Hinweis – Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Einleitende Bemerkungen

Studierende treffen in ihren Praktika immer wieder auf Lernsituationen, in denen sie selbst oder mit Hilfe der Lerngemeinschaft von Seminaren exemplarische Einsichten darin gewinnen, wie Kinder ihre Lernprozesse wahrnehmen und deuten und wie sie selbst die Lernprozesse der Kinder verstehen. Solche Einsichten in Lernverhalten oder (metakognitiv verfügbare) Lerngewinne eines Kindes bzw. eines Studierenden bezeichne ich als Schlüsselsituationen. Ich leite den Begriff von Mechthild Dehns Schlüsselszenen ab. Sie versteht darunter „unerhörte Begebenheiten“, in denen ein Kind in der „Ambivalenz“ zwischen Bekanntem und Unbekanntem einen Verständniszuwachs (im Schriftspracherwerb) gewinnt (Dehn 1994, S. 17). Auch die von mir beschriebenen Schlüsselsituationen sind „unerhörte Begebenheiten“ — im wörtlichen Sinn: unerhört so lange, bis die Beobachterin/der Beobachter die Lerneinsicht bzw. den Lerngewinn wahrnimmt. Die Situation unterscheidet sich von der Szene inhaltlich erstens dadurch, dass in den Schlüsselsituationen die Kinder Einsichten äußern oder in ihren Handlungen Einsichten deutlich werden lassen, die der professionellen Lernbegleiterin/dem Lernbegleiter in diesem Moment und im Bezug auf dieses Kind neu sind; zweitens kann die Schlüsseleinsicht auch die Studierenden im Hinblick auf deren pädagogisch-diagnostisches Vorverständnis und dessen professioneller Erweiterung bzw. Präzisierung betreffen. Der formale Unterschied zur Schlüsselszene besteht darin, dass das Kind in der Schlüsselsituation nicht in jedem Fall von sich aus im Moment des Geschehens eine neue Einsicht gewinnt. Vielmehr sehe ich die Schlüsselfunktion in der Interpretierbarkeit auf pädagogisch-diagnostische Einsichten hin. Das „Schlüsselerlebnis“ hat demnach zunächst die/der den Lernprozess Begleitende, die/der in der Verantwortung steht, die Einsichten im Sinne einer lernfeldbezogenen pädagogischen Diagnostik in die weitere Gestaltung von Lern- bzw. Spielangeboten einfließen zu lassen, so dass das Kind auf der Basis seiner Verstehensvoraussetzungen weitere Lernschritte gehen kann.

In den in diesem Beitrag dargestellten Schlüsselsituationen wird die Schlüsseleinsicht durch die gemeinsame Reflexion in der theoriegestützten Seminarauswertung mit Lehramtsstudierenden bewusst gemacht. […]

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

1. Die Aufgabensituation

Das Tagespraktikum der ersten Klasse, mit dem die Studierenden das fünfwöchige Schulanfangspraktikum mit einem Hospitations- und Unterrichtstag pro Woche von Oktober bis Februar fortsetzten, hatte im Rahmen der Theorie-Praxis-Integration die Planung, Reflexion und Dokumentation von Fördermaßnahmen [1]  zum Schwerpunkt. Für zehn Fördermaßnahmen, die mit einzelnen oder mehreren Kindern durchzuführen waren, legten die Studierenden eine Analyse der Lernmöglichkeiten der geplanten Aufgabenstellung mit Sach- und Situationsanspruch vor. Diese Lernstrukturanalyse (s.o.) soll die Studierenden in die Anforderungsstruktur einer Aufgabe unter Einbeziehung und Beachtung der Aufgabensituation einführen. Der dafür notwendige analysierende und reflektierende Blick auf Lernmaterial und Aufgabenstellungen kann – gegen eine hier und da anzutreffende „Perforationsdidaktik“, die vorschnell Aufgabenangebote kopiert – damit unter der Fragestellung trainiert werden: Kann das Material/die Aufgabe überhaupt den anvisierten Lernschritt ermöglichen (Diagnose-Förder-Zirkel) ?

Mae-Nele Neiß hat folgende Lernbeobachtung im Rahmen einer mathematischen Fördermaßnahme gemacht.

2. Die Schlüsselsituation

Der Erstklässler Hassan soll im Bereich Mathematik die Mengenerfassung der Zahl fünf anhand der Fünferbündelung vollziehen lernen. Die Studentin gibt als Lernvoraussetzung an:

a)    Hassan kann verbal bis 20 zählen und die entsprechenden Zahlensymbole lesen;

b)    im angegebenen Zahlenraum gelingen ihm Mengenvergleiche im Sinne der größer/kleiner-Relation;

c)    Aufgaben (Anzahlerfassung, Additionsaufgaben) im Zahlenraum von zehn bis 20 kann er durch Abzählen (jeweils ab eins) lösen.

Mae-Nele Neiß legt als Förderidee fest: Fünferbündelung erarbeiten und stabilisieren; Kardinalzahlaspekt (Anzahl bestimmen) erlangen.

Ihr Material und ihre Aufgabenstellung für die Einzelförderung sind: eine große Menge Kastanien, 26 lange Streichhölzer ohne Schwefelkopf, vier DIN A 4 Blätter. Die Arbeitsaufträge lauten:

a)    Lege fünf Kastanien von dem Kastanienhaufen in eine Reihe auf das Blatt. Wie viele Kastanien bleiben übrig?

b)    Ordne jeder Kastanie ein Streichholz zu und lege es unter die Kastanie.

c)    Erwachsene legen das fünfte Streichholz quer über die vier ersten, damit sie schneller erfassen können, wie viele Kastanien es sind.

