Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Zusätzliches Material, das als Begleitmaterial bereitgestellt wird und das für die Analyse verwendet wurde, stellt u.a. die Abbildung des in dieser Stunde verwendeten Tafelbildes dar (URL: https://www.uni-muenster.de/Koviu/filme/index.html, Stand 24.02.2014) sowie die ebenfalls im Begleitmaterial enthaltenen Arbeitsblätter einiger Kinder (URL: https://www.uni-muenster.de/Koviu/filme/index.html, Stand 24.02.2014).

Analyse
Analysiert wird im Folgenden die Anfangssequenz der vorgefundenen Umsetzung. Im Anschluss wird kurz dargestellt, wie sich der weitere Verlauf der Themenvermittlung im Unterricht darstellte. Transkript und Analyse werden im Wechsel dargestellt; Begleitmaterial ggf. hinzugezogen, wenn das Unterrichtsgeschehen damit unmittelbar zusammenhängt.

Analyse der Anfangssequenz

Lehrerin: (unverständlich, vermutlich eine Äußerung zu den Personen im Raum, die Audio- und Videoaufnahmen machen und in diesem Moment ihre Geräte betriebsbereit machen) Setzt euch mal hin (diese Äußerung an die Kinder richtend).
Die Kinder setzen sich auf vier im Quadrat stehende Sitzbänke.
Lehrerin: Hier sitz´ ich. O.K.? (die Lehrerin schiebt mit diesen Worten zwei Kinder, die auf der Bank nebeneinander sitzen, auseinander, so dass sie genau gegenüber der Hauptkamera sitzt). Gut. Ähm. Geht das so, N. (Name einer Schülerin)? Ja, einigermaßen. Sonst ist da noch was. N. (Name einer Schülerin). Rutscht die Bank mal ein bisschen nach vorne. Genau. Ja. So ist´s besser.

