Dieser Fall basiert auf Material aus den INTAKT-Daten. Die kompletten Datensätze können zu Forschungszwecken über das Online-Fallarchiv Schulpädagogik angefordert werden. Mehr Informationen finden Sie unter http://www.fallarchiv.uni-kassel.de/projektdaten-intakt/intakt-informationen/.

Einleitende Bemerkungen

In diesem Aufsatz wird gezeigt, wie häufig und auf welche Art und Weise Pädagogen im inklusiven Unterricht und im Unterricht an Förderschulen während eines Beobachtungszeitraums von 123 Unterrichtsstunden an 9 Schulen ihre Schülerinnen und Schüler anerkennend und wertschätzend, aber auch ablehnend und verletzend behandelten. Anhand von qualitativen Szeneninterpretationen werden Beispiele für gelingende und problematische Interaktionsqualitäten erläutert. Da Lernen über gute Beziehungen unter den Personen und zum Lerngegenstand gelingen kann, ist die Professionalisierung der Pädagogen in diesem Zusammenhang an allen hier untersuchten Schultypen der Förder-, Ober- und Grundschule notwendig. Der Beitrag bietet Einblicke in einzelne Unterrichtssituationen, er lässt wegen der Vielzahl der erhobenen Feldvignetten Vermutungen über Interaktionsqualitäten in Schulformen zu, aber er enthält keine Datenbasis für schulformbezogene Verallgemeinerungen.

 

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Im Folgenden wird ein Einblick in eine exemplarische Auswahl von fünf anerkennenden, fünf verletzenden und einer ambivalenten Feldvignette ermöglicht. Dieser soll zeigen, dass einige Lehrkräfte eine wertschätzende Interaktionsqualität im inklusiven Lernkontext selbstverständlich und hervorragend umsetzen, aber auch, welch großen Schwierigkeiten andere Lehrer/Innen mit dieser Herausforderung haben. Die Szeneninterpretationen ermöglichen einen praktischen Einblick und ein konkretes Lernen als Handlungswissen.

Die Interpretation geschieht in mehreren Schritten: Zunächst wird die Szene in den Unterrichtskontext kurz eingeordnet und beschrieben. Es folgt eine Analyse der Feldvignetten aus verschiedenen Perspektiven: der des betroffenen Kindes/der betroffenen Kinder, der der Lehrkraft und der der anderen Schüler/Innen.

Untersuchung anerkennender Interaktionsszenen

  1. Angebot persönlicher Unterstützung des Kindes in schwierigen Lebensphasen

Die erste Interaktionsszene wurde an einer integrativen Gemeinschaftsschule im jahrgangsübergreifenden Mathematikunterricht der ersten und zweiten Klasse beobachtet.

Die Lehrkraft beobachtet ihre Schüler sehr genau und hinterfragt Ablenkungen vom Lernen u.a. mit äußerlichen Bedingungen des Lernens. Auf diese Weise unterstellt sie dem Kind keine Unlust oder Verweigerungshaltung, sondern ist daran interessiert, die Lernumgebung störungsfrei und lernförderlich zu gestalten. Im weiteren Gesprächsverlauf zeigt die Lehrerin kontinuierliches Bemühen um eine angemessene Lernsituation für das Kind, indem sie nach seinem Wohlbefinden fragt. Als das Kind offen gesteht, dass es ihm nicht gut geht, bietet die Lehrerin Trost, kommentiert freundlich und gesteht ihm Körperkontakt zu, falls der Junge diesen wünscht. Das Kind lehnt diesen jedoch ab, was die Lehrkraft mit respektvoller Distanz und ohne Wertung akzeptiert.

Der Junge ist in seinem Lernen gehemmt, da ihn andere Dinge vermutlich psychischer Natur beschäftigen. Durch das Verhalten seiner Lehrerin werden ihm Vertrauen in seine Fähigkeiten, Zuneigung und Wertschätzung zuteil, was sich förderlich auf seine Lernmotivation und -einstellung auswirken kann. Das Kind realisiert, dass es auch mit seinen Schwierigkeiten einen Ansprechpartner in der Lehrerin finden kann, wenn es dazu bereit ist.

Die anderen Schüler, die die Situation vermutlich teilweise beobachten, lernen, dass die Lehrerin sich um jeden einzelnen von ihnen bemüht und sie zu ihr Vertrauen aufbauen können.

