auch aufgrund seiner Kompetenzen bekommt. Dabei ist auffällig, dass er im Schulkontext nicht nur weniger anspruchsvoll ist als im außerschulischen Bereich, sondern sich auch die jeweilige Motivation zu unterscheiden scheint: So ist er bezüglich seiner Kompetenzen im Schulkontext (anders als bei seinen Hobbys) nicht aufgaben- sondern ausschließlich wettbewerbsorientiert (eine Unterscheidung, die Wolfgang Klafki herausgearbeitet hat, vgl. Klafki 1985/1991): Inhalte tauchen hier so gut wie nicht auf. Die erbrachten Leistungen fungieren hier in erster Linie im Rahmen der Distinktion und weniger als Form der Vergemeinschaftung, wobei natürlich beides grundsätzlich immer miteinander zusammenhängt. Im schulischen Kontext begnügt sich Burkhard mit Kompetenz, während es ihm in den außerschulischen Bereichen um Exzellenz geht. Eine große Relevanz spielt dabei auch der Spaß-Faktor, der in Burkhards Freude am Können und an der gelingenden Kooperation zum Tragen kommt (insbesondere beim Zusammenhang mit dem Zusammenspiel in der Band). Wie z.B. Klafki deutlich macht, können Freude und sogar Glück durchaus mit Leistung verbunden sein: „Leistung erfährt ihren Sinn von ihren dialektischen Gegenpolen her – von ihrem Beitrag zur Erhöhung der Qualität des Lebens, von der Erfahrung des Glücks, der Freude des Könnens, der erfüllten Gegenwart und von Spiel her.“ (Klafki 1985/1991, S. 246).

Für Burkhard leistet das Band-Spielen das, was andere in ihren Partybesuchen und im Alkoholkonsum suchen. Es bietet ihm eine Möglichkeit, ‚Luft abzulassen‘, sich zu entspannen und darüber hinaus: sich auszudrücken. Hier stellt sich die Frage, ob in der Schule eine stärkere Aufgabenzentriertheit und weniger Wettbewerbsorientierung nicht nur Burkhards Verhältnis zu den MitschülerInnen verbessern, sondern auch seinen Spaß am Unterricht und letztlich seine Leistungsfähigkeit erhöhen könnte. Entscheidend ist weniger die Frage, ob Burkhard unbedingt zu (noch) besseren Leistungen „angestachelt“ werden muss als die Überlegung, dass das Schulleben für ihn möglicherweise befriedigender wäre, wenn es mehr um eine Freude an den Inhalten ginge, die ja auch für Burkhards weiter reichenden Leistungen im Hobby-Bereich entscheidend sind. Allerdings erscheint es dabei als wenig sinnvoll, seine (durchaus berechtigte) Kritik an ungerechten sozialen Verhältnissen einfach in einer möglichst großen Zufriedenheit aufzulösen oder diese dadurch zu überdecken.

 

Fußnoten:

[1] Zur Methodik, Theorie und Begrifflichkeit Ralf Bohnsacks: Ralf Bohnsack; „Die Milieuanalyse der Praxeologischen Wissenssoziologie“, in: Zeitschrift für Theoretische Soziologie, Sonderband 2014, S. 1645; ders. „Habitus, Norm und Identität“, aus: Werner Helsper, Rolf-Torsten Kramer, Sven Thiersch (Hrsg.): Schülerhabitus: Theoretische und empirische Analysen zum Bourdieuschen Theorem der kulturellen Passung, Wiesbaden 2014; S. 33-55; ders: „Orientierungsschemata, Orientierungsrahmen und Habitus. Elementare Kategorien der Dokumentarischen Methode mit Beispielen aus der Bildungsmilieuforschung“, in: Karin Schittenhelm (Hrsg.): Qualitative Bildungs- und Arbeitsmarktforschung: Grundlagen, Perspektiven, Methode, Wiesbaden 2012, 119-153; ders.: „Differenzerfahrung der Identität und des Habitus“; in: Burkhard Liebsch und Jürgen Straub (Hrsg.): Lebensformen im Widerstreit: Integrations- und Identitätskonflikte in pluralen Gesellschaften, Frankfurt/Main 2003, S. 136-160; ders.: „‘Orientierungsmuster‘ Ein Grundbegriff der qualitativen Sozialforschung“, in Folker Schmidt, Hans Merkens (Hrsg.): Methodische Probleme der empirischen Erziehungswissenschaft. Mit Beiträgen in englischer Sprache, Hohengehren 2001; S. 49-61; ders.: „Adoleszenz, Aktionismus und die Emergenz von Milieus. Eine Ethnografie von Hooligan-Gruppen“, in: Zeitschrift für Sozialisationsforschung 1997/17, S. 3-18; ders.: „Dokumentarische Interpretation von Orientierungsmustern. Verstehen-Interpretieren Typenbildung in wissenssoziologischer Perspektive, in: Michael Meuser, Reinhold Sackmann (Hrsg.): Analyse sozialer Deutungsmuster. Beiträge zur empirischen Wissenssoziologie, S 139-160, ders.: Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden, Leverkusen-Opladen 2014 (9. Auflage, 1. Auflage 1991).

