Hinweis – Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Farhad ist in Teheran im Iran geboren. Als er ein Jahr alt ist, flüchten seine Eltern unmittelbar nach der iranischen Revolution aus Angst vor Verfolgung nach Deutschland. Der Vater war für die Schah-Regierung tätig, die Mutter arbeitete als Geschichtslehrerin. Die Eltern Farhads sind heute geschieden. Die Mutter lebt seit neun Jahren mit einem neuen Lebenspartner zusammen, der deutscher Herkunft ist. Dieser und seine Familie sind für Farhad sehr stark mit dem Nationalsozialismus besetzt und bilden zugleich den Fixpunkt seiner Aneignung dieser Geschichte. Zum Zeitpunkt des Interviews ist Farhad 18 Jahre alt und besucht die zwölfte Klasse des Gymnasiums. Geschichte hat er als Leistungsfach gewählt. Ich lerne ihn während einer Hospitation im Geschichtsunterricht kennen.

Die Eröffnungssequenz des Interviews

Im folgenden soll die Eröffnungssequenz des Interviews mit Farhad in den Blick genommen werden. Farhad beginnt das Interview mit dem Hinweis, daß ihn das Thema Nationalsozialismus schon immer interessiert habe. Dabei betont er seine Eigeninitiative:

Also, das kam davon/ also ich weiß nicht, ich hab mich schon von klein auf […] damit beschäftigt, also Bücher, Filme halt darüber. Immer, wenn’s was gab mit Nationalsozialismus im Fernsehen, hab ich mir das halt angeguckt. Alles, was ich kriegen konnte zu der Zeit.

Also, erst mal halt, das Militärische halt, die Vorgehens weisen … und dann bin ich, glaub ich Mal irgendwann auf die Judenvernichtung getroffen, halt mit Auschwitz und so. […] der Zusammenhang war halt mit dem Krieg. Weil ich ein Junge bin, halt so kriegsinteressiert bin, halt wie gekämpft wurde und so und erst später […] bin ich erst auf die Juden gekommen (wird leiser) Und hab auch immer Mal meine Eltern gefragt und die wußten halt nicht sehr viel hier über die Zeit. Und in der Nachbarschaft haben viele alte Leute gelebt und ich hab mich halt mit denen gut verstanden. Und die ham mir auch immer so von der Zeit erzählt […] danach, als sich dann meine Eltern ham scheiden lassen/ und dann der Freund meiner Mutter, der ist Deutscher, und der hat das ja miterlebt als kleines Kind – die Bombenangriffe auf Frankfurt. Und hab ihn auch immer gefragt. Er hat ja auch noch seine Eltern gehabt damals und durch ihn bin ich auch mehr mit dem im Nationalsozialismus zusammengewachsen. Wie er erzählt hat, wie er das als kleines Kind erlebt hat, wie seine Eltern da gelebt haben und so. Und durch ihn bin ich dann auch noch mal mehr mit dem zusammengewachsen mit dem Nationalsozialismus. […] Also, er hat es miterlebt, seine Eltern ham’s miterlebt. Der Vater war auch im Krieg, in Rußland- an der Ostfront. Und die ham das hier in Frankfurt sogar miterlebt.[2]

Farhad betont in dieser Passage nicht nur seine Vorliebe für Militärstrategie und Kriegstechnologie. Er führt dieses Interesse auch gleich selbstreflexiv auf sein Geschlecht zurück. Auffällig ist in Farhads Erzählung die Bedeutung der familienbiographischen Dimension für seine Aneignung des Themas. Von den leiblichen Eltern, die aus dem Iran stammen, kann er nur. wenig über die Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland erfahren. In der Absicht, dieses Defizit zu kompensieren, sucht Farhad die älteren deutschen Nachbarn auf, aus deren Erzählungen er lokalgeschichtliche Informationen aus erster Hand schöpfen kann. Als einen Wendepunkt in der Auseinandersetzung benennt Farhad die Scheidung seiner Eltern und das Zusammenleben mit dem neuen deutschen Freund seiner Mutter, der den Nationalsozialismus und den Krieg als Kind miterlebt hat. Über dessen Erzählungen und die Erzählungen seiner Eltern – Farhads deutschen Stiefgroßeltern – erhält er Einblicke in persönliche Motive, das Alltagsleben im Nationalsozialismus, das Erleben des Krieges und der Bombenangriffe vor Ort. In der Feststellung, daß die Stiefgroßeltern während der NS-Zeit „sogar“ in Frankfurt lebten, verbinden sich die historischen Ereignisse mit der Zeitzeugenschaft der Großeltern und Farhads Selbstverständnis als Frankfurter. In der gleich zweimal verwendeten und in diesem Zusammenhang eher befremdlich klingenden Umschreibung Farhads, daß er auf diese Weise mit dem Nationalsozialismus „zusammengewachsen“ sei, drückt sich eine kaum stärker formulierbare Verbundenheit aus. Diese speist sich offenbar daraus, daß die deutsche Familie ihn durch ihre Erinnerungen einbindet, ihm ein familienbiographisches bzw. kollektivgeschichtliches Identifikationsangebot macht.

