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Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

In einer Unterrichtsstunde von Frau Hansen bekommen die SuS* eine benotete Aufgabe zurück. Interessant ist hier die Reaktion von Luis, der anstatt eine 1 wie alle anderen Kinder nur eine 1- auf die Aufgabe erhalten hat.

Alle haben eine Eins. Nur Luis hat eine 1-, da er den Zettel mit dem Witz nicht in sein Heft über seinen Comic geklebt hatte. Er hat den Zettel verloren.

Luis:  „Ich versteh das nicht! Alle haben eine 1. Nur ich hab eine 1-. Warum?“
Frau H.:  „Luis, ich hab keine Lust, dir ständig hinterher zu kopieren.“

Ähnlich wie gestern verhält Luis sich nach dieser Situation sehr ruhig. Er stützte seinen Kopf auf seine Hände und spricht für die restliche Stunde kein Wort mehr. (Auszug aus dem Protokoll 2.2)

Im Allgemeinen wird eine 1- von den SuS eigentlich nicht als schlechte Bewertung wahrgenommen. In dieser Situation haben aber alle Kinder bis auf Luis eine glatte 1 bekommen, sodass Luis diese Leistungsbewertung durchaus als eine negative Rückmeldung wahrnehmen kann, wenn er sie im Klassenvergleich betrachtet. Es kommt hier aber noch ein entscheidender Aspekt hinzu. Das Feedback wird hier in einem kontrollierenden Kontext mit kritisch bewertender Absicht gegeben. Frau Hansen begründet die Notengebung damit, dass er das Aufgabenblatt schon wieder verloren hätte. Damit bezieht sie das Arbeitsverhalten von Luis in die Note ein, anstatt sich nur auf die erbrachte Leistung und die damit verbundene Kompetenz zu konzentrieren. Im Anschluss an diese negative Rückmeldung nimmt er eine ablehnende Körperhaltung ein und verweigert für die restliche Stunde die Mitarbeit am Unterricht. Der Grund für diese Reaktion könnte sein, dass Luis sich durch das negative Feedback in seiner Kompetenz nicht wahrgenommen fühlt.

Doreen zeigt in der folgenden Szene eine etwas andere Reaktion auf eine negative Rückmeldung in Form einer als schlecht wahrgenommen Note.

Als Doreen ihre Note bekommt, wird sie ganz still. Sie drückt ihren Rückmeldebogen ganz eng an ihren Körper und geht langsam zu ihrem Platz. Von der Notenbesprechung weiß ich, dass sie eine 3+ bekommen hat. Sie sieht sich im ganzen Klassenraum um. Dann steckt sie ihren Bogen langsam ein, sodass keiner ihre Note sehen kann. Sie spricht fast 10 min kein Wort. Die anderen Kinder sprechen sie auch nicht an. Aber dann wird sie wieder gesprächiger und bearbeitet gemeinsam mit ihrer Sitznachbarin Kate eine Aufgabe aus ihrem Deutschheft. Sie hängen sich über ihre Hefte, schreiben gelegentlich etwas auf, sprechen miteinander und kichern. (Auszug aus dem Protokoll 2.3)

Auch Doreen wird nach dem Erhalt dieser negativen Rückmeldung erstmal ein wenig ruhiger. Sie verhält sich zurückhaltend und spricht mit niemandem. Die Kinder akzeptieren ihren Rückzug und sprechen sie nicht an. Nach einiger Zeit geht sie von allein auf ihre Freundin Kate zu und arbeitet mit ihr gemeinsam an ihren Wochenplanaufgaben weiter. Den Zeitpunkt für die Wiederaufnahme ihrer Mitarbeit bestimmt sie selbst. Doreen ist sehr gut in die Klassengemeinschaft integriert. Sie versteht sich mit allen Kindern und ist fest in eine befreundete Mädchengruppe integriert. Das spiegelt sich auch darin wieder, dass die SuS ihren Rückzug akzeptieren. Ich vermute, dass der hohe Grad ihrer sozialen Eingebundenheit letztendlich zu ihrer Überwindung führt, die Note hinter sich zu lassen und mit Kate zusammen weiterzuarbeiten. Aus einem Gespräch mit Doreen geht hervor (P 10.1), dass sie generell mit ihren Noten zufrieden ist, auch wenn sie besser sein könnten.

Die beschriebenen Verhaltensweisen von Doreen geben Grund zur Annahme, dass sie eine relativ gelassene Haltung gegenüber negativen Feedbacks in Form von Noten hat. Das könnte zum einen an ihrer Einstellung dem Unterricht gegenüber liegen, der ihr Spaß macht. Zum anderen nehme ich an, dass auch hier die soziale Eingebundenheit in die Klassengemeinschaft eine bedeutende Rolle spielt. Aus den beschriebenen Faktoren leite ich ab, dass Doreen im Unterricht im hohen Maße selbstbestimmt handelt.

*SuS = Schülerinnen und Schüler

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