Die Äußerung „Setzt euch mal hin” enthält zwei Elemente: zum einen handelt es sich um eine Aufforderung im Imperativ. Da es im Quadrat angeordnete Sitzbänke gibt, ist auch gleich klar, wie dieser Aufforderung nachzukommen ist. Zum anderen weist „mal” ansatzweise auf eine spontane Handlung mit Vorschlagscharakter hin (in der Art von Äußerungen wie „wir können es ja mal auf diese Weise ausprobieren”). Die Aufforderung „setzt euch” wird quasi in einem Atemzug mit der Spontaneität und Wahlfreiheit suggerierenden Sprachform „mal” verbunden. Dieser Widerspruch weist, auch in Verbindung mit dem Gesamtkontext, nämlich der bereits vorbereiteten Sitzbankanordnung, darauf hin, dass Spontaneität und Wahlfreiheit nur scheinbar gegeben sind. Lehrerin: Wir fangen an mit einem neuen Thema.
„Wir” als Pluralmarker bezieht sich am ehesten auf die im Raum befindlichen Personen. Dies sind naheliegender Weise die Lehrkraft und die Schülerinnen und Schüler (meist ist ja eine Lehrkraft im Raum und mehrere Schülerinnen und Schüler). „Wir” stellt sprachlich aus dem Komplementärverhältnis von Lehrer und Schülerinnen und Schülern ein Verhältnis von „gleichartigen Personen” her. „Wir fangen an”, geäußert von der Lehrkraft, suggeriert Konsens bzw. Gleichartigkeit, ohne dass geklärt ist, worüber dieser Konsens und worin diese Gleichartigkeit bestehen.
„Wir fangen an mit einem neuen Thema” weist darauf hin, dass ein neues Thema eingeführt wird. Dieses habennicht die Kinder vorgeschlagen, es wird von außen an sie herangetragen. Trotzdem wird durch das „wir” eine Art unterstelltes Einverständnis suggeriert. Die Formulierung „Wir fangen an mit einem neuen Thema” zeigt außerdem auf, dass das Thema nur den Kindern, nicht aber der Lehrkraft „neu” ist. Die Lehrkraft ist also eigentlich im „wir” gar nicht mit eingeschlossen.
„Anfangen” bedeutet außerdem den Beginn einer zumindest in groben Zügen schon festgelegten Handlungskette. Es muss dabei zwar noch nicht alles detailliert festgelegt sein, aber es ist zumindest der Endzweck bekannt oder antizipierbar. Die Initialhandlung muss in irgendeiner Grund-Folge-Relation zum Endzweck stehen. Damit deutet sich bereits in der Formulierung „Wir fangen an”, dass mit einer vorgegebenen Strukturierung zu rechnen ist. Das Wissen über diese Strukturierung liegt jedoch wiederum nur auf der Seite der Lehrperson. „Wir fangen an mit einem neuen Thema” lässt keinen Spielraum mehr, über das Thema oder die für die Themenerarbeitung vorgesehene Strukturierung zu verhandeln. Mit dem Sprechakt „Wir fangen an mit einem neuen Thema” wird nicht nur der Anfang dargestellt, sondern tendenziell bereits mit der Umsetzung begonnen. Der Themenanfang bekommt so verstärkt den Charakter der Initialisierung einer institutionellen Aufgabe. Man würde die Äußerung „Wir fangen an mit einem neuen Thema” vermutlich dann, wenn man kein Kontextwissen hätte, tendenziell in einem didaktischen Kontext verorten.
Die Formulierung „Wir fangen an mit einem neuen Thema” erschwert es einer Person, Widerspruch gegen sie einzulegen. Ein Nichtbefolgen der Aufforderung ist nicht vorgesehen. Es wird bei der Initiierung in der ersten Person Präsens Indikativ gesprochen, so, als sei der Vollzug bereits im Gange. Deskription und Vollzug fallen damit zusammen und ermöglichen prinzipiell kein In-Frage-Stellen des Vollzugs. Die Inklusionsform „Wir” trägt entscheidend zum Charakter der Auftragserteilung bei, verschleiert diesen Charakter aber, weil Scheinkonsens suggeriert wird („Sie fangen an” wäre dagegen eine reine Beschreibung, „Ihr fangt an” ein eindeutiger Imperativ). Die Frage, womit man anfängt, wird allein mit „einem neuen Thema” beantwortet. Der Inhalt ist den SchülerInnen nicht bekannt, sonst wäre das Thema nicht neu. Allenfalls können die Schülerinnen und Schüler schließen, dass das neue Thema zum Unterrichtsfach passen wird, hier also zum Sachunterricht. Zumindest wäre es sehr erklärungsbedürftig, wenn es nicht dazu passen würde. Die Schülerinnen und Schüler haben aber nur diesen Anhaltspunkt; konkret wissen sie zu diesem Zeitpunkt nicht, was das neue Thema ist.