Folgende Sequenz zeigt, wie stark Farhad bereits in die dominanten deutschen „Deckdiskurse“ über den Nationalsozialismus und seine Folgen verstrickt ist und in welchem Maße er Anteil an den „Opfernarrativen“ der Täter, Mitläufer und Zuschauer hat. Farhad betont noch einmal sein Interesse für den Krieg als „Strategieereignis“.

Das Militärische, die Vorgehensweisen, also zum Beispiel der S-Feldzug, wie da vorgegangen wurde, wie angegriffen wurde. […] Krieg hat mich früher immer interessiert, also wer wen angegriffen hat, wer wem den Krieg erklärt hat. […] Also, was mich immer so gestört hat, daß waren die Bombenkriege. Also das mit dem Bombardement auf Dresden halt. Was ich halt […] als total sinnlos bezeichnen würde. Und wenn ich mal ne Möglichkeit hätte, dann wär das einzige, was ich an der Geschichte verhindern würde, wäre diesen Angriff auf Dresden zu unterbinden oder zu verhindern. Weil der Angriff auf Dresden drei Monate vor Kriegsende, das war ein bescheuerter Angriff sozusagen, obwohl die anderen Städte wurden auch sinnlos angegriffen […] Aber ist halt ne blöde Methode. Und bei Dresden ham halt die Alliierten gewußt, daß es ne Stadt ist, wo halt viele Flüchtlinge sind. Es sind ja auch sehr viele Menschen kurz vor Kriegsende ums Leben gekommen. Also, das hat mich immer sehr geärgert, wenn ich darüber was gelesen hab.

Daß Farhad ausgerechnet Dresden als das Ereignis des Zweiten Weltkrieges begreift, das er verhindern würde, scheint die eingangs formulierte These, der Verstrickung Farhads in deutsche „Geschichtsgeschichten“ – insbesondere in den deutschen „Wir-waren-alle-Opfer-Diskurs“ zu bestätigen. Er nimmt Teil an ‚ der Konstruktion einer ganz bestimmten historischen Erinnerung – einem kollektiven Gedächtnis, welches die Ursachen des Krieges und die eigene schuldhafte Verstrickung in das nationalsozialistische Unrechtssystem ausblendet und die wirklichen Opfer der Terrorherrschaft entthematisiert (vgl. Rosenthal 1998, S. 345ff).

„Erwähnen, daß es auch gute Deutsche gab… “

Interessant ist gerade in diesem Zusammenhang die folgende Sequenz aus dem Interview, in der sich Farhad kritisch zum Geschichtsunterricht äußert:

Also, […] was mal fehlt ist, erwähnen, daß es auch Deutsche gab, die nicht so waren. Weil, wie zum Beispiel, ich hab nie – was mich immer gewundert hat – nie was über Schindler gehört, Oskar Schindler. Und wo ich den Film gesehen hab, was er also vollbracht hat, also daß er zwölfhundert Menschen gerettet hat und daß man über solche Leute überhaupt nix erfährt. […] Halt auch deutsche Offiziere oder halt Leute, die sich geweigert haben, sagen wir Mal nur zehn Juden zu erschießen oder da mitzumachen, daß über die hier total wenig berichtet wird. […] Daß find ich sollte viel mehr gemacht werden. Weil bei manchen Ausländern hab ich erlebt, daß sich hier ein ganz großes Vorurteil aufbaut gegenüber den Deutschen.