2. Anerkennung individueller Leistungsfortschritte und Anleitung zu sozialer Anteilnahme daran

Die nachfolgende Interaktionsszene wurde in derselben Schule und Klasse wie die vorangegangene beobachtet. Die Feldvignette wurde im fächerverbindenden Unterricht Deutsch und Kunst aufgenommen.

Die Szene zeigt einen Ausschnitt individuellen Lernens in der Grundschule. Jedes Kind bearbeitet seinem persönlichen Leistungsstand entsprechend Themen und Aufgaben und erhält daraufhin individuelle Rückmeldungen. Bei positiven Entwicklungen nehmen die Klassenkameraden Anteil daran und geben ebenfalls motivierend Anerkennung. Beim inklusiven Lernen ist es unerlässlich, dass jedes Kind sein eigenes Lerntempo verfolgt und Raum für individuelles Lernen sowie Rückmeldungen diesbezüglich gegeben wird. Die Lehrkraft in der vorliegenden Feldvignette schafft eine Wertschätzung der Leistung der beiden Kinder durch einen geeigneten Rahmen hinsichtlich der Lernatmosphäre und gibt positives Feedback.

Die beiden Jungen wachsen vermutlich in ihrem Selbstvertrauen und erhalten Motivation durch das Lob der Lehrkraft und der Anerkennung durch ihre Mitschüler. Dies ist förderlich für das weitere Lernen. Sie verstehen, dass Leistungen positiv bewertet werden und jeder individuell seine Fortschritte erzielt.

Die anderen Kinder werden zur sozialen Anteilnahme angeleitet und freuen sich mit den beiden Jungen. Sie lernen, dass gute Leistungen Anerkennung von der Lehrkraft und im Gruppenkontext erhalten.

3. Individuelles Leistungsfeedback und Leistungsmotivation

Die Feldvignette wurde im jahrgangsübergreifenden Lernbüro-Unterricht der Klassen 7-9 an einer privaten Gemeinschaftsschule beobachtet.

Diese Szene ähnelt der vorangegangenen insoweit, dass beide individuelle Leistungsfortschritte und ein damit verbundenes Feedback der Lehrkraft aufzeigen. Unterschiede liegen darin, dass in der vorliegenden Feldvignette eine Szene in der Sekundarstufe beobachtet wurde und die Entwicklung in einem persönlichen Lehrer-Schüler-Gespräch gemeinsam erörtert wird. Auf diese Weise lernt der Jugendliche, sich selbst einzuschätzen. Eine soziale Anerkennung durch die Klassenkameraden findet dabei nicht statt. Die Lehrerin ermutigt den Jungen zu einer realistischen Selbsteinschätzung und motiviert ihn, positiv zu denken. Die Lehrkraft nimmt sich dem Kind an, wenn es auf sie zukommt.

Das Kind versteht, dass es die Lehrkraft jederzeit ansprechen und mit ihr über die eigenen Entwicklungen ins Gespräch kommen kann. Es erfährt motivationalen Zuspruch, sodass die nächsten Lernschritte gegangen werden können.

4. Berücksichtigung von Schülerbedürfnissen und Schaffung einer angenehmen Lernatmosphäre

Die folgende Szene wurde an einer inklusiv unterrichtenden Oberschule beobachtet. Es handelt sich um Musikunterricht in einer zehnten Klasse.

Diese Musikstunde wurde am Nachmittag beobachtet. Die Lehrkraft anerkennt ihre Schüler, indem sie ihnen eine entspannende Unterrichtsphase bietet, in der sie gleichzeitig Input – nämlich Musik – für die folgenden Unterrichtsprozesse erhalten. Die Lehrerin formuliert kurze und klare Ansagen. Zudem gestattet sie, dass einige Schüler trotz der Aufforderung, nur zuzuhören, mitsingen.

Die Schüler nehmen die Möglichkeit der Entspannung scheinbar dankbar an und folgen dieser Anweisung. Auf diese Weise schöpfen sie vermutlich neue Kraft für nachfolgende Lernprozesse und verstehen, dass die Lehrkraft sich gut in sie hineinversetzen kann und den Unterricht ihren Bedürfnissen und Kompetenzen anpasst.

5. Heraushebung besonderer Lernfortschritte von Integrationskindern

Die folgende Feldvignette wurde an einer Förderschule für Hören und Sprache im jahrgangsübergreifenden, integrativen Unterricht der Klassen 1 und 2 beobachtet.

