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Falldarstellung

A: Seit drei Jahren haben wir schon wieder einen anderen Schulleiter, jemand aus dem Kollegium, was ich ganz gut fand. Wir haben jetzt auch eine neue Konrektorin bekommen, eine Frau mal, ist auch eine Sportkollegin und das ist was anderes, wenn man da so als Frau redet und auch andere Belange vielleicht auch ein bisschen anspricht. Ich finde das eigentlich sehr nett, das hat sich für die Atmosphäre im Kollegium sehr positiv ausgewirkt.

I.: Und auch für Dich, wenn Du das vergleichst mit früher, so dass Du sagst da gehe ich jetzt heute noch lieber hin, weil jetzt fühle ich mich wohler als Sportlehrerin und als Frau?

A.: Ja, aber ich mache im Moment weniger Sport. Ich denke der Sportunterricht als solches ist für mich sehr laut geworden, wir sind immer in den Dreifachturnhallen und so weiter. Ich habe auch mal einen Hörsturz gehabt irgendwann, nur einen kleinen, aber immerhin. Und wenn ich nicht viel Sportunterricht habe, bin ich froh. Wir haben sehr große Klassen zum Teil. Wir kriegen Schüler, die kaum Regelverhalten beherrschen.

I.: Hat sich da was bei den Schülern verändert, sind sie undisziplinierter oder wie Du sagst lauter geworden?

A.: Ja, und ein bisschen draufgängerischer. Man muss schon deutlicher werden, und ich merke dann auch so von meinen organischen Fähigkeiten, dass ich Schwierigkeiten mit der Stimme kriege. Hatte ich auch mal deutlicher irgendwann. Es ist einfach so, ich find es körperlich auch anstrengend. Ich mache da nicht mehr fürchterlich viel mit. Weil ich mich selber so gut warm machen muss, das schaffe ich einfach kaum in der Zeit. Und durch besagte Rückenprobleme, und hier und da sind Zipperlein, ist das also auch schwieriger geworden. Die schimpfen zum Teil auch. Aber ich denke, mit bestimmten Dingen müssen sie auch leben. Also ich kann immer noch einen Handstandüberschlag, habe ich neulich festgestellt. Ich denke, Schüler machen sich nicht sehr gerne warm, das war früher anders, dass sie die Notwendigkeiten gesehen haben. Oder dieses andere Warmmachen, da gibt es ja auch viel an Erkenntnissen, wo heute viel mehr gedehnt wird. Das war bei uns im Studium noch gar nicht so sehr. Ja, oder dieses Auslaufen, Abkühlen und so weiter und so fort. Wenn jemand vom Verein her vorbelastet Ist, der sagt auch sofort, das ist zu wenig was sie da machen. Aber so insgesamt denke ich, mache ich da nicht mehr so viel mit.

I.: Wie hat sich denn allgemein Dein Engagement in Schule und Unterricht entwickelt?

A.: So bis vor drei Jahren, da habe ich wahnsinnig viel gearbeitet, mich nahezu zugepackt, hatte auch sehr viel Erfolg, gerade im Fach Sport. Mit Volleyball- Mannschaften bis auf Landesebene, also das war schon ganz gut. Habe also ein Turnier in die Wege geleitet. Ich habe auch in der Schule dann gesagt, ich würde das sehr gerne machen, weil ich bis zu dem Zeitpunkt zum Beispiel immer noch keine Klasse hatte. Ich sagte, ich habe also überhaupt keinen Raum für mich, da wurde ich dann immer unzufriedener, wie ich es eben schon beschrieben habe.

I.: Ah ja, so ein bisschen wenig Verantwortung.

A.: Ja, ich sage, ich mach hier meinen Unterricht, ob ich da bin oder nicht ist eigentlich scheiß egal. Das einzige, was die anderen interessiert, ist, ob sie eine Vertretungsstunde geben müssen oder nicht. Aber ich sage, mit mir hat das nichts zu tun. Da habe ich mir diesen Bereich gesucht und auch entsprechend eingerichtet. Ja

