Hinweis – Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Der Sequenzanalyse werden drei Auszüge aus dem Transkript zugrunde gelegt. Im ersten Block geht es um den dreifachen Vergleich: Wie haben Ritter- und Bauernkinder früher gelebt, wie wurden Mädchen und Jungen (unterschiedlich) erzogen und wie lässt sich die Situation heutiger Kinder mit der von damals vergleichen.

Lesarten

Der dreifache Vergleich wird vorbereitet durch eine Textbesprechung. Auf ei­nem Arbeitsblatt sind die Situation und Erziehung von Bauern- und Ritterkindern beschrieben. Bei den Ritterkindern wird herausgearbeitet, dass sie schon mit sieben Jahren unterschiedlich aufwachsen: Die männlichen Kinder verlas­sen die elterliche Burg und werden auf einer anderen Burg zum Ritter erzogen. Anders die Bauernkinder: Sie bleiben zusammen und arbeiten viel auf dem Bauernhof mit.

Die ausgewählte Sequenz beginnt mit der wiederholenden Beschreibung der einzelnen Tätigkeiten. Die Lehrerin stellt eine dezidierte Urteilsfrage: „Was denkt ihr, war es richtig, sie [die Ritterkinder] so getrennt aufwachsen zu las­sen? Wie findet ihr das?“ (Zeile 138).

Man könnte vermuten, die Schülerinnen und Schüler seien durch die zuge­spitzte Form der Frage („richtig“) überfordert; wie sollen sie das beurteilen können, was aus dieser Zeit heraus für Ritterkinder richtig (= üblich, funktional usw.) war? Relativiert wird das „Urteil“ durch die beiden Verben: Was denkt ihr …? Wie findet ihr …? Es sollen und können Vermutungen und Gefühle in das Urteil einfließen.

Sechs Schülerinnen und Schüler sind sich in ihrem Urteil einig: Eigentlich war das nicht so gut. Die Begründungsaspekte sind breit gestreut und beziehen sich sowohl auf die Texte als auch auf die eigene Lebenswelt: der Widerspruch zwi­schen Arbeitszwang und Lernen, den Zusammenhalt der Familie (nicht von Eltern trennen), das Fehlen elementarer Kenntnisse (nicht schreiben lernen).

Eine Aussage einer Schülerin „passt“ nicht in diesen mainstream: Josephine: „Und da konnte man viel lernen, wenn man zu Haus helfen musste“ (Zeile 151). Zwei Lesarten bieten sich an: Entweder hat Josephine das „nicht“ ver­schluckt und es ist daher nicht im Transkript verzeichnet, oder sie hat das „nicht“ nicht gesagt, weil sie den Zusammenhang von Arbeiten und Lernen an­ders einschätzt (auch das Videoband bringt keine Klärung).

Die Urteilsbegründung enthält eine klare Wertehierarchie, die im schulischen Kontext sicher auf große Zustimmung stößt: Vanessa: „Die Schule ist viel wichtiger als das Haus saubermachen“ (Zeile 153-154). Hier wird ein Span­nungsverhältnis angedeutet, das im Verlauf der Stunde noch größere Relevanz bekommen wird: die widerständige Konfrontation von schulischen und sozialen (elterlichen) Normen.

Bemerkenswert erscheint die Nachfrage der Lehrerin, die eine explizite Be­gründung für dieses (Werte-)Bekenntnis einfordert, obwohl sie doch innerlich sofort zustimmen wird: „Warum findest du denn, dass die Schule wichtiger ist, als das Haus sauber machen?“ (Zeile 154-155). Sieht man darin nicht nur ein Frageritual (jede Behauptung/Meinung erfordert eine Begründung), dann zeigt die unmittelbar gegebene Antwort der Schülerin, dass sie die Konsequenzen von Arbeitszwang und Nicht-Lernen durchaus antizipieren kann: wenn man immer nur arbeiten muss, kann man (später) nicht rechnen (Zeile 156).

Nachdem sich diese Mehrheitsmeinung verfestigt hat, folgt die nächste Inter­vention der Lehrerin. Als advocatus diaboli vertritt sie – zumindest durch eine Frage – die Gegenposition: Kann es auch Vorteile haben getrennt aufzuwach­sen? Sie bindet ihre Frage in einen Hinweis auf das Verhältnis von Jungen und Mädchen ein, das durch wechselseitiges Ärgern geprägt sei. Damit stellt sie ei­nen Zusammenhang zu den Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler her, die diese auch lebhaft aufgreifen. Die erste Schülerin nimmt das Argument auf: man streite weniger. Der nächste Schüler sieht ganz praktische Vorteile im ge­meinsamen Aufwachsen: Seine große Schwester kann ihm bei den Schulaufga­ben helfen. Die Lehrerin schließt diese Sequenz ab mit der Feststellung, dass wohl die Mehrheit ihrer Schülerinnen und Schüler nicht so gern getrennt auf­wachsen würde (Zeile 173). Die Drittklässler stimmen ihr zu, indem sie noch­mals auf die langen Arbeitszeiten der Bauernkinder verweisen (Arbeitsblatt).

Didaktisch ist diese Phase als „Erarbeitung und Problematisierung“ zu be­trachten, methodisch als Vergleich und erste Schritte zur Urteilsbildung. Behut­sam werden die Kinder durch Impulse und Fragen der Lehrerin dazu veranlasst, den dreifachen Vergleich durchzuführen. Der historische Vergleich (Bauern­kinder – Ritterkinder; Jungen – Mädchen) ist hier kein Selbstzweck („Stoff*), sondern wird – sowohl eigenständig von den Schülerinnen und Schülern als auch gezielt von der Lehrerin – an lebensweltliche Erfahrungen gebunden.

Auch wenn das Material verkürzt und manchmal willkürlich erscheint, stellt die Verknüpfung der Sachtexte mit der Lebenswelt Lernmöglichkeiten für den so­zialwissenschaftlichen Sachunterricht dar. Auch wenn soziale Vielfalt stark vereinfacht und historische Sachverhalte nicht „aus der Zeit“ verstanden wer­den, legt die Lehrerin in dieser Sequenz die didaktischen und methodischen Grundlagen, die in den nächsten Phasen vertieft, ausgebaut, aber auch hinter­fragt werden. Das belegt die zweite ausgewählte Sequenz, die unter dem Motto steht: „Das ist nichts für Mädchen“. Darüber hinaus verdeutlicht die skizzierte Sequenz, dass die Lehrerin unterschiedliche Funktionen übernimmt: Moderato­rin; Anwältin einer Minderheitenposition; zugleich wird kontroverses Denken zwar ansatzweise gefordert, aber die (begründete) Mehrheitsmeinung verwan­delt hier noch Vielfalt und Mehrdeutigkeit in Eindeutigkeit – später wird sich dies differenzieren.

 

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