Die Lehrkraft stellt in dieser Szene die Leistungen aber auch den Mut eines Kindes, welches starke Einschränkungen im Bereich Hören und Sprache hat, in den Mittelpunkt des Klassengesprächs. Obwohl in den vorangegangenen Protokollen in dieser Klasse ein sehr schwieriges Verhältnis zwischen der Lehrkraft und der Schülerin beobachtet werden musste, gelingt es der Lehrerin in dieser Szene ihr große Anerkennung und Lob zu zollen. Sie lobt das Kind gemäß dessen Kompetenzen und sensibilisiert auch die Klassenkameraden für diese Leistungen.

Das Mädchen erfährt, dass gute Leistungen und Leistungsbereitschaft zu Anerkennung seitens der Lehrkraft führen können. Das Lob vor der gesamten Klasse stärkt sie sicherlich in ihrem Selbstbewusstsein, ist förderlich für ihre Persönlichkeitsentwicklung und motiviert vermutlich für weitere Lernprozesse.

Die anderen Kinder bekommen ein Gespür dafür vermittelt, dass die Kinder gemäß ihrer individuellen Entwicklungen Anerkennung bekommen und werden dafür sensibilisiert.

Untersuchung verletzender Interaktionsszenen

  1. Aggressiver Körperkontakt mit einem Integrationskind

Die erste das Kind verletzende Interaktionsszene wurde an einer integrativen Gemeinschaftsschule im jahrgangsübergreifenden Musikunterricht der ersten und zweiten Klasse beobachtet.

Die Lehrkraft möchte mit den Schülern tanzen, was aufgrund der besonderen Aufgabe der Bewegung, was nicht sehr häufig im Schulalltag stattfindet, besondere Disziplin und Regeln braucht. Anscheinend ist die Klasse etwas unruhig, was die Lehrerin nervt und an ihre persönlichen Grenzen bringt. Aus diesem Grund scheint sie auch heftig zu reagieren, als ihr ein Schüler aus nicht ersichtlichen Gründen auffällt. Bevor sie in die verbale Kommunikation mit ihm tritt, geht sie ihn physisch aggressiv an, was sichtlich sowohl das Kind, die Mitschüler als auch den Beobachter erschreckt. Das forsche Angreifen des Kindes und das folgende Schütteln sind aggressive Körperkontakte, die entgegen jeglichen sinnvollen, den Menschen- und Kinderrechten entsprechenden Verhaltens stehen und pädagogisch verwerflich sind.

Der Junge lernt, dass jede Regelabweichung beim Tanzen zu aggressiven Lehrerverhalten ihm gegenüber führen kann und spürt dies auch deutlich. Die Freude und die Harmonie, welche Musik und Tanzen mit sich bringen sollen, werden durch dieses Lehrerverhalten zerstört. Das Kind entwickelt womöglich eine Abneigung gegen diese musikalische Aktivität.

Die anderen Kinder realisieren, dass die Lehrkraft überraschend aggressiv gegenüber Schülern vorgeht. Das stille und verunsicherte Verhalten der übrigen Kinder zeigt, dass sie vermutlich verwirrt und ängstlich sind.

  1. Überforderung der Lehrkraft und Beschimpfungen der Schüler

Die nachfolgende Feldvignette wurde an einer privaten Montessori-Oberschule im Musikunterricht der Klasse 8 beobachtet.

Die Lehrerin möchte mit der Klasse ein Rhythmusdiktat schreiben. Allerdings liegt in der Gruppe eine große Unruhe vor, sodass das Vorhaben der Lehrkraft nicht gelingt. Sie greift sich einen Jungen heraus und wirft ihm vor, dass er dem Unterrichtsgeschehen nicht folge. Diesen Vorwurf verbindet sie mit einer Bloßstellung des Schülers („Du machst nur Müll!“). Mit diesem Kommentar agiert die Lehrerin nicht mehr auf fachlicher Basis. Es lässt sich Überforderung vermuten, besonders als der zweite Schüler anmerkt, dass er schuld sei. Die Musiklehrerin möchte die Schuldfrage anscheinend nicht klären und fordert wiederholt Ruhe. Ihr Vorgehen wirkt aufgrund der wiederholten Aufforderung nach Ruhe, der keiner Folge zu leisten scheint, verzweifelt. Sie bricht das Rhythmusdiktat ab. Die Verzweiflung über ihre Wirkungslosigkeit und die Unruhe in der Klasse sind deutlich. Die Musiklehrerin setzt den Schülern vermutlich keine klaren Grenzen und geht auf Fehlverhalten bei Regelverstößen in dieser Szene nicht ein. Es ist anzunehmen, dass sie dadurch bei den Kindern unglaubwürdig wirkt. Die Stunde ist weit vorangeschritten und die Lehrerin scheint am Ende ihrer Nerven zu sein, was ihre Ausfälligkeit erklären, aber nicht legitimieren kann. Auf die Gründe für die Unruhe geht sie nicht ein.