und das war dann also schon so, dass ich da wirklich sehr viel gearbeitet habe und dann irgendwann war für mich die Frage – was mache ich jetzt mit dem. Ich merkte natürlich auch, dass mir das unheimlich an die Kandarre ging, eigentlich in den roten Bereich geht. Denn privat, das war ja auch eine Menge mit den Kindern. Da waren mein Mann und ich uns auch nicht immer so einig, das war auch ein bisschen schwierig. Er war auch häufig mit seinen Sportlern unterwegs, also irgendwo mussten wir kucken, dass wir also nicht auseinander driften. Ich hab dann irgendwann überlegt, was mache ich denn jetzt eigentlich, was will ich eigentlich. Also damals hätte ich mich um eine Schulleiterstelle bewerben können, und ich hätte sie auch möglicherweise gekriegt. Das war so die Idee, was mache ich mit dem, was ich wirklich kann, was ich so erreicht habe. Und ich war mit dem, was ich erreicht hatte, eigentlich immer noch nicht so ganz zufrieden. Wie gesagt, die private Schiene war gar nicht so günstig und ich denke, deshalb habe ich mich auch mit Arbeit zugedeckt. Und irgendwann habe ich dann gedacht, so wenn ich jetzt Karriere mache, dann kannst du gleich die Scheidung einreichen, und das geht nicht. Und habe dann gesagt, so, du hast zwei Kinder, die wolltest du haben, Mann ist auch da und jetzt gibst du dieser Familie die größere Chance. Ich habe entschieden, ich mache keine Karriere und das ist glaube ich ganz wichtig zu sagen, und habe dann also in der Zeit und dann dieses Schuljahr besonders, nach dem Bandscheibenvorfall erst recht, eigentlich so eine Auszeit für mich genommen. Ich mache im Moment nur, was ich tun muss (lacht).

I.: Das heißt diese Rektorenstelle war nur der äußere Anlass für Dich um zu bilanzieren und eine Entscheidung zu fällen?

A.: Ja, ich hab dann gesagt, gut ich tue das nicht, und im Endeffekt kann ich das in fünf Jahren auch noch machen, wenn ich will, wobei ich im Moment da keine Lust zu habe. Auf der anderen Seite merke ich aber, dass ich auch keine Lust habe nur zu unterrichten, also das ist mir zu wenig, da ist so die Frage, wo ich auch sehe, ob ich außerhalb noch ein Standbein finde, das ist wirklich so. Ich merke ganz einfach, dass mir der Sportunterricht zu laut wird, dass ich da ständig mit so einem Kopf herumlaufe und das dann schlechter gebacken kriege, das ist kein Dauerzustand, deswegen.

I.: Das ist dann Stress für Dich?

A.: Ja das ist einfach so, ich muss hier irgendwo Strukturen finden, wie ich damit umgehe, aber so ganz was Zündendes ist mir halt auch noch nicht eingefallen. Tatsache ist also, um noch einmal auf diesen roten Bereich zurückzukommen, dass das zu viel war und ich auch nicht mehr lange hätte durchgehalten. Sehr wahrscheinlich wäre ein ziemlicher Einbruch gekommen, ich glaube, dass der gesundheitlich auch nicht gut gewesen wäre.

I.: Den hast Du körperlich so gemerkt.

A.: Ja ich war ja nur noch müde und trotzdem konnte ich nicht schlafen, wie das so ist, das ist ein ewiger Kreislauf und so alle Anzeichen der totalen Erschöpfung eigentlich.

I.: Wann war das ungefähr?

A.: Das war vor drei Jahren, so Anfang vierzig. Na ja und wie gesagt, jetzt habe ich für mich so einiges geregelt hier, und habe erst mal gesehen, ich muss erst mal wieder zu Kräften kommen, in Anführungszeichen. Also mir auch diese Ruhe antun, auch was annehmen können als solches. Und wie gesagt, ich bin nicht zufrieden mit dem was ich tue, jetzt auf die Dauer. Im Moment brauche ich das wohl, das ist auch gut so, aber Schule nur, immer nur unterrichten, ist inhaltlich zu wenig. Und ich sehe auch immer größere Schwierigkeiten für mich, dass andere Kollegen, zum Teil sehen die das auch so, etwas in der jetzigen Situation, wo unsere Klassen immer größer werden, die Schule von außen zugepackt wird mit allen möglichen gesellschaftlichen Dingen, die halt Vorkommen, da noch was zu bewirken. Das ist also, jetzt ganz übergreifend, Sport ist ein gutes Beispiel eigentlich, weil wir da die Verhaltensweisen der Kinder noch sehr deutlich sehen.

I.: Vielleicht gibt es da noch irgendwas, wo Du sagst, da möchte ich mich noch in Anführungsstrichen bereichern?

