Hinweis – Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

[…] Der folgende Text aus einem Grundschulzeugnis belegt, wie begrenzt auch verbale Leistungsurteile im Blick auf eine systematische Wahrnehmung und diagnostische Begleitung von Kindern sein können. Simon ist Schüler einer 2. Klasse und erhält nachfolgendes Halbjahreszeugnis:

Hinweise zu den Lernbereichen/Fächern: Simon zeigte sich aufgeschlossen gegen­über allen schulischen Aufgaben. Er war aktiv am Unterricht beteiligt. Es fiel ihm allerdings nicht leicht, ausdauernd zu arbeiten. Beim Lesen erfasst er einige Wörter ganzheitlich, aber schwierige Buchstabenverbindungen analysiert er zu langsam. Es fällt ihm schwer, Textinhalte wiederzugeben. Sein Schriftbild ist sauber. Die Rechenschritte der Addition und Subtraktion bis LOO kennt Simon und überträgt sie zum Teil erfolgreich auf die verschiedenen Aufgabentypen.

Bemerkungen: Simon ist ein Naturfreund und kann stets etwas berichten. In die Lerngruppe ist er inzwischen integriert.

Bei diesem Zeugnis fällt zunächst auf, dass Simon nur indirekt angesprochen wird, denn mit der Wahl der dritten Person geht ein Sprachgestus einher, der eindeutig die Eltern als Adressaten meint. Hier wird ein Kind „beschrieben“, nicht aber sein Ler­nen in Absicht darauf, sich mit ihm selbst darüber zu verständigen. Dass erwachsene Leser und Leserinnen primär zum Adressatenkreis des Zeugnisses gehören, zeigt sich auch am Fachjargon des Textes: Beim Lesen erfasst er einige Wörter ganzheit­lich, aber schwierige Buchstabenverbindungen analysiert er zu langsam. In den Äußerungen zum Lesen, Schreiben und Rechnen versucht die Lehrerin durch kurze zusammenfassende Einschätzungen eine Auskunft zum fachlichen Leistungsstand zu geben. Erreichtes wird hervorgehoben: Sein Schriftbild ist sauber. Fortschritte klingen an oder werden zumindest als Teilerfolge verbucht: Die Rechenschritte der Addition und Subtraktion bis 100 kennt Simon und überträgt sie zum Teil erfolgreich auf die verschiedenen Aufgabentypen. Dass in dem Text das Hauptaugenmerk der Frage gilt, inwieweit der Schüler die curricularen Erwartungen erfüllt hat, verwun­dert nicht, wenn man die im Zeugnis vorgesehene Rubrizierung betrachtet: Es sollen „Hinweise zu den Lernbereichen/Fächern“ gegeben und „Bemerkungen“ dazu aus­gesprochen werden. Zunächst aber lesen sich die Formulierungen der Lehrerin eher wie eine Bilanz, die semantisch gesehen die zeitliche Perspektive des Gewesenen im Auge hat. Doch an welcher Stelle wird der Anspruch auf Entwicklungsmöglichkei­ten eingelöst, der sich ja darin zeigen könnte, dass dem Kind verhaltensnutzbare Hinweise für sein Lernen gegeben werden? Man kann lediglich und nur ansatzweise bei der Feststellung, es bereite Simon Probleme, ausdauernd zu arbeiten, entnehmen, dass er der Förderung und Unterstützung für seine Ausdauer und Kontinuität beim Lernen bedarf. Bei seinen Schwächen im Textverständnis oder in der Anwendung von Rechenschritten auf unterschiedliche Aufgabenstellungen weist der Text deutli­che Informationsdefizite auf: Welche Lernvoraussetzungen hat Simon mitgebracht, an welchen Texten und Aufgabenstellungen zeigen sich die beschriebenen Proble­me, Schwächen oder Defizite? Welche Kompetenzen müssten zu deren Überwin­dung hervorgebracht und entwickelt werden? Gerade notwendige Hinweise, die für das Kind förderlich wären und es zu weiterer Anstrengung ermutigen könnten, feh­len. Auch die „Bemerkungen“ greifen sie nicht auf, sondern setzten die an summativer Rückschau orientierte Tonart fort: Simon ist ein Naturfreund und kann stets etwas berichten. In die Lerngruppe ist er inzwischen integriert. Immerhin weisen diese beiden Sätze den grundsätzlichen Duktus der Anerkennung aus. Simon kann etwas, er hat eine besondere Kompetenz: Er interessiert sich für Naturphänomene und vermag aus diesem Bereich auch etwas berichten. Überdies ist er nicht isoliert, sondern in seiner Lerngruppen eingebunden, was offensichtlich eine Entwicklung dokumentiert, wie das temporale Adverbium „inzwischen“ belegt. Darüber hinaus fehlen diesem verbalen Zeugnis weitergehende Erläuterungen, die die Stärke des Kindes hervorheben und als Kompetenznachweis bzw. als selbst erbrachte Leistung ihm explizit verdeutlichen. Es wird nicht weiter dargestellt, auf welche Weise der Junge den Unterricht durch Beobachtungen in der Natur bereichert. Auch wird nicht die Frage geklärt, welche Entwicklung Simon durchlaufen hat, um seine Beziehung zur Lerngruppe zu verändern: Der Erfolg wird bescheinigt, der Prozess allerdings nicht beschrieben. Damit wird eine spezifische Qualität des Zeugnisses vergeben, die darin liegen könnte, erfolgreiche Aspekte des Lernens zu dokumentieren und als leistungsfordernde Größe zu nutzen, die ihm Selbstwirksamkeit bestätigt.

Fasst man die aus dieser Interpretation gewonnenen Einsichten zusammen, so muss kritisch angemerkt werden, dass bei diesen verbalen Leistungsurteilen eine Parallele zum Notenzeugnis nahe liegt, denn es wird ein Mitteilungsgestus angeschlagen, der der für Notenzeugnisse typischen Polarität im Sinne von „Leistung erreicht“ versus „Leistung nicht erreicht“ entspricht. Auf diese Weise bleibt der Zusammenhang von diagnostiziertem Verhalten und dessen prognostischer Fortentwicklung, bleiben aber auch die Möglichkeiten pädagogischen Handelns unerwähnt. Sie kommen schon gar nicht für den ohnehin nicht angesprochenen Schüler Simon in den Blick; sie werden aber auch nicht für die (sprachlich gesehen) eigentlichen Adressaten, die Eltern, sichtbar. Zwar kann man erkennen, dass individuelle Fortschritte von der Lehrerin bemerkt werden, doch dominiert die Orientierung an der curricularen Bezugsnorm.

Wo wir solche Beispiele „differenzierter Leistungsbeurteilung“ finden, ist zu vermu­ten, dass eine professionelle Beobachtungshaltung, eine kindliche Rezeption berück­sichtigende Dokumentationssicherheit bereits im Unterricht, aber auch die Fähigkeit einer mehrdimensionalen – Lernkompetenzen und -defizite, Zugangsweisen und Interessensschwerpunkte berücksichtigenden – Reflexion von Leistung eine Ent­wicklungsgröße bei den Lehrenden als Personen und beim Kollegium ist, der durch künftige systematische Forschung und Begleitung nachgegangen werden muss.

Mit freundlicher Genehmigung des Schneider Verlages.
http://www.paedagogik.de/index.php?m=wd&wid=1307
 

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