Falldarstellung

In der Konferenz hatte der Schulleiter gesagt, dass man nun auch ein Schulprogramm schreiben werde. Alle Schulen seien angewiesen worden, bis zum Ende des nächsten Jahres ein solches Programm vorzulegen. In ihm sollen die Lehrer die pädagogischen Leitvorstellungen ihrer Schule formulieren. In Zukunft würde sich die Schule dann auch an diesem Programm messen lassen müssen. So solle die Entwicklung der Einzelschule vorangetrieben werden. Bis zur nächsten Sitzung sollten sich alle überlegt haben, wer an der dafür zu gründenden „Schulprogramm-AG“ mitmachen wolle.
Nach der Konferenz kommt es in der Teeküche des Lehrerinnenzimmers noch zu einer Diskussion zwischen drei Kolleginnen:

Herr Nolte: Ich finde diese Idee mit dem Schulprogramm gut. Man kann ganz deutlich einmal zeigen, wo man steht und für was man steht.
Herr Kaufmann: Vorausgesetzt sie lassen einen…
Herr Nolte: Wer ist „sie“?
Herr Kaufmann: Naja, die Schulleitung und die Schulaufsicht.
Herr Nolte: Dass die kritischen Nachfragen zu unserem Konzept stellen werden, wenn wir es dann entwickelt haben, ist doch o.k.! Für uns ist das eine gute Kontrolle von außen, damit wir nicht betriebsblind werden, wenn wir versuchen, ein Konzept durch-zuziehen, das gar nicht zum Schülerklientel passt, das wir hier haben.
Herr Kaufmann: Was wir hier brauchen, wissen wir doch am besten. Ich halte nicht viel davon, wenn man dazu aufgefordert wird, einfach alles irgendwie besser zu machen und dabei einem beständig über die Schulter geschaut wird. Wenn sie wirklich wüssten, wie es besser geht, dann sollten sie es doch machen. Aber wenn sie es nicht wissen, dann sollen sie sich auch da raushalten.
Herr Nolte: Aber die werden doch nicht einfach etwas ablehnen, wenn es gut begründet ist. Und ob es gut begründet ist, das müssen wir uns ja schließlich auch selber fragen. Wir sollten das als Chance begreifen, einmal wieder konkret-inhaltlich zu diskutieren.
Herr Kaufmann: Und dann muss ich womöglich noch gegenüber der Schulaufsicht irgendein Kompromisskonzept vertreten, hinter dem ich gar nicht voll und ganz stehe. Und das soll dann auch noch von denen „evaluiert“ werden, wie das so schön heißt. Das führt doch nur alles dahin, dass ich irgendwann einen Unterricht machen muss, der zwar an einem gemeinsamen Konzept ausgerichtet wird, dafür aber meine pädagogische Freiheit eingeschränkt ist, meinen Unterricht so zu planen, wie ich das für richtig halte. Wir sollten proforma so ein Programmtext schreiben, damit die Schulaufsicht zufrieden ist. Ansonsten sollte jeder seinen Unterricht so gut machen, wie er kann, und das kann man nur, wenn man nicht durch irgendwelche anderen Vorgaben daran gehindert wird.

Frau Schreiber, die bislang interessiert zugehört hat, kommentiert die Äußerungen ihrer beiden Kollegen:

Frau Schreiber: Eine Chance für neue Impulse könnte es schon sein, aber die Gefahr einer Einschränkung sehe ich auch, wenn man das Ganze einmal realistisch betrachtet. Wenn man allerdings gleich von Anfang an so strategisch an die Sache herangeht, dann bewahrt man sich vielleicht die Eigenständigkeit, aber so ein taktierendes Vorgehen hat auch seine Nachteile und die Möglichkeit einer gemeinsam getragenen Innovation ist damit vertan. Wie man allerdings jetzt mit dieser Situation umgehen sollte, weiß ich auch noch nicht. Vielleicht sollten wir alle erst einmal darüber schlafen…

Interpretation

Fragestrategien und Fallstricke in Dilemmainterviews

Das Interview selbst sollte möglichst in Form eines kollegialen Gesprächs stattfinden. Deswegen mussten die Befragten auch zunächst darauf hingewiesen werden, dass es sich nicht um einen Test handelte, in dem sie ihre Professionalität unter Beweis stellen sollten (Evaluation): Es handele sich nicht um eine Testaufgabe für die es eine „richtige Lösung“ gäbe – zumindest hätte man keine solche. Man wäre vielmehr an ihrer Einschätzung interessiert. Zu Beginn des Gesprächs wurde den Probandlnnen versichert, dass alle ihre Aussagen anonym bleiben würden. Sinn und Zweck des Interviews, so war den Probandlnnen zunächst zu versichern, bestünden lediglich in einer offenen Erörterung und Diskussion des vorgelegten Sachverhalts.