Die Schüler nehmen die Musiklehrerin scheinbar nicht ernst. Es gelingt ihnen durch Unruhe das Rhythmusdiktat zunächst lange hinauszuzögern und schließlich abbrechen zu lassen. Sie könnten in dieser Situation lernen, dass sie durch ihre Unruhe den Unterrichtsverlauf beeinflussen können. Scheinbar wissen die Schüler, dass die Ermahnungen der Musiklehrerin keinerlei Konsequenzen nach sich ziehen. Einen Grund zur Leistungserbringung sehen sie anscheinend nicht und lärmen chaotisch.

  1. Ironisches Verhalten der Lehrkraft im inklusiven Lernkontext

Die Szene wurde an einer integrativ unterrichtenden Oberschule im Englischunterricht der Klasse 8 beobachtet.

Die Feldvignette gibt Einblick in ironisches Lehrerverhalten, welches im vorliegenden Datenmaterial mehrfach vorgefunden wurde. Das Aufdecken von Ironie ist Schülern und im besonderen Fokus inklusiv beschulten Schülern oftmals nicht möglich. Ihnen fehlt die nötige Erfahrung damit oder auch das nötige Verständnis dafür. Im vorliegenden Fall ist die Ironie besonders verletzend, da die Lehrkraft das aggressive Verhalten der Schüler gegeneinander befürwortet und dieses sogar noch bestärkt. Ihre Reaktion ist unangemessen. Statt mit den Schülern in ein kurzes Gespräch bezüglich ihres Verhaltens zu treten, sie an Regeln, Grenzen und Konsequenzen zu erinnern und sie sinnvoll zu fördern, sodass sie nicht auf andere Gedanken kommen, erteilt sie eine destruktive Anweisung.

Die Schüler lernen vermutlich, dass ihre Mutprobe von der Lehrkraft scherzhaft aufgefasst wird und sie dieses Verhalten für die Pause sogar befürwortet. Sinnvolle Kommunikation über ein angemessenes Schülerverhalten findet nicht statt.

Die übrigen Kinder könnten verstehen, dass sie sich in den Pausen notfalls auch aggressiv gegeneinander austoben sollen.

  1. Verbale Missachtung von Schülern im inklusiven Lernkontext

Die folgende Feldvignette wurde an derselben Schule im Englischunterricht der Klasse 9 aufgenommen.

Die Lehrkraft scheint das Essen eines Integrationskindes nicht bemerkt zu haben und wird darauf von einem anderen Schüler hingewiesen. Statt diesem Hinweis mit einer konstruktiven Anweisung und einer eventuellen kurzen Thematisierung von angemessenen Schülerverhalten anzuschließen, kommentiert sie die Szene destruktiv und etikettiert das Integrationskind missachtend. Sie zeigt in ihrem Kommentar auf, dass der Junge keinen aus ihrer Sicht sinnvollen Beitrag für das Lernen und den Unterricht leistet und bewertet sein Essen als einzig produktiven Beitrag. Vielleicht möchte sie auch lustig wirken, was jedoch auf Kosten des missachteten Kindes als völlig inakzeptabel einzuschätzen ist.

Der Junge fühlt sich in dieser Situation vermutlich diskriminiert. Obgleich das Essen im Unterricht nicht den Regeln des Lernens entspricht, muss ein solcher Regelverstoß von der Lehrkraft in anderer Art und Weise kommentiert werden, als es in dieser Szene geschieht. Das Kind wird in seiner Persönlichkeit völlig entwertet, was für dessen Entwicklung nicht förderlich ist.

Der Mitschüler, der den Jungen bei der Lehrerin anzeigt, und seine Klassenkameraden billigen die Missachtung des Jungen durch die Lehrkraft. Das Lächeln scheint zu zeigen, dass der Junge sich sogar über den Kommentar der Lehrerin amüsiert, um damit seine Verlegenheit zu überspielen. Ein angemessenes Gerechtigkeitsempfinden wird auf diese Weise nicht entwickelt.

Die Untersuchung der Szene zeigt, wie eine Diskriminierungen durch die Lehrkraft im inklusiven Unterricht auftritt, und dass sie für die Persönlichkeitsentwicklung des betroffenen Kindes und für den Zusammenhalt im kollegialen Lernen der Klasse nicht förderlich ist.