In Farhads Überlegungen zur Frage, was im Geschichtsunterricht fehle, rückt das Thema von deutschem Widerstand sowie deutschen Helfern (Rettern) ins Zentrum seiner Auseinandersetzung. Als Beispiele führt er Oskar Schindler und den konservativen militärischen Widerstand (Offiziere) ins Feld. Es wird rasch deutlich, daß Farhad auf der Suche nach den „guten Deutschen“ ist. Er sucht nach Entlastungszeugen und positiven Vorbildern in der Geschichte. Man könnte diese Suche als Wunsch nach einer „besseren“ deutschen Gesellschaft/Gemeinschaft deuten. Farhad möchte zu dieser Gemeinschaft gehören, deshalb wünscht er sich ein nicht ganz so düsteres Bild von dem Land, dessen Staatsbürgerschaft er annehmen möchte.

Im folgenden Abschnitt stellt Farhad sein Aufwachsen in Deutschland dar und betont seine hieraus resultierende Vertrautheit mit den „Regeln“. Dabei wird ihm seine „Verwurzelung“ in Deutschland – auch bezogen auf die deutsche Geschichte bewußt.

Ich bin hier mit diesen Regeln aufgewachsen und fühl mich auch darin wohl […] Und zu meiner Heimat hab ich halt die Verbindung nur über meine Eltern, über meine Großeltern. Die können mir Sachen erzählen, wie’s da war und das war’s dann auch […] Ich war noch nie dort im Iran […] Natürlich haben mir meine Eltern über den Iran erzählt, wie es damals war, wie es jetzt ist. Ich hab mich damit auch beschäftigt. Aber ich hab mich größtenteils intensiver mit der deutschen Geschichte befaßt, weil’s natürlich hier auch mehr über die deutsche Geschichte gibt als über die iranische Geschichte zum Beispiel. Aber mein Interesse liegt mehr hier, weil hier eben hier ist, weiß ich auch nicht warum.

Farhad stellt fest, daß er zwar Informationen über den Iran von seinen Eltern hat, daß sein historisches Wissen über das Heimatland der Eltern im Vergleich zu seinem Wissen über deutsche Geschichte aber eher mager ausfällt. Dies erklärt er sich rational mit der Feststellung, daß das geschichtliche Curriculum in Deutschland schließlich primär auf die deutsche Geschichte ausgerichtet sei. Er konstatiert aber auch einen affektiven Moment, den er nicht erklären kann: Er interessiere sich eben mehr für „hier“. Dieses „hier“ ist für ihn Deutschland. Hier ist seine Lebenswelt. Hier ist er aufgewachsen. Hier geht er zur Schule. Hier lebt er. So scheint es nur naheliegend, daß er sich mehr für das historische Gewordensein des „Hier“ interessiert als für das „Dort“ und die iranische Revolution, die ausschlaggebend für die Emigration seiner Eltern war und in einem Land stattgefunden hat, daß die Eltern zwar Heimat nennen, das für Farhad aber fremd ist. Es fallt ihm deshalb außerordentlich schwer, einen lebensweltlichen Bezug zur iranischen Geschichte und seiner Familienbiographie her-zustellen. Das Wissen über die dortigen Ereignisse wirkt leblos.

Ziehen wir als Kontrast die Beschreibung der geschichtlichen Verbundenheit in der Schilderung des Verhältnisses zu den deutschen Stiefgroßeltern und seinem Stiefvater hinzu, so wird deutlich, daß es hier im Erleben von konkreten Personen (Zeitzeugen), die den Nationalsozialismus in Berlin mitgemacht haben, gelingt, eine Lebensweltliche Brücke zur Vergangenheit zu schlagen. Die Geschichte wird in den Erzählungen des Stiefvaters und der Großeltern lebendig. Hinzu kommt, daß Farhad die Orte kennt, von denen sie berichten. Die ihm auf diese Weise zugänglich gemachte Alltags- und Lokalgeschichte erfährt eine bestechende lebensweltliche Konkretion, die Farhad fasziniert.

Deutsche Verantwortung und historische Hypothek: „Die deutschen Jugendlichen nicht so mit der Verantwortung runter drücken “

Im folgenden Ausschnitt hält Farhad ein Plädoyer für die Entlastung der deutschen Jugendlichen.

Also, ich finde überhaupt, daß jetzt die Deutschen, also die deutschen Jugendlichen hier, nicht so mit der Verantwortung runtergedrückt werden sollten, (mit verstellter Stimme) „Ja ihr seid verantwortlich für das, was damals passiert ist.“ Weil die können ja wirklich nix dafür, weil ich find, daß ist etwas bescheuert, um jetzt das mal so auszudrücken.

