Hinweis – Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Einleitende Bemerkungen

[…] Um aufzuzeigen, wie vielfältig der Zusammenhang zwischen der Entwicklung von Freundschaftsbeziehungen und dem Wandel der Freizeitaktivitäten sein kann, wurden Martin Wick und Melanie Pfeiffer als zwei Fälle ausgewählt, die über ein ausgefülltes Freizeitleben verfügen, aber sich hinsichtlich ihrer Einbindung in Peerbeziehungen und