A.: Ja, zum Beispiel die Lehrerausbildung, also ich weiß nicht, irgendwie denke ich mit Erwachsenen muss ich was zu tun haben, nicht nur mit Kindern. Also das ist so was, was an der Schule fehlt. Ich meine, die Deutschlehrer, die sagen auch, also meine Güte, die Gespräche, die man da in der Klasse „zehn“ über irgendwelche Literaten führt, das ist auch nicht gerade das Gelbe vom Ei mehr, oder wie es auch sonst immer war.

I.: Das heißt, dass das, was aus der Schule für einen selbst zurückkommt, gewissermaßen, das reicht nicht aus?

A.: Ich denke, ich kriege viel Positives. Ich denke, ich habe wenig Stress mit Eltern und wie gesagt, was ich mache, mache ich auch immer ganz ordentlich. Ich denke, das sieht auch das Kollegium. Die wissen, wenn ich was übernehme, dann wird das auch was. Es ist nicht so, dass ich da keinen Erfolg darin sehe. Aber es ist nicht das, was mich so zufrieden stellt. Ich glaube dieser Kick, oder wie auch immer, den kriegt man in der Schule nicht, ich sehe das im Moment nicht, ich weiß es nicht. Schule ist nicht mehr der eigentliche Lebensinhalt für mich. Das war irgendwann sicherlich mal anders.

Interpretation

Frau A, Sport- und Religionslehrerin an einer Realschule, befindet sich offenbar in einer krisenhaften Situation, die sie zur Zeit nicht lösen kann. Zwar liegt der dramatische Höhepunkt der Krise drei Jahre zurück, den sie mit totaler Erschöpfung und Arbeiten im „roten Bereich“ beschreibt; doch scheint die inzwischen erfolgte „Notbremse“ in Form von partieller Belastungsreduzierung noch zu keiner gelingenden Lösung der Problemlage zu führen. Als belastend in der Schule erlebt sie insbesondere die Organisation von Unterricht bei großen Klassen in einer Dreifachhalle und den Umgang mit Schülern, die sie als lauter, zügel- bzw. regelloser und draufgängerischer beschreibt. Sie wirkt insgesamt lustlos, überanstrengt, demotiviert und resigniert. Wie ist ihre Problemlage zu verstehen?

Ich greife für die Interpretation des Interviews im folgenden auf wesentliche Elemente der salutogenetischen Modellvorstellungen von ANTONOVSKI (1997) zurück. Ich frage insbesondere

  1. nach den sozialen Ressourcen bzw. der sozialen Unterstützung, die Frau A. erfährt und
  2. nach ihrem Kohärenzsinn, also der integrierenden Fähigkeit, die Situation zu verstehen, sie zu handhaben und das eigene Tun als bedeutsam bzw. sinnvoll zu erkennen.

Zunächst also zu den sozialen Ressourcen: Ihre Schilderungen zeigen in dieser Hinsicht eine doppelte Ambivalenz. Im Kollegium fühlt sie sich wohler aufgrund des neuen Rektors und insbesondere der neuen Konrektorin, die auch Sportlehrerin ist. Die Atmosphäre im Kollegium sei nun sehr positiv. Andererseits fühlt sie sich wenig beachtet („Ob ich da bin oder nicht, ist eigentlich scheißegal!“) Diese Äußerung spricht für Einsamkeit bzw. für das nicht selten auftretende „Einzelkämpfer- Dasein“ von Lehrern im Schulalltag. Jeder tut das seine und für sich. Von unterstützenden Kooperationen oder etwa kollegialer Beratung findet sich in dem zweistündigen Interview keine Spur.

Ähnlich ambivalent verhält es sich im privaten Bereich: Sie hat, was sie sich wünscht und ihr wichtig ist, nämlich eine Familie. Gleichwohl leidet sie unter der Mehrfachbelastung durch Arbeit, Haushalt und Familie und erlebt nachhaltige Beziehungsschwierigkeiten mit ihrem Mann, der als Sportlehrer und Trainer hoch aktiv und engagiert ist. Auch hier – so scheint es – empfindet sie neben der Belastung auch etwas Einsamkeit, jedenfalls wenig soziale Unterstützung. Immerhin deuten einige ihrer Äußerungen “gibst Du dieser Familie die größere Chance“) daraufhin, dass sie die privaten Schwierigkeiten jetzt offensiv zu beheben versucht und damit längerfristig gesehen auch an sozialer Unterstützung gewinnen kann, die sie derzeit im beruflichen und privaten Bereich nur wenig erfährt.