  1. Fehlendes Einfühlungsvermögen in das Denken und Fühlen des Integrationskindes durch die Lehrkraft

Die folgende Feldvignette wurde an einer Förderschule für Hören und Sprache im jahrgangsübergreifenden, integrativen Unterricht der Klassen 1 und 2 beobachtet.

Die Lehrkraft schränkt in dieser Szene die Freiheit ihrer Schüler durch das Abschließen des Unterrichtsraumes und durch das Verbot, nicht raus gehen zu dürfen, massiv ein. Besonders deutlich wird dies, als das Mädchen schreit und gegen die Tür trommelt. Dieser Hilferuf des Kindes wird jedoch nicht wahrgenommen und von der Lehrerin lediglich abwertend kommentiert. Dabei fühlt sie sich nicht in die Gedanken- und Gefühlswelt des Kindes ein. Pädagogisch falsch und übergriffig ist auch die Wegnahme der Stifte durch die Lehrkraft. Sie erklärt und begründet diese Entscheidung dem Kind nicht, sondern kommentiert den Protest des Mädchens wiederum abwertend. Dabei etikettiert sie das Mädchen als Weinkind und nicht als Schulkind, wenn es sich so verhalte. Das darauffolgende Tragen an den Armen zurück in den Raum muss ebenfalls als unzulässig eingeschätzt werden. Die Lehrkraft erklärt dem Mädchen nicht, was sie aus welchen Gründen machen soll, sondern überwältigt sie durch das Mitnehmen.

Das Mädchen ist hilflos der Lehrkraft ausgeliefert und realisiert dies auch. Sie lernt, dass Erwachsene sich ihrer bemächtigen, damit sie deren Willen folgt. Für ihre Entwicklung sind die Beleidigungen als Weinkind und Böckchen nicht förderlich und helfen dem Mädchen auch nicht, die Situation und das Verhalten der Lehrkraft sowie mögliche Regeln zu verstehen und einzuhalten. Das laute Schreien des Kindes ist als Hilferuf zu werten, doch dieser Ruf bleibt ungehört.

Inwieweit Klassenkameraden diese Szene beobachten, ist unklar. Es ist jedoch davon auszugehen, dass einige Kinder das Schreien des Mädchens bemerken. Doch anscheinend hinterfragt kein Kind das Verhalten der Lehrkraft oder ist mutig genug, um einzuschreiten und das Unrecht zu erkennen.

Untersuchung einer ambivalenten Interaktionsszene

 Die folgende ambivalente Interaktionsszene wurde an einer staatlichen Oberschule im Englischunterricht der Klasse 10 beobachtet.

Diese Feldvignette zeigt ein Lehrerverhalten, das vermutlich lustig sein soll, zugleich aber auch als Diskriminierung aufgefasst werden kann. Der Ausdruck muss als abschätzig kategorisiert werden, was die Schüler jedoch nicht sichtlich verletzt. Daher ist diese Szene als amivalent bewertet wurden. Der Kommentar der Lehrkraft erzielt die erwünschte Wirkung, nämlich Ruhe. Die rhetorische Frage der Lehrkraft wird durch ein ruhigeres Lernverhalten der Gruppe beantwortet.

Die Schüler einer zehnten Klasse werden in dieser Szene als Kindergartengruppe tituliert, was vermutlich ihrem lauten Verhalten zugeschrieben werden muss. Der leicht abwertende Kommentar scheint die Jugendlichen an die Lautstärkeregel zu erinnern, sodass sie sich angemessener verhalten.

Die beobachtenden Schüler scheinen ruhiger als die angesprochene Schülergruppe zu arbeiten. Sie werden nicht ermahnt und zeigen auch keine nennenswerte Reaktion auf den Kommentar der Lehrkraft.