Die Interviewenden waren dazu angehalten, die Probandlnnen durch geschickte Nachfragen zu Stellungnahmen zu provozieren. Durch die problematisierenden Nachfragen der Interviewenden wurden die Probandlnnen dazu motiviert, immer weitere Varianten möglicher Reaktionen ihrerseits durchzuspielen. Das Gespräch wurde von den Interviewenden geleitet, indem sie den Probandlnnen Fragen stellten – an geeigneter Stelle auch Leitfragen. Die Fragen ergaben sich aus dem Gesprächsverlauf, ihre Reihenfolge war nicht zuvor festgelegt. Der folgende Fragenkatalog sollte nur zur Orientierung der Interviewenden dienen und nicht sukzessive abgehakt werden, da dies eine spontane Gesprächsentwicklung verhindert hätte:

• „Wie finden Sie, wie sich … verhält?“ (hier werden alle im Szenario auftauchenden

Personen eingesetzt)

• „Was würden Sie in einer solchen Situation machen?“

• „Haben Sie vergleichbare Situationen schon einmal erlebt?“

Zum Abschluss des Gesprächs wurde folgende Frage gestellt:

• „Wenn Sie die Rahmenbedingungen verändern könnten, damit das im Szenario beschriebene Problem nicht mehr auftaucht, wie würden Sie diese verändern?“

Diese Frage wurde erst dann gestellt, wenn alle anderen Bereiche bereits beantwortet waren, da hier durch die Interviewführung die Fragerichtung der Untersuchung deutlich wird. Zunächst aber waren die Antworten der Probandlnnen relevant, ohne dass sie auf diese „Spur“ gebracht wurden, d.h. am Anfang sollte das Interview durch die oben beschriebenen Fragen möglichst offen gehalten werden. Der Vorteil sequenzanalytischer Auswertungsverfahren in diesem Zusammenhang (Heinrich, 2001b) besteht darin, dass diese Frage am Ende des Interviews gestellt werden kann, ohne dass dadurch die anfänglichen Aussagen methodisch problematisch werden könnten (im Sinne einer Insinuation seitens der Interviewenden).

Oft wurden diese Fragen auch schon im Gespräch beantwortet, ohne dass die Interviewenden explizit darauf hingewiesen hätten. Um die Position der Probandlnnen stärker hervortreten zu lassen, mussten die Interviewenden zuweilen auch die Position der Gegenseite übernehmen und Lösungen der Probandlnnen problematisieren. Zu diesem Zweck versuchten die Interviewenden, jeweils die gegenteilige Position von der der Probandlnnen stark zu machen und sie so zu einer Diskussion zu ermuntern, ohne sie dabei aber unter Druck zu setzen. Klärende Nachfragen waren zuweilen nötig, wenn die Äußerungen der Probandlnnen „dunkel“ oder unbestimmt blieben. Durch die Aufforderung, sich wahlweise mit unterschiedlichen Akteurlnnen aus dem Szenario auseinander zu setzen, wurden die Positionen der Probandlnnen häufig klarer. Bei Gesprächen, die zunächst schleppend verliefen, stellte sich oftmals heraus, dass einige Probandlnnen das in den Leitfragen enthaltene Potenzial sofort begriffen, wenn sie nach eigenen Erfahrungen dieser Art gefragt wurden.

Wenn die/der Interviewende den Eindruck hatte, alle Ebenen des Szenarios mit der/dem Befragten diskutiert zu haben, und die Probandin/der Proband zu erkennen gab, dass aus ihrer/seiner Sicht die Sache geklärt sei, wurde das Gespräch beendet. In der Regel war zu diesem Zeitpunkt ihre/seine Lösung, d.h. ihre/seine Reaktionsform auch bereits genügend expliziert.

Ergebnisse von Dilemmainterviews

Die Rekonstruktion der Aussagen der Probandlnnen zu den Dilemmainterviews soll dem Auffinden von strukturellen Bedingungen und „typischen“ Reaktionen auf eben jene dienen, um durch diesen Erkenntnisfortschritt die Praxis, wenn auch nicht kalkulierbar, so doch zumindest „verstehbar“ zu machen. In den Aussagen der Probandlnnen spiegelt sich geronnene soziale Erfahrung wider, sodass mit ihren Äußerungen sowohl die subjektiven Reaktionen fassbar werden als auch die diesen zugrunde liegenden objektiven strukturellen Bedingungen, die eine solche Reaktion provozieren.