 Quelle: Nachvollzug der Aufgabenlösungen Hassans mit Materialien im Seminar. [2]

Bei der Zahl zehn entdeckt er selbstständig, dass er zwei Mal eine Fünferbündelung vornehmen kann, was er bei der Zwölf wiederholt.

Als Lernmöglichkeiten der Aufgabenstellung formuliert Mae-Nele Neiß:

a)    Üben der Repräsentationsebenen (enaktiv, ikonisch, symbolisch);

b)    aktive Teilnahme am Lernprozess; „lernen über den Handlungsbereich“;

c)    Erfassen der Anzahl fünf; Kardinalzahl (Anzahlbestimmung) stabilisieren.

Tatsächlich ermöglicht die Aufgabenstellung, dass Hassan schon beim Herausnehmen von sechs, acht, zehn und zwölf Kastanien verschiedene Strategien anwenden könnte. Er könnte abzählen, simultan erfassen, aufteilen, er könnte die Strategien bei einer Menge auch mischen. Das ermöglicht der Studentin erneut eine Diagnose. Sie beobachtet Folgendes: Bei sechs und acht greift Hassan sofort mit der einen Hand drei, mit der anderen zwei Kastanien; bei zehn nimmt er simultan fünf und noch mal fünf; bei zwölf greift er fünf plus fünf plus zwei.

3. Analyse

Durch die starke Strukturierung der Aufgabe produziert Hassan qua Handlung mit den verschiedenen Mengen (Kastanien, Streichhölzer) auf der enaktiven Repräsentationsebene stets das gleiche Bildmuster. Die Variation der Aufgabenstellung ist ganz gering, was der Wiederholung zu Gute kommt.

Den Aspekt des selbst Entdeckenden nutzt Hassan ab der Zahl zehn. Beim Aufräumen der Materialien – Frau Neiß hatte die Kastanien bereits eingesammelt – beharrte er darauf, die Gesamtmenge der Streichhölzer zu zählen. Er tat dies auf dem Wege des abkürzenden Zählens[3] : „fünf, zehn, 15, 20, 25 [Bei diesem Fünferschritt hat Hassan die drei und zwei einzeln liegenden Streichhölzer der Zahlen zwölf und acht simultan als fünf erfasst.] und noch eins – 26.“

Welche Schlüsseleinsicht gewährt die Situation?

Hassan hat in der durch strukturierte Wiederholung charakterisierten Aufgabenstellung – und möglicherweise durch diese strukturierte Wiederholung – erstaunliche Erfolge in der Fünferbündelung und abkürzenden Strategien der Mengenerfassung erlangt. Das von Mae-Nele Neiß angegebene Förderziel hat er in der Lernsituation erreicht, indem sie im Rahmen ihrer Kompetenzorientierung an Hassans Zählkompetenz anknüpft und durch Aufgaben- und Materialstrukturierung Bündelungseinsichten ermöglicht.[4]

 

Fußnote:

[1] Im Rahmen der Praktikumsanforderungen galten als Fördermaßnahmen alle von den Studierenden vorbereiteten und mit einzelnen Kindern, Kindergruppen oder der gesamten Klasse durchgeführten Unterrichtsangebote, die in klarem Bezug zu ausgeführten Lernvoraussetzungsanalysen standen und mindestens zwanzig Minuten dauerten.

[2] 9 Das rechte fünfte Streichholz wurde zuerst in Eins-zu-Eins-Zuordnung unter die entsprechende Kastanie gelegt, danach als Bündelungsholz quer die ersten vier, so dass die Darstellung der Fünferbündelung handelnd nachvollzogen werden konnte.

[3] Folgender Hinweis zum Verständnis von Hassans Rechnung ist wichtig: Da Mae-Nele N. für die gleichzeitige Darstellung aller Zahlen auf der ikonischen Ebene nicht genügend Streichhölzer hatte, hatte sie die Streichhölzer von der Darstellung der Zahl zehn für die Zahl zwölf zur Verfügung gestellt, so dass jetzt 26 Streichhölzer da lagen.

[4] Zwei weitere im Lehramtsstudium gesammelte Schlüsselsituationen finden sich im Fallarchiv der Universität Kassel („Benjamin M. und die Zone der nächsten Entwicklung“ sowie „Lisa und der Strich im Heft“, Graf 2005b und c).

 

Literaturangaben:

Dehn, Mechthild (1994): Schlüsselszenen zum Schrifterwerb. Arbeitsbuch zum Lese- und Schreibunterricht in der Grundschule. Weinheim und Basel: Beltz.

Graf, Ulrike (2005b): Benjamin M. und die Zone der nächsten Entwicklung. In: http://www.uni-kassel.de/fbl/heinzePfallarchiv/store_faelle/graf_benjamin.html.

Graf, Ulrike (2005c): Lisa und der Strich im Heft. In: http://www.uni-kassel.de/fbl/heinzel/fallarchiv/store_faelle/graf_hsa.html.

 
Mit freundlicher Genehmigung des Schneider Verlages.
http://www.paedagogik.de/index.php?m=wd&wid=1307
 

Nutzungsbedingungen:
Das vorliegende Dokument ist ausschließlich für den persönlichen, bzw. nicht-kommerziellen Gebrauch bestimmt – es darf nicht für öffentliche und/oder kommerzielle Zwecke außerhalb der Lehre vervielfältigt, bzw. vertrieben oder aufgeführt werden. Kopien dieses Dokuments müssen immer mit allen Urheberrechtshinweisen und Quellenangaben versehen bleiben. Mit der Nutzung des Dokuments werden keine Eigentumsrechte übertragen. Mit der Verwendung dieses Dokuments erkennen Sie die Nutzungsbedingungen an.