Zunächst solidarisiert sich Farhad mit seinen deutschen Altersgenossen, indem er sich dafür einsetzt, daß diese nicht wegen der historischen Hypothek des Nationalsozialismus „so runtergedrückt“ werden sollten. Es geht ihm deutlich darum, seine Mitschüler zu entlasten. Er schließt sich aber nicht in die Gruppe ein. In der Bezeichnung „die können nix dafür“ distanziert er sich. Er nimmt seine Altersgenossen zwar in Schutz, verortet sie aber eindeutig als die „Anderen“ – als Teil des deutschen Kollektivs. Er selbst begreift sich nicht als Teil dieses Kollektivs, sondern positioniert sich als ein Gegenüber, als jemand, der gleichsam aus eine Position der „fernen Nähe“ ein objektives Urteil fallen darf. Gleichzeitig reproduziert Farhad den Argumentationsstrang des bekannten deutschen Diskurses über die Nachwirkungen des Nationalsozialismus: nämlich die Deutschen als Opfer einer „Meinungspolizei“ die, wie es der Schriftsteller Martin Walser anläßlich seiner umstrittenen Rede im Rahmen der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels (1998) nannte, unter der sogenannten „Auschwitz-Moralkeule“ zu leiden hätten. Es überrascht deshalb nicht, wenn Farhad auch in seiner Botschaft am Ende des Interviews dieses Thema wiederaufgreift:

Ja, was mir halt noch wichtig wär, is, daß man nicht so auf den Deutschen rumhacken soll, mit der Geschichte. Das denen immer so diese Schuldgefühle, so vom Ausland her immer so gesagt wird: „Ihr seid dran Schuld.“ (betont). Und … man soll’ s nicht vergessen, aber mich regt’s schon manchmal auf, wenn Leute über Deutsche herziehen, also: „Ihr wart dran Schuld!“ Weil die jetzige Generation kann nichts dafür. Sie kann’s nur besser machen.

Es ist ihm ein Anliegen, eine Lanze für die aus seiner Sicht mit Schuldgefühlen und schlechtem Gewissen bestraften Deutschen zu brechen, sie von der „Kollektivschuld“[3] zu befreien. Sehr emphatisch verteidigt er die Deutschen gegenüber vermeintlichen Anschuldigungen aus dem Ausland, von denen eigentlich niemand recht weiß, wer sie ausgesprochen hat. Farhad übernimmt hier einen weiteren Diskursstrang deutscher Geschichtsverarbeitung: die Projektion, daß den Deutschen die Schuldgefühle von außen übergestülpt würden (vgl. Rommelspacher 1997) und daß man auf ewig gebrandmarkt sei. Es rege ihn auf, wenn Leute über Deutsche herziehen. An solchen Äußerungen wird ein hohes Maß an Solidarität mit Deutschland, vor allem aber den jungen Deutschen seiner Generation deutlich. Wenn Farhad vor allem die jetzige Generation von Schuld freispricht und die Maxime formuliert „es besser machen zu wollen“, handelt er als Anwalt der jungen Generation – seiner peer-group –, mit der er sich identifiziert. Seine Herkunft fällt dabei nicht als zugehörigkeitsstiftend ins Gewicht. Zugehörigkeit ergibt sich für Farhad vielmehr aus der Altersgruppe. Auch er sieht sich als Teil der jungen deutschen Generation.

Fußnoten:

[1] Namen und Daten der Interviewten sind anonymisiert.

[2] Alle folgenden Interviewausschnitte stammen aus dem noch unveröffentlichten empirischen Material meiner Dissertation. Die Interviews wurden 1997 und 1998 aufgezeichnet.

[3] Aleida Assmann zeichnet in ihrem neuen Buch „Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit“, Ursprung, Funktion und Wirkung der Kollektivschuldthese in Deutschland nach. (Assmann/Frevert 1999, S. 83-84)

Literaturangaben:

Assmann, Aleida/Frevert, Ute (1999): Geschichtsvergessenheit, Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945. Stuttgart.

Rommelspacher, Birgit (1997): Schuldlos – schuldig? Wie sich junge Frauen mit dem Antisemitismus auseinandersetzen. Hamburg.

Rosenthal, Gabriele (1998) (Hrsg.): Der Holocaust im Leben von drei Generationen. Frankfurt am Main.

Walser, Martin (1998): Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede. In: Frankfurter Rundschau, 12. Oktober 1998. S. 10.

Mit freundlicher Genehmigung des Juventa-Verlages.
http://www.beltz.de/fachmedien/erziehungs_und_sozialwissenschaften/buecher/produkt_produktdetails/281-erziehung_nach_auschwitz_in_der_multikulturellen_gesellschaft.html
 

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