Die Nennung der Kategorie „Thema” steht anstelle der Nennung eines konkreten Inhalts. Dies entspricht einer klassifikatorischen Auffassung von Lernstoff bzw. der klassifikatorischen Zerlegung von Lernstoff. Entsprechend lassen Sich-Bildende dann auch in Bezug auf Themen in ihren Kompetenzen prüfen, was eine ähnliche klassifikatorische Zerlegung bedeutet. „Thema” drückt aus, dass vom Lehrplan her gedacht wird. Auch im Begriff „Thema” klingt damit an, dass ein Inhalt zu erwarten ist, der top-down entwickelt wurde und an die Kinder herangetragen wird, nicht jedoch ein Inhalt, der von den Kindern selbst aufgeworfen und von der Lehrkraft aufgegriffen wurde.
Was ist allen bisherigen Überlegungen gemeinsam? Ihnen ist gemeinsam, dass weder auf der sachlichen noch auf der sozialen Ebene ein Arbeitsbündnis authentisch eingerichtet wird oder eine solche Einrichtung angebahnt wird.

Lehrerin: K. (Name einer Schülerin), magst du mal sagen, was wir heute als Erstes machen?

Die Lehrerin spricht ein Kind an, und dieses soll nun sagen, was als Erstes zu machen ist. Dies ist irritierend, denn „das Erste” muss ja Bestandteil des Neuen sein oder wenigstens zum Neuen hinführen. Die Situation, dass jemand, der unterrichtet wird und das Neue noch nicht kennt, dazu aufgefordert wird, zu sagen, was der erste Schritt des Unterrichts sein soll, stellt einen Widerspruch dar, denn eine Person kann dies nur leisten, wenn das Neue ihr schon bekannt ist. Dann ist sie aber auch nicht instruktionsbedürftig. Zu erwarten wäre, dass das Kind mit dieser Frage überfordert ist. Da es nicht einmal die Bezeichnung des Themas kennt, kann es unmöglich einen ersten Schritt zur Erschließung des Themas nennen. Der aufgezeigte Widerspruch zeigt sich auch in der Wahl des Wortes „machen” („was wir heute als Erstes machen”). „Machen” bedeutet immer die Ausführung von etwas, das schon festgelegt ist. Das Neue wird damit sprachlich tendenziell als bereits bekannt vorausgesetzt – dies ist ein Widerspruch in sich. „Machen” ist die ausführende Ausfüllung eines Programms oder Plans, der feststeht, also quasi das Exekutieren von etwas bereits Festgelegtem. Sprachlich wird damit unterstellt, dass die Schülerin nicht nur weiß, was in der heutigen Unterrichtsstunde Neues kommen wird, sondern dass sie auch die einzelnen Arbeitsschritte kennt.
Bezüglich der Frage, die die Lehrerin dem Kind stellt, fällt auf, dass es sich eigentlich um eine Aufforderung handelt. Diese ist aber so formuliert, als sei sie dem Wunsch des Kindes geschuldet. Dass „magst du” eine dem Wunsch einer spezifischen Person entsprechende Frage ist, wird in anderen Kontexten deutlich, z.B. in der Frage eines Erwachsenen an ein Kind bezüglich der Wahl einer Eissorte („Magst du Zitroneneis haben? Oder lieber Schoko?”). „Magst du mal sagen” lässt jedoch keine Wahlfreiheit und eigene Wunschäußerung zu, sondern die Formulierung definiert, was gemocht werden soll, nämlich, sich zu äußern. Statt einer Haltung, die dem Kind „den Wunsch von den Augen abliest”, wird hier etwas vom Kind eingefordert, man könnte auch sagen, die Wünsche werden dem Kind nahegelegt. Dies ist tendenziell eine manipulative Struktur.

