Fälle aus gleicher Erhebung:

 

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

In einer Unterrichtsstunde von Frau Hansen haben die Kinder die Aufgabe, für das Gedicht „Ball der Tiere“ weitere Reime zu finden. Die meisten Kinder dieser Klasse sprechen zu Hause mit dem einen Elternteil Chinesisch oder Japanisch und mit dem anderen Elternteil Deutsch. In der Schule lernen sie zusätzlich Englisch. Es ist also zu beachten, dass die Kinder drei Sprachen parallel lernen müssen. Dies führt dazu, dass die Kinder zwar sehr viele Wörter kennen, aber eben in unterschiedlichen Sprachen. So kommt es zu Lücken in den verschiedenen Grundwortschätzen. Die Lehrerin ist sich laut eigener Aussage bewusst, dass die Aufgabe für die Kinder eher schwierig zu bewältigen ist, da ihnen der nötige Wortschatz fehle. Die Aufgabenstellung orientiert sich also eher weniger an dem gegebenen Kompetenzniveau der Kinder und stellt sie damit vor eine relativ hohe Herausforderung. Die Reaktionen der Kinder fallen unterschiedlich aus.

 „Laura soll mit Luis zusammenarbeiten, aber sie verschränkt die Arme und zieht beide Mundwinkel nach unten.

 Laura:             „Luis ist blöd.“
Frau H:          „Wenn du nicht mit Luis zusammen arbeiten willst, musst du dich zu einer anderen Gruppe dazu setzen.“
Laura:            „Das will ich aber nicht!“
Frau H:          „Dann musst du eben alleine arbeiten.“

Luis setzt sich zu Akim und Sascha. Laura lehnt sich über ihr Blatt. Sie redet mit niemanden und schreibt nichts auf. Sie stöhnt gelegentlich laut auf und verdreht die Augen.

Laura:            „Ich versteh das nicht!“
Ich:                 „Was verstehst du nicht?“
Laura:            „Na, was wir machen sollen.“
Ich:                 „Ihr sollt das Gedicht weiter dichten mit anderen Tieren und anderen Reimen.“
Laura:            „Hää?“
Ich:                 „Da steht doch: Wo sollen wir tanzen, fragen die Wanzen. Jetzt kannst du dir zum Beispiel eine andere Frage und ein anderes Tier ausdenken und einen Satz bilden, der sich reimt.“
Laura:            „Das ist viel zu schwer. Das kann ich nicht…“
Ich:                 „Versuch’s doch erst mal und gib nicht gleich auf, ok?“

 Daraufhin zuckt Laura nur mit den Schultern. Alle anderen Kinder unterhalten sich angeregt mit ihren Partnern oder Partnerinnen. Ich gehe zu Katja und Maja und sie lesen mir ihren ersten Satz vor.

 K u. M:           „Auf dem Rasen, schreien die Hasen.“

 Ihre Zeile soll eine Antwort auf die Frage nach dem Tanzort der Wanzen sein. Alle Kinder haben sichtlich Schwierigkeiten damit, weitere Reime zu finden. Frau Hansen wendete sich im Laufe der Bearbeitung an mich.

Frau H:          „Die bekommen keine Reime hin, weil sie zu wenige Wörter kennen. Denen fehlt einfach der Wortschatz.

[…]“ (Auszug aus Protokoll 4.2)

Laura stuft diese Aufgabe eindeutig als zu schwer ein. Das mindert stark ihre Bereitschaft, sich überhaupt auf die Aufgabe einzulassen. Die anderen Kinder haben zwar auch ihre Schwierigkeiten, aber sie setzen sich intensiv mit der Aufgabe auseinander ohne sich entmutigen zu lassen. Wenn sie einen Reim gefunden haben, wollen sie ihn unbedingt laut vorlesen. Ich kann mich daran erinnern, dass in dieser Unterrichtsstunde viel gelacht wurde, da die Kinder letztendlich doch ein paar lustige Reime finden konnten.

Der größte Unterschied zwischen Laura und den restlichen SuS* in dieser Szene ist, dass sie versucht, die Aufgabe ganz alleine zu bewältigen und die anderen mit ihren Sitznachbarn zusammen arbeiten. Ich konnte mehrmals beobachten, dass Laura die Zusammenarbeit mit anderen Kinder verweigert- Aus einem Gespräch mit ihr ging hervor, dass sie nicht gerne in die Schule geht und lieber alleine ist. Aus meinen gesammelten Erfahrungen mit der Klasse schließe ich, dass Laura eher schlecht in die Klasse eingebunden ist. Die anderen Kinder ignorieren oder ärgern sie zwar nicht, aber sie hat keine Freunde in der Klasse. Auch die Lehrpersonen sind häufig von ihrem Verhalten genervt und schlecht auf sie zu spreche. Aus der mangelnden Arbeitsbereitschaft und der fehlenden sozialen Eingebundenheit lässt sich ableiten, dass Laura eher weniger selbstbestimmt handelt, sondern sich dazu verpflichtet fühlt, sich mit dieser Aufgabe auseinanderzusetzen. Die anderen SuS zeigen eine hohe Bereitschaft, sich mit einer für sie schweren Aufgabe zu beschäftigen und  Anzeichen von Freude an der Aufgabe. Dies lässt vermuten, dass die Kinder in einem hohen Maße selbstbestimmt handeln und ihre Motivation positiv von ihrer hohen sozialen Eingebundenheit unterstützt wird.

 *SuS = Schülerinnen und Schüler

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