[2] Im Folgenden verwende ich einfache Anführungszeichen ausschließlich dann, wenn ich einzelne Worte Burkhards in meine Formulierungen übernehme. Dabei mache ich nicht weiter kenntlich, wenn sie durch eine andere Flexion oder Konjugation von der von Burkhard verwendeten Form (z.B. 3. Person anstatt 1. Person bei Verben) abweichen oder ich ein Verb oder Adjektiv nominalisiere. Um Verwechslungen vorzubeugen unterscheide ich ansonsten nicht zwischen einfachen und doppelten Anführungszeichen. Handelt es sich bei doppelten Anführungszeichen um Zitate, ist das durch die Angabe der Zeilenzahl ersichtlich.

[3] Burkhard spricht sehr oft von seiner ‚Einstellung‘ und davon, dass sich diese geändert habe. Den Begriff „Einstellungswandel“ verwendet er dagegen selbst nicht. Vgl. Fußnote 2.

[4] So erzählt er auch nicht, dass er generell nicht sondern „generell ungern“ (Z. 77 – Hervorhebung im Original) geht und erzählt darüber hinaus von seinen Eindrücken, die er von Partys, die er also offensichtlich durchaus besucht hat, mitgenommen hat.

[5] Insgesamt verwendet Burkhard das Verb ‚versuchen‘ in diesem Sinne im Verlauf des Interviews über 20mal.

[6] „Kompetenz“ wird hier im Anschluss an Wolfgang Klafkis Kompetenzmodell als Fähigkeit, Fertigkeit und auch Bereitschaft in einem Gebiet Probleme zu lösen verstanden. Der hier verwendete Kompetenzbegriff geht damit deutlich über den im Rahmen der Pisa-Studien verwendeten Kompetenzbegriff hinaus.

[7] Mit „Assis“ sind in diesem

[8] Weibliche MitschülerInnen sowie MitschülerInnen mit Zuwanderungsgeschichte kommen in Burkhards Ausführungen nicht vor.

 

Literaturangaben:

Bohnsack; Ralf: „Die Milieuanalyse der Praxeologischen Wissenssoziologie“, in: Zeitschrift für Theoretische Soziologie, Sonderband 2014, S. 1645

Ders: „Habitus, Norm und Identität“, aus: Werner Helsper, Rolf-Torsten Kramer, Sven Thiersch (Hrsg.): Schülerhabitus: Theoretische und empirische Analysen zum Bourdieuschen Theorem der kulturellen Passung, Wiesbaden 2014; S. 33-55.

Ders.: „Orientierungsschemata, Orientierungsrahmen und Habitus. Elementare Kategorien der Dokumentarischen Methode mit Beispielen aus der Bildungsmilieuforschung“, in: Karin Schittenhelm (Hrsg.): Qualitative Bildungs- und Arbeitsmarktforschung: Grundlagen, Perspektiven, Methode, Wiesbaden 2012, 119-153.

Ders.: „Differenzerfahrung der Identität und des Habitus“; in: Burkhard Liebsch und Jürgen Straub (Hrsg.): Lebensformen im Widerstreit: Integrations- und Identitätskonflikte in pluralen Gesellschaften, Frankfurt/Main 2003, S. 136-160.

Ders.: „‘Orientierungsmuster‘ Ein Grundbegriff der qualitativen Sozialforschung“, in Folker Schmidt, Hans Merkens (Hrsg.): Methodische Probleme der empirischen Erziehungswissenschaft. Mit Beiträgen in englischer Sprache, Hohengehren 2001; S. 49-61.

Ders.: „Adoleszenz, Aktionismus und die Emergenz von Milieus. Eine Ethnografie von Hooligan-Gruppen“, in: Zeitschrift für Sozialisationsforschung 1997/17, S. 3-18.

Ders.: „Dokumentarische Interpretation von Orientierungsmustern. Verstehen-Interpretieren Typenbildung in wissenssoziologischer Perspektive, in: Michael Meuser, Reinhold Sackmann (Hrsg.): Analyse sozialer Deutungsmuster. Beiträge zur empirischen Wissenssoziologie, S 139-160.

Ders.: Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden, Leverkusen-Opladen 2014 (9. Auflage, 1. Auflage 1991).

Klafki, Wolfgang: „Sinn und Unsinn des Leistungsprinzips in der Erziehung“, aus: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik; Weinheim 1985 (5. Auflage 1996), S. 209- 249.

Schütze, Fritz: Biographieforschung und narratives Interview, in: Neue Praxis, 13(3) 1983, S. 283-293. Online unter: http://www.ssoar.info/ssoar/bitstream/handle/document/5314/ssoar-np-1983-3-schutze-biographieforschung_und_narratives_interview.pdf (Zugriff vom 19.12. 2017).

Zschach, Maren: Identitätsbildung von Kindern, Biographische Arbeit von Zehn- bis Elfjähriger zwischen Krisenbewältigung und behütetem Aufwachsen (im Erscheinen.)

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