K. (Schülerin): Piratengeschichte, erste Vermutung, Forscherfrage… (wird von der Lehrerin am Weitersprechen gehindert)

Auffällig ist, dass die Schülerin an der gestellten Frage nicht scheitert. Sie leistet der Aufforderung Folge. Die naheliegendste Erklärung ist, dass sie dies kann, weil es sich beim sog. ersten Schritt um ein Schema handelt, das in dieser Form immer zu Beginn der Auseinandersetzung mit einem neuen Unterrichtsinhalt zur Anwendung kommt. Neues würde in diesem Fall immer gemäß einer bestimmten Routine aufgeschlossen. Die Verfasstheit der Sache oder des Gegenstands würde die Art, wie er erschlossen wird, nicht berühren. Die Schülerin formuliert ihre Antwort in merkwürdig abgekürzter Form. Sie hätte beispielsweise alternativ sagen können „Zuerst erzählen Sie uns eine Piratengeschichte, dann äußern wir erste Vermutungen (und hier bliebe die Frage zu beantworten, wozu etwas vermutet wird!) und dann stellen wir eine Forscherfrage”. Die Schülerin nennt nur überschriftartige Schlagwörter in einer Reihung, spricht von diesen aber nicht als Aktivitäten. Auch dieses abgekürzte Angeben eines Schemas deutet darauf hin, dass Neues offenbar gewohnheitsmäßig in Form eines ritualisierten Procederes eingeführt wird. In der Antwort der Schülerin ist nichts vom Reiz des Neuen, von der Suggestionskraft des Unerschlossenen, vom lebendigen Geist der Innovation, zu spüren. Aufschlussreich ist an dieser Stelle die Kontexteinbindung. Die Kontexteinbindung verhindert auch, dass die Lesartenbildung zu spekulativ ausfällt, ohne, dass es für die Klärung der Fallstruktur dienlich ist. Die Schülerin bezieht sich in ihrer Äußerung auf den von der Lehrerin vor der Stunde verfassten Tafelanschrieb. Sie liest den Anfang dieses Anschriebs von der Tafel ab.

Abbildung 1 Tafelanschrieb. Quelle: URL: https://www.uni-muenster.de/Koviu/filme/index.html, Stand 24.02.2014

Die an das Kind gestellte Frage entpuppt sich an dieser Stelle als ein Auftrag zum Vorlesen. Die Frage entsteht, wozu es dient, dass das Kind das für alle gut Sichtbare noch einmal vorlesen soll. An der Tafel steht quasi die Gliederung der Unterrichtsstunde. Die Lehrerin hätte die Schülerin auch gleich dazu auffordern können, das auf die Tafel Geschriebene vorzulesen. Indem sie jedoch eine Frage stellt, wirkt ihr Auftrag, als würde er der Schülerin mehr Raum für Autonomie und Kompetenz zusprechen, als es tatsächlich der Fall ist. Die an das Kind gerichtete Frage der Lehrerin wirkt so, als fände hier lebendiger Unterricht statt. Tatsächlich soll die Schülerin jedoch nur etwas vorlesen, was bereits fertiges Konzept ist. Der Charakter des Spontanen entspricht gar nicht der Realität.

Lehrerin: Ja, warte kurz.

Die Schülerin hätte noch weiter vorgelesen, wird aber von der Lehrerin davon abgehalten („Ja, warte kurz”). Vermutet werden kann, dass die Art, wie das Kind den Tafelabschrieb herunterliest, der Lehrerin zu wenig betont war; tatsächlich ist das Vorlesen durch die Schülerin durch große Unterschiedslosigkeit hinsichtlich der Intonation geprägt. Man könnte sagen, das Kind leiert die aufgeschriebenen Dinge relativ mechanistisch herunter. Auch an dieser Stelle ist immer noch nicht klar, was das Neue ist, das Thema des Unterrichts sein soll. Vermutet werden könnte, dass es um Piraten geht. Die Piratengeschichte scheint zumindest wichtiges Element des neuen Themas zu sein. Die Piratengeschichte muss, wenn sie als „Erstes” drankommt, geeignet sein, zwingend auf das Neue hinzuführen. Was könnte an einer Piratengeschichte Unterrichtsstoff sein? Thema könnte z.B. sein, die Geschichte des Piratenwesens an den afrikanischen Mittelmeerküsten zwischen 1200 und 1600 oder am Horn von Afrika in der Neuzeit. Auch denkbar wäre es, „Piratengeschichten” als literarisches Thema bzw. literarische Gattung aufzugreifen. Beides erscheint einem als für Zweitklässler zu anspruchsvoll. Es bleibt dann noch eine dritte Möglichkeit, und zwar, dass die Piratengeschichte quasi als „Lockmittel” dient, um die Kinder für „das Neue” – was auch immer es sein mag – zu ködern bzw. den Unterricht interessant zu machen. Damit würde auch der Piratengeschichte etwas Manipulatives anhaften.
Als zweiter Punkt wird genannt: „Erste Vermutungen”. Vermutungen setzen immer das Bestehen einer Fraglichkeit voraus. „Erste Vermutung” lässt auch den Schluss zu, dass es weitere Vermutungen geben wird, man es also mit einer Kette von Vermutungen zu tun hat. Eine Kette von Vermutungen tritt nur dann auf, wenn Vermutungen aufeinander fußen, weil sie hintereinander überprüft wurden. Nur wenn eine erste Vermutung scheitert oder teilweise scheitert, muss eine neue aufgeworfen werden, die anders und besser ist als die erste. Auf diese Weise entsteht eine Kette von Vermutungen.
Es ist weiterhin unklar, welche Fraglichkeit durch eine Piratengeschichte aufgeworfen  werden kann, die zum Äußern einer ersten Vermutung führt. Denkbar wäre z.B., dass sich Piraten die Frage stellen, wo sich Schiffe befinden, die es zu kapern lohnt. In Piratengeschichten geht es häufig darum, sich Reichtum durch mutige, aber kriminelle Handlungen zu verschaffen. Wenn Piraten Reichtümer, die sie erobert  haben, verstecken, knüpfen daran oft andere Geschichten an, die keine Piratengeschichten mehr sind, sondern Geschichten derer, die Schätze suchen.
Das Kind spricht die drei Dinge, die es von der Tafel abliest, relativ unbetont aus, fast so, als sei daran alles geläufig. Bei genauerer Betrachtung fällt aber auf, dass diese drei Begriffe alles andere als Struktur und Inhalte klärende Beschreibungen sind. So fehlt z.B., wie aufgezeigt, an der Stelle zwischen „Piratengeschichte” und „erster Vermutung” das Bindeglied. Unklar bleibt auch, ob die Piratengeschichte vielleicht schon Vermutungen enthält oder wie Piratengeschichte und Vermutung miteinander in Beziehung stehen.
Als dritten Begriff liest das Kind „Forscherfrage” vor. Die erste Vermutung muss ja aber schon die Reaktion auf eine Frage darstellen. Offenbar sieht das angeschriebene Konzept aber vor, dass die Forscherfrage bereits die Steigerung einer wesentlich basaleren Frage ist. In der Forscherfrage muss, so kann ausgehend von dem Gedanken einer Kette von Vermutungen, überlegt werden, z.B. schon ein methodischer Aspekt enthalten sein, der die erste Vermutung überprüfen zu helfen in der Lage ist. Damit würde die Forscherfrage eine Steigerung durch Methodisierung der ersten Vermutung darstellen.
Der Ausdruck „Forscherfrage” macht aus dem Forschen tendenziell eine Berufsbezeichnung oder erhebt das Fragen und Forschen zur Expertenqualifikation, wohingegen Forschen einen Typus des Fragens und Beantwortens bezeichnet, der prinzipiell jedem offensteht, nicht aber nur einigen wenigen vorbehalten ist. Gerade im Fall von Kindern deutet vieles darauf hin, dass sie quasi naturwüchsig neugierig sind, dass also forscherisches Denken und Handeln typisch für alle bzw. viele Kinder ist und sie daher weder dazu erzogen noch ausgebildet werden müssen. Forschen bedeutet gerade, und so wird es von Kindern üblicherweise praktiziert, Fragen um ihrer selbst willen zu stellen und nicht aus praktischer Notwendigkeit heraus. Auch dies macht es jedem jederzeit möglich, daran teilzuhaben. Indem Forschen aber als Spezialgebiet dargestellt wird, wird es den Kindern tendenziell weggenommen. Forschen kann man vor allem gut unter den Bedingungen der Muße, also in Situationen, in denen einem Zeit und Ressourcen zur Verfügung stehen und man den Kopf frei hat, um in alle Richtungen zu denken.
Das Tafelbild suggeriert, dass gerade die Anfangssequenz des Unterrichts durch Vergemeinschaftung geprägt ist. Der Kreis – als Symbol für Gruppenarbeit – ist eine sehr demokratische Struktur, alle haben die gleiche Position, die Mitte ist nicht besetzt. Es wird aber bisher nur nach Vorgaben vorgegangen; die suggerierte Demokratie ist nicht erkennbar, im Sinne von Mitbestimmung und autonomer Meinungsäußerung.
Die sich im Tafelanschrieb widerspiegelnde Unterrichtsstruktur ist erkennbar wissenschaftstheoretisch motiviert. Für ein unterrichtliches Vorgehen wird hier ein hoher Grad an wissenschaftlicher Strukturgebung angestrebt. Den dargestellten Ablauf könnte man noch ergänzen und verändern, beispielsweise zu der Reihe „fragen, vermuten, erschließen, beobachten, notieren, beschreiben, definieren, deuten, interpretieren, erklären”. Die Komponenten eines methodischen Vorgehens im Forschungsprozess wären dann so angegeben, dass sie für alle Fächer und Sachgebiete, für sowohl Naturwissenschaften als auch Geisteswissenschaften, zutreffen könnten. Die manchmal in derartigen Reihen ebenfalls erwähnten Komponenten „ordnen” und „strukturieren” sind hingegen eher Vorgänge, die die Datenverwaltung betreffen, die aber nicht endemisch für Forschung sind, d.h. eher von Datenverwaltern gebraucht werden, nicht aber im Forschungsprozess benötigt werden. Auch der letzte Punkt, „das Überraschende festhalten” kann sinnvoll für Forschungsprozesse sein. Offenbar handelt es sich bei dem Tafelanschrieb um ein Schema, nach dem die Lehrerin, ggf. in leicht abgewandelter Form, stets vorgeht, wenn neue Themen behandelt werden.
Interessant ist, dass der Tafelanschrieb, so wissenschaftstheoretisch fundiert er anmutet, doch einige Brüche bzw. Ungereimtheiten aufweist. Es fehlt eine Überschrift, so dass unklar ist, welchem Thema oder welcher übergeordneten Fragestellung das Schema dienen soll. Die Andeutung „Piratengeschichte” ist wenig hilfreich, um auf Thema oder Fragestellung schließen zu können. Es könnte überlegt werden, was für Piraten konstitutiv ist und welche Fragen mit „Piraterie” zusammenhängen, z.B. Fragen danach, wie sich Reichtümer mittels Piraterie möglichst effizient aneignen lassen (s.o.). Der Kampf ist dabei für Piraten in der Regel von besonderer Bedeutung. Kampf könnte zumindest einer Vermutung nach Thema der neuen Unterrichtseinheit sein.