In den Interviews steht damit auch infrage, welchen Niederschlag öffentliche Dis-kurse und Berufspraxen im Bewusstsein der Akteurlnnen vor Ort gefunden haben, d.h. inwieweit solche Vorstellungen auch subjektiv Deutungsmuster für die Praxis generieren. Dem Begriff des Deutungsmusters kommt hierbei eine zentrale Stellung zu. Das sozialwissenschaftliche Deutungsmuster-Konzept zielt auf eben solche objektiven Niederschläge im Bewusstsein der Akteurlnnen. Oevermann hat die Deutungsmuster in einer Randbemerkung einmal als Strukturhomologe zu den Paradigmen wissenschaftlicher Theoriebildung im Sinne von Thomas Kuhn bezeichnet (Oevermann, 2000, S. 3, Anm. 2). Anhand der auf diese Aussage folgenden Formulierungen von Oevermann wird deutlich, welch großer Anspruch mit dem sozialwissenschaftlichen Terminus des Deutungsmusters verbunden ist. Insbesondere der hohe Grad an struktureller Abstraktheit bei gleichzeitiger empirischer Konkretheit stellt den Versuch der Formulierung eines stichhaltigen Deutungsmusters vor eine große Herausforderung. Meiner Auffassung nach wäre bspw. das von Lortie identifizierte Autonomie-Paritäts-Muster (Lortie, 1975, Altrichter & Eder, 2004) ein solches Deutungsmuster. Es scheint aber in der Arbeit mit Dilemmainterviews zu-nächst angemessener nur Annäherungen an solche Deutungsmuster zu versuchen. Für solche Annäherungsversuche verwende ich die Begriffe Argumentationsmuster und Reaktionsmuster.

Komplexe Deutungsmuster mit einem hohen Grad von Kohäsion und innerer Konsistenz zur deutenden Krisenbewältigung konkretisieren sich in einer großen Bandbreite verschiedener Handlungssituationen. Demnach sind sie auch in den deutenden, interpretierenden Bewältigungsmodi der Akteurlnnen enthalten, wenn sie auf eben jene Krisen reagieren. Dementsprechend kann als Vorstudie zur Explikation eines solchen abstrakten Deutungsmusters von hoher Allgemeingültigkeit der Versuch unternommen werden, bei vorsichtiger Selektion –  nach Möglichkeit ohne Verfälschung der durch Sequenzierung isolierbaren Einheiten – strukturell typische Argumentationsmuster herauszuarbeiten. Treten bei mehreren Probandlnnen vermehrt die gleichen Argumente bzw. analoge Argumentationsführungen auf (bspw. Bearbeitung des Auftrags zur Schulprogrammarbeit im Sinne von Verwaltungshandeln durch ein pro-forma-Papier), so hegt die Vermutung nahe, dass hinter diesen strukturell bedingte Argumentationsmuster liegen, d.h. innerpädagogische oder organisationale Strukturen eine Wiederkehr dieser Argumente bedingen.

Solche Argumentationsmuster können schließlich auch zu komplexeren Reaktionsmustern verdichtet werden, die sich in Porträts darstellen lassen (bspw. das pro- forma-Handeln in der Schulprogrammarbeit als durchgängiges Muster für work-arounds bei Schulentwicklungsanforderungen). Die Argumentationsmuster dürfen hierfür nicht mehr nur isoliert betrachtet werden, sondern in der Form, in der sie im Bewusstseins einer/eines Einzelnen zusammenschießen. Um missverständliche Interpretationen des Anspruchs hinsichtlich der Allgemeingültigkeit zu vermeiden, habe ich in Abgrenzung zu dem Begriff des Deutungsmusters den des Reaktionsmusters gewählt. Rekonstruiert werden soll hier im Sinne einer Fallstudie die Reaktion Einzelner (vgl. Heinrich, 2001b, 2005c). Als Einzelfall bergen diese Rekonstruktionen zwar auch die infrage stehenden Deutungsmuster, doch der Anspruch der Universalisierung der Ergebnisse ist geringer. Gleichwohl sollen die Einzelfallrekonstruktionen nicht nur als Belege für subjektive Verarbeitungsmechanismen fungieren. Als rekonstruierte subjektive Reaktionen enthalten sie dialektisch – ex negativo – immer auch zahlreiche Verweise auf die objektiven strukturellen Bedingungen, die die Subjekte zu eben diesen Reaktionen drängen.

Literaturangaben:

Altrichter, H. & Eder, F. (2004). Das „Autonomie-Paritätsmuster“ als Innovationsbarriere? In: H.G. Holtappels (Hrsg.), Schulprogramme – Instrumente der Schul-entwicklung. Konzeptionen, Forschungsergebnisse, Praxisempfehlungen (S. 195- 221). Weinheim/München: Juventa.

Heinrich, M. (2001b). Alle, alles, allseitig. Wetzlar: Büchse der Pandora.

Heinrich, M. (2005c). Moralische Identität in einer globalisierten Welt. Zur Moralentwicklung junger Erwachsener innerhalb widersprüchlicher Normorientierungen. In: P.C. Gruber (Hrsg.), Identität und Nachhaltigkeit in einer globalisierten Welt (S. 43-82). Münster: Monsenstein & Vannerdat.

Lortie, D.C. (1972). Teamteaching. In: H.-W Dechert (Hrsg.), Teamteaching in der Schule (S. 37-76). München: Piper.

Oevermann, U. (2000): Die Struktur sozialer Deutungsmuster – Versuch einer Aktualisierung. Unveröffentlichtes Manuskript vom Oktober 2000. Frankfurt a.M.

Mit freundlicher Genehmigung des Studienverlages.
http://www.studienverlag.at/page.cfm?vpath=buecher/buchdetail&bookclass=&titnr=4260

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