Hinweis – Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Einleitende Bemerkungen

[…] An unseren Forschungen, über die wir hier sehr selektiv berichten, wirkten Jugendliche im Alter von 11 bis 17 Jahren mit. Die Teilnehmer besuchten zum Zeitpunkt der Untersuchung unterschiedliche Schultypen. Im Folgenden beziehen wir uns auf eine einzige Gruppendiskussion, die im März 2000 von drei Gymnasiastinnen und einem Gymnasiasten im Alter von 13 bzw. 14 Jahren bestritten wurde. Die Diskussion fand in einem Raum einer katholischen Gemeinde statt, aus deren Jugendgruppe die Forschungspartner rekrutiert wurden. Zur Teilnahme meldeten sich die Jugendlichen freiwillig, als sie im Rahmen eines ihrer Treffen von dem Diskussionsleiter gefragt wurden, ob sie Lust hätten, sich zu je vier Diskutanden an einem Gruppengespräch zum Thema „Geschichte“ zu beteiligen. Die Teilnehmer besuchten damals die achte Klasse derselben Schule einer mittelgroßen Stadt im Südwesten Deutschlands. […]

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

 

Karin: Da fehlt eigentlich/die Sachen, die einen interessieren, die lassen se dann weg“ (Z.781f.)
Achim: Oder zum Beispiel halt, ich sag jetzt mal, is jetzt n krasses Beispiel aber ich glaub über Hippies und son Kram steht überhaupt nichts im, äh, Geschichtsbuch, über die Zeit halt. Wo die Revolution anfing, ist ja auch etwas Geschichtliches. (Z.817-821)

Den Untersuchungsteilnehmern ist klar, dass das, was sie im Geschichtsunterricht mitbekommen oder in ihrem Geschichtsbuch lesen, niemals die „ganze“ Geschichte ist, sondern eine starke Selektion aller möglichen historischen Phänomene. Dieses Bewusstsein ist allerdings um so schmerzlicher, als im Zuge der schulischen Auswahl genau die Aspekte von Geschichte weggelassen werden, über die die Jugendlichen besonders gerne etwas erfahren würden: „Die Sachen, die einen interessieren, die lassen se dann weg“. Der Selektion zum Opfer fallen nicht zuletzt Teile der neuesten Geschichte wie die „Hippie-Zeit“ oder die „68’er Revolte“.

Es ist den zitierten Äußerungen nicht ganz zu entnehmen, ob die Forschungspartner allein um die Unmöglichkeit einer unter bestimmten empirischen Rahmenbedingungen – etwa der Schulwirklichkeit – vollständigen Geschichtsdarstellung wissen oder ob sie die logische Unmöglichkeit einer totalen Geschichtsschreibung anerkennen. Jedenfalls ist ihnen klar, dass in konkreten Situationen der Geschichtsvermittlung selegiert und eine selektive Ordnung geschaffen wird. Dieses Wissen von der Vielstimmigkeit des historischen Materials, die immer nur ausschnitthaft zum Sprechen gebracht werden kann in Abhängigkeit situations-, macht- und zeitgebundener Faktoren, ist selbst wiederum kulturhistorisch bedingt, keineswegs immer schon vorhanden gewesen und in seiner Betonung von Pluralität spezifisch modern.

Mit freundlicher Genehmigung des Forums Qualitative Sozialforschung.
http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/view/904
 

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