Lehrerin: Wir fangen mit einer Geschichte an, die euch Lust machen soll auf die – auf das neue Thema. Dann stellen wir eine Forscherfrage, die stellen wir gleich zusammen. Danach – was kommt dann? N. (Name einer Schülerin), guck mal.

In ihrer Äußerung bestätigt die Lehrerin, was bereits vermutet werden konnte: die Geschichte hat die Funktion, die Kinder für den Unterricht zu motivieren. Damit unterstellt die Lehrerin, dass Kinder im pädagogischen Kontext zusätzlich neugierig gemacht werden müssen, da sie von innen heraus nicht genügend neugierig sind. Unklar bleibt weiter, ob Piratengeschichten schon das Thema sind oder nur ein Vehikel, um zum Thema zu kommen. Klar wird lediglich, dass der Piratengeschichte eine motivierende Funktion in Bezug auf die Kinder zugesprochen wird.
Es handelt sich dabei um ein pädagogisches Deutungsmuster, das den Kindern unterstellt, dass die Themen als solche nicht ausreichen, um Interesse bei ihnen zu wecken und dass pädagogisch noch etwas Zusätzliches, Stimulierendes hinzugefügt werden muss. Dass Lehrkräfte nicht auf die naturwüchsige Neugier der Kinder vertrauen, begegnet einem häufig in Protokollen von Unterricht. Hier aber ist interessant, dass die Lehrerin die Kinder sehr stark konfrontiert mit ihrem pädagogischen Konzept. Statt die Kinder unmittelbar mit dem, was als „neues Thema” eingeplant ist, zu konfrontieren und auf die naturwüchsige Neugier der Kinder zu vertrauen, konfrontiert sie die Kinder mit dem wissenschaftstheoretisch abgeleiteten Konzept bei gleichzeitig noch immer nicht geklärtem Sachinhalt und nicht geklärter konkreter Umsetzungsweise des Tafel-Schemas.
Die Lehrerin spricht in ihrer Zwischenbemerkung nur die Geschichte und die Frage an, lässt aber die Komponente „Vermutung” aus. Das Tafelbild suggeriert, dass ein Gegenstand neu eingeführt wird, der eine Fraglichkeit aufwirft, so dass erste Vermutungen entstehen, die dann in einer Art methodischer Steigerung in eine Forscherfrage umgewandelt werden. In den Erläuterungen der Lehrerin fehlt jetzt jedoch der Hinweis auf sog. erste Vermutungen. Dies kann auch ein Grund sein, weshalb das Kind, das von ihr als nächstes mit dem weiteren Vorlesen beauftragt wird („guck mal”), noch einmal bei „Forscherfrage” weiterliest.

N. (Schülerin): Forscherfrage.
Lehrerin: Genau. Und danach?

„Genau” ist hier als Kommentierung auf der sachlichen Ebene nicht angebracht, weil „Forscherfrage” bereits genannt wurde und die Reihenfolge nicht korrekt eingehalten wird. Die Schülerin war in Bezug auf die Frage, was danach kommt, gerade nicht genau. Hier zeigt sich, dass Klärung und Verständnis hinter das Abarbeiten des Schemas weit zurücktreten. Dies zeigt sich auch darin, dass nicht geklärt wurde, ob die Kinder das, was sie vorlesen, überhaupt verstehen.
Festzustellen ist, dass in dieser Phase der gesamte geplante Unterrichtsablauf quasi vor die Klammer gezogen und das Gesamtprogramm vorweg durchgegangen wird, wobei der Fokus auf dem Ablauf der Arbeitsschritte, nicht auf den Inhalten liegt. Ob ein solches Vorgehen für die Kinder eine Orientierungshilfe darstellt oder aber sie verwirrt, müsste näher untersucht werden.

N. (Schülerin): Versuche.
Lehrerin: Und was sollt ihr bei den Versuchen machen? Das wisst ihr noch. Worum geht es bei Versuchen?
S: Vermuten, durchführen und beobachten, notieren, besprechen.

An dieser Stelle fällt wiederum ein Klärungsbedarf bzw. eine Unstimmigkeit ins Auge. Das Tafelbild enthält das Wort „Versuche”, dahinter steht ein Doppelpunkt und es folgen einzelne Komponenten, die in Forschungsprozessen wichtig sein können.  „Versuche” könnte sowohl ein Nomen als auch ein Imperativ sein, dies ist nicht klar.
Die Logik der Verbindungen der einzelnen Komponenten mit dem Wort „Versuche” ist teilweise nicht nachvollziehbar. Versuche kann man durchführen – hier stimmt die Verbindung bzw. ist sie möglich. Man kann Versuche auch beobachten. Aber man kann sie nicht vermuten. Es fällt auf, dass der gesamte Forschungsprozess unter das Stichwort „Versuche” subsumiert wird. Forschung und Versuch werden damit tendenziell als Synonym dargestellt.7 Auch stellt sich die Frage, warum hier das Vermuten wiederum auftaucht, da es oben bereits stand. Die für Forschungsprozesse notwendige Klarheit von Bezügen kann im Tafelanschrieb vermisst werden. Hier lässt sich vermuten, dass der Lehrerin selbst die forscherische Praxis eher nicht als lebendige Erfahrung vertraut ist, sondern als didaktisches Schema.

Lehrerin: Wisst ihr das noch? Die Aufgaben eines Forschers, dass man genau gucken muss, was passiert. Vermuten, was heißt das
noch mal? I. (Name einer Schülerin).

Die Frage „wisst ihr das noch?” adressiert die Kinder als Wissende, statt als Lesende. Es wird fast so getan, als hätten die Kinder das Vorgelesene noch selbst erinnert, nicht aber, als hätten sie es bloß von der Tafel vor ihnen abgelesen. Wissen wird durch das Lesen quasi „erschlichen”. Es hätte alternativ zum Vorlesen die Möglichkeit des Memorierens gegeben, bei der die Kinder sich ihrer Vorgehensweise bei der Erschließung neuer Themen hätten erinnern können.