Ich komme zur zweiten Frage nach der Beschaffenheit des Kohärenzsinns mit den Elementen der Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit bzw. Sinnhaftigkeit des Tuns:

Ihre Äußerungen enthalten wenig Hinweise darauf, dass sie ihre Lebensumstände und Situation für nicht durchschaubar oder verstehbar hält. Im Gegenteil sprechen ihre ausführlichen und differenzierten Betrachtungen im Verlauf dieses zweistündigen Interviews dafür, dass sie sich intensiv um das Verstehen der Situation bemüht, ja dass die kognitive Auseinandersetzung mit ihrer Problemlage in Form der Generierung von Deutungsmustern geradezu der für sie dominierende Stil ist. Jedenfalls fällt es ihr nicht schwer, solche Deutungen zu entwickeln und es entsteht nicht der Eindruck, dass sie ihren Erklärungswert bezweifeln würde. Aber Verstehbarkeit heißt noch nicht Handhabbarkeit. Und hier tauchen erhebliche Schwierigkeiten auf.

Gerade im Kernbereich ihrer Tätigkeit, im alltäglichen Umgang mit den Schülern, fühlt sie sich auch körperlich überfordert. Sie spricht von organisatorischen Schwierigkeiten, die zu vielen, zu lauten, zu undisziplinierten und draufgängerischen Schüler unter der störenden Bedingung einer Dreifachhalle zu unterrichten. Aufgrund der verschlechterten eigenen körperlichen Voraussetzungen bedauert sie, sportlich im Unterricht nicht mehr so wie früher mitmachen zu können, was auch ihre Schüler kritisieren. Und Schüler-Kritik – Beispiel „Aufwärmen – Abkühlen“ – scheint sie zu treffen und zu verunsichern.

Sie reagiert auf diese Schwierigkeiten mit einer Strategie der doppelten Grenzsetzung. Wie in anderen Teilen des Interviews deutlicher wird, versucht sie problematische Situationen machtvoller und rigider zu bewältigen; sie setzt den Schülern verbindlichere Grenzen. Zugleich bemüht sie sich, ihre eigene Betroffenheit zu reduzieren, indem sie sich von den Schülern und dem Geschehen abgrenzt. Am Beispiel eines Schülers, der andere krankenhausreif prügelte, erläutert sie, dass sie heute solche Situationen oberflächlich regele und darauf achte, dass sie das Geschehen nicht mehr so berühre wie früher. Heute könne sie sich besser abgrenzen. Diese Strategie der doppelten Grenzsetzung scheint im Falle der Frau A. allerdings auch doppelbödig zu sein. Denn einerseits kann sie mit dieser „Überlebens- Strategie“ ihre Belastungen reduzieren und eine Art Selbstschutz gewinnen; andererseits läuft sie Gefahr, durch die Abgrenzung und Distanzierung von ihren Schülern ihre eigenen erzieherischen Ansprüche aufs Spiel zu setzen und ihre Lehrtätigkeit zu entwerten.

Damit sind wir beim 3. Element des Kohärenzsinns: der Sinnhaftigkeit des Tuns. Ihre Aussagen fallen in dieser Hinsicht zahlreich und eindeutig aus: „Schule nur, immer nur unterrichten, ist inhaltlich zu wenig“ sagt sie und wenig später ergänzend „Und ich sehe auch immer größere Schwierigkeiten für mich, …, da noch etwas zu bewirken“ und schließlich „Schule ist nicht mehr der eigentliche Lebensinhalt für mich“. Unterrichten ist zu wenig, bleibt wirkungslos, ist kein zentraler Lebensinhalt mehr – klarer kann man Zweifel an der Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns als Lehrer kaum ausdrücken. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch ihre Äußerung „…denk’ ich, mit Erwachsenen muss ich was zu tun haben, nicht nur mit Kindern“ und als wenn ihr diese Feststellung selbst suspekt erschiene, fügt sie bekräftigend an, dass auch andere Lehrer so dächten. Die schützende Abgrenzung von den Schwierigkeiten mit Unterricht und Schülern gerät hier zur inneren Abkehr. Ihre Tätigkeit erfüllt sie nicht mehr und hat an Bedeutung und Sinn verloren. Alternativen sind vorerst nicht in Sicht.

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