Fazit aus den qualitativen Szenenanalysen

Die Szenenanalysen zeigen, wie wichtig Einfühlungsvermögen und sensibles Vorgehen in der Lehrer-Schüler-Interaktion als grundlegende pädagogische Qualitäten sind. Dies scheint für alle pädagogischen Interaktionen wesentlich und im inklusiven Kontext von großer Bedeutung, da eine angenehme Lernatmosphäre und Lernen ohne Angst in diesem Zusammenhang große Herausforderungen an die Lehrkräfte darstellen. Desweiteren wird deutlich, wie wichtig Anerkennung individueller Leistungen im inklusiven Unterricht ist und wie förderlich dies für die Persönlichkeitsentwicklung jedes Menschen ist. Lehrkräfte müssen dazu einen geeigneten Rahmen schaffen, individuell rückmelden und zu sozialer Anteilnahme anleiten. Die Untersuchung zeigt auch, dass ein sehr individueller und vertrauensvoller Umgang zwischen Lehrer und Schüler für einen inklusiven Unterricht wesentlich ist. Zudem muss inklusiver Unterricht an die Lerngruppe angepasst werden, worauf sich die Lehrkraft trotz voriger Unterrichtsplanung einlassen muss. Damit wertschätzt sie die Lerngruppe und jeden einzelnen Schüler als sich eigenständig entwickelnde Persönlichkeiten.

Doch auf der anderen Seite deckt die Untersuchung auch Szenen auf, die zeigen, dass Lehrkräfte manchmal unüberlegt und körperlich ausfallend mit ihren Schülern umgehen, was aufgrund von Überforderung o.ä. vielleicht erklärbar, aber keinesfalls legitimierbar ist. In verletzenden Interaktionsszenen wurde immer wieder deutlich, wie wichtig es ist, das soziale Miteinander durch die Lehrkraft in klaren und sinnvollen Regeln, Grenzen und konstruktiven Anweisungen anzuregen. Ironie, die teilweise auch noch Gleichgültigkeit gegenüber schmerzlichen Verletzungen signalisiert, ist dafür kein geeignetes Mittel, da dies die Klarheit der Aussagen und konstruktive Hinweise nicht zulässt. Beobachtete Diskriminierungen durch die Lehrkraft im inklusiven Unterricht sind für die Persönlichkeitsentwicklung des betroffenen Kindes und für den Zusammenhalt im kollegialen Lernen der Klasse als nicht förderlich einzuschätzen. Lehrer sollten hierfür über Handlungsalternativen verfügen und einfühlsam mit ihren Schülern interagieren. Darüber hinaus wurden auch Szenen beobachtet, in denen Lehrkräfte Kinder körperlich angehen, nicht angemessen mit ihnen sprechen und sie ihrer Freiheit berauben. Sinnvolle Kommunikation ist auf einer solchen Ebene nicht mehr möglich. Solche beobachteten Szenen sind alarmierend. Sie zeigen wie wichtig eine Sensibilisierung sowie Fortbildung und Reflexion der Pädagogen sind.

Die Untersuchung konnte zeigen, dass  pädagogisches Verhalten manchmal uneindeutig ist. Ambivalente Interaktionen sind für Schüler oftmals schwer einzuordnen. Die schwierige Einordnung solchen Lehrerverhaltens erschwert es den Schülern, Vertrauen und Sicherheit in das Lehrer-Schüler-Verhältnis zu gewinnen, was für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung förderlich wäre.

Der Einblick in die Feldvignetten zeigt, wie alltäglich anerkennend Lehrkräfte im inklusiven Lernkontext handeln, aber auch, wie Schüler immer wieder von verletzenden Interaktionen betroffen sind. Einige Szenen sind aufgrund ambivalenten Lehrerhandelns auch schwierig für Beobachter und Betroffene einzuordnen und ebenfalls nicht förderlich für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung des Kindes. Häufiges missachtendes Lehrerverhalten wirkt sich, wie beobachtet werden konnte, negativ auf die Lernatmosphäre für die gesamte Klasse aus und beeinflusst damit alle Kinder ungünstig. Beobachtet werden konnte zudem, dass die Interaktionsqualität in keinem eindeutigen Zusammenhang mit dem Schülergeschlecht, dem Interaktionsanlass oder der praktizierten Unterrichtsform steht. Vielmehr ist es stark von der Lehrkraft und ihrer Einstellung zu jedem einzelnen Kind und dessen Lernen abhängig, wie sich ihre Beziehung und damit die Interaktionen mit dem Schüler gestalten. Das Geschlecht der Kinder konnte in den Protokollen stets erhoben werden, aber der Status als behindert/nicht behindert konnte nicht systematisch ermittelt werden, darum sind zum Umgang der Lehrpersonen mit Kindern unterschiedlicher Befähigungen keine Auswertungen aller Szenen möglich. Möglich sind hingegen die in diesem Abschnitt vorgelegten Interpretationen einzelner Szenen, bei denen aus der Feldvignette selbst hervorgeht, ob ein Kind eine Beeinträchtigung aufweist.

 

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