I. (Schülerin): Was man glaubt.
Lehrerin: Genau. Super.

Bisher wurde sehr stark auf ein wissenschaftstheoretisch exaktes Ableiten eines didaktischen Schemas geachtet. Im Prozess aber fällt an dieser Stelle auf, dass die Präzision auf einen Schlag verloren geht, sobald der Prozess in Gang ist. Die Schülerin setzt das Bilden von Hypothesen mit dem Glauben gleich und dies wird mit dem Lob „genau” und „super” bedacht, obwohl nicht geklärt wurde, was das Kind eigentlich genau mit „glauben” meint und obwohl sich darüber streiten lässt, ob man „glauben” als ausreichende Erklärung von „vermuten” ansehen kann. Die Bedeutungsexplikation des Verbs „vermuten” ist, dass man eine erste Hypothese formuliert, dass man aufgrund der Anschauung eine erste Interpretation formuliert, eine erste Bedeutungszuweisung vornimmt; dies setzt aber voraus, dass man vorab eine Frage formuliert hat. Hier zeigt sich, wie anspruchsvoll die Beantwortung der Frage, was eine Vermutung, wissenschaftstheoretisch beschrieben, ist. Etwas anderes wäre es der Vorstellung nach, wenn die Kinder im Prozess selbst erfahren könnten, was eine Vermutung ausmacht. Theoretisch zu formulieren, was konstitutiv für eine Vermutung ist, ist äußerst schwierig. Beim „Glauben” ist die Vermutung schon in eine Überzeugung übergegangen. Es kann angenommen werden, dass Kinder der zweiten Klasse das Wort „Vermutung” selbst kaum gebrauchen, es nicht zu ihrem Alltagswortschatz gehört. Es kann weiterhin vermutet werden, dass im Verlauf der Abarbeitung des Unterrichtsschemas der Lehrerin schon in vorangegangenen Stunden in Phasen des Vermutens die Frage gestellt wurde „was glaubst du denn, wie es ist…?” Hier sieht man, wie genau man sprachlich vorgehen müsste, um das wissenschaftstheoretisch abgeleitete Unterrichtsschema so umzusetzen, dass wirklich genau die Vorstellungen bei den Kindern entstehen, die später auch tragfähig sind und dass es nicht zu dem Effekt kommt, dass die Kinder sich falsche Begrifflichkeiten oder Konzeptvorstellungen aneignen, die später wieder zerstört werden müssen. Es zeigt sich hier, dass naturwissenschaftsbezogener Unterricht in der Sprache sehr genau sein und der Sprache sehr genau nachspüren muss. Der Naturwissenschaftsunterricht ist in ganz besonderem Maße ein Sprachunterricht, weil die begriffliche Präzision oft entscheidend wichtig für die Erschließung ist.
Der Annahme nach ist das Verb „vermuten” keines, das Kinder der zweiten Klasse routinemäßig im Alltag verwenden. Das Anstellen von Vermutungen ist für einen forscherischen Prozess zentral. Ein Verständnis dieses Prozesses wird der Annahme nach aber nicht dadurch erzielt, dass man nach der Bedeutungsexplikation fragt. Auch hier scheint das Schaffen von Situationen, in denen man das Wesen und die Wirkung von Vermutungen erleben kann, wichtig für das Zustandekommen von Bildungsprozessen zu sein. In einem Prozess des Erlebens scheint es möglich zu sein, bewusst wahrzunehmen, wie auf der Basis einer anschaulichen Gegebenheit eine Fraglichkeit entsteht, sich diese verwandelt in eine Vermutung, diese im Erschließungsprozess zu einer Annahme wird und weiter gestärkt werden kann bis hin zu einer Überzeugung. Diese Erfahrung könnte z.B. auch dazu führen, das Wesen eines Vorurteils im Vergleich zu einem Urteil zu verstehen etc., es könnte sich also ausgehend von einem konkreten Bildungsprozesserlebnis ein ganzheitliches Verständnis entwickeln.

Lehrerin: Und zum Schluss, am Ende der Stunde, was machen wir da noch mal? E. (Name einer Schülerin), schau mal. Was machen
wir ganz am Ende noch einmal?
Auch E. wird zum Vorlesen aufgefordert (schau mal).
E.: Erstaunliche Ergebnisse besp- besprechen.
Lehrerin: Genau. Was du besonders fandest bei den Versuchen, das merkst du dir, das besprechen wir hinterher noch einmal, ja.
Genau. Dann fangen wir an mit einer Geschichte. … Piraten können alles, oder? Hier ist der Pirat. (Sie legt ein vorbereitetes Plakat auf
den Boden, das zwei Inseln zeigt, stellt auf eine der Inseln eine Playmobil-Plastikpalme und eine Playmobil-Plastik-Schatztruhe sowie
einen Playmobil-Piraten).

 

Abbildung 2 Didaktisches Begleitmaterial zur Piratengeschichte. Quelle: URL: https://www.uni-muenster.de/Koviu/filme/index.html, Stand 24.02.2014

Lehrerin: Hört mal zu. „Nach einer langen Fahrt durch viele Meere war der gefürchtete Pirat, Pitt Perlenklau, auf dem Weg nach Hause. In der Ferne sah er schon seine kleine Insel, auf der er lebte, wenn er nicht unterwegs war, um Schiffe zu überfallen. Er ließ sein Schiff noch einmal schneller fahren und merkte nicht, dass er direkt auf einen großen Felsen zu fuhr. Es krachte. Im Bug seines Schiffes war ein riesiges Loch. Voller Schrecken merkte Pitt Perlenklau wie sein Schiff sank. Schnell sprang er ins Wasser und schwamm, um sich zu retten, voller Panik auf eine Insel, die glücklicherweise nicht zu weit entfernt lag. Aber leider war es nicht seine eigene Insel, sondern die Nachbarinsel, auf der niemand wohnte. Pitschnass kroch er ans Land. Als er sich einigermaßen erholt hatte, rappelte er sich auf und ging zu einer Palme, um sich dort auszuruhen. Was sah er da? Unter der Palme, halb im Sand begraben, stand eine Holzkiste. Schnell schaufelte er den Sand beiseite und öffnete aufgeregt die Kiste. Das konnte doch nicht wahr sein! Die Kiste war voller Gold! Ein Schatz, den musste er mitnehmen. So viel Gold hatte er noch nicht bei einem Überfall auf einem Schiff erbeuten können. Aber das Schiff war untergegangen, wie sollte er die Kiste von der einen Insel zu seiner Insel mitnehmen? Und er überlegte: Muss ich den Schatz zurücklassen oder gibt es für mich eine Möglichkeit, die Kiste zu transportieren?” A. (Name eines Schülers).

Die Geschichte ist sprachlich wenig elaboriert (der Name „Pitt Perlenklau” wirkt gekünstelt, das unreflektierte Zusteuern auf einen großen Felsen unglaubwürdig, der Vorgang des Ausruhens und anschließenden Aufsuchens einer Palme, um sich dort zu erholen, kausal unzusammenhängend etc.) und wirkt dadurch relativ unmotiviert. Der Anspruch, Kindern Wissenschaftstheorie beizubringen und das Niveau der Geschichte klaffen weit auseinander. Die Geschichte erfüllt weder das Kriterium, besonders authentisch, noch besonders spannend bzw. fesselnd zu sein, noch eröffnet sie auf anregende Weise einen möglichen Erschließungsprozess. Eine besonders hohe Suggestionskraft des Unerschlossenen wird in ihr nicht entfaltet. Die Rahmung (Schiffbruch etc.) trägt nichts Wichtiges im Hinblick auf einen forscherischen Erschließungsprozess bei, sondern fungiert in der Art einer extrafunktionalen Attraktivitätssteigerung. In der vorgelesenen Geschichte werden alle Fragen rund um das Thema „Piraten” bzw. „Piraterie” auf die Frage reduziert, was ein Schiffbrüchiger, der einen Schatz findet, mit diesem machen soll. Damit wird ein sehr klischeehafter, geradezu kulturindustrieller Gebrauch vom Thema „Piraterie” gemacht, der vor allem das Thema „Schatz” zum Inhalt hat. Inhaltlich käme die Geschichte völlig ohne die Figur eines Piraten aus. Der dargestellte Fall stellt alles andere als eine für Piraten typische Routinesituation dar und ist nicht konstitutiv für Piraten.
Aufgrund des Tafelanschriebs kann erwartet werden, dass die vorgelesene Geschichte auf die sog. erste Vermutung und Forscherfrage hindeuten soll. Dann wäre aber eine Geschichte besonders günstig, deren Charakteristik und damit Routinegemäßheit allen Kindern so geläufig ist, dass die Ableitung von Vermutung und Forscherfrage jedem möglich wäre. Dies ist aber nicht der Fall. Es ist sogar auch am Ende der vorgelesenen Geschichte immer noch relativ offen, was Thema und Frage sein könnten. Die durch die Piratengeschichte erfolgte Hinleitung zum Thema „Schwimmen und Sinken” wirkt sehr konstruiert. Die Schilderung des Problems wirkt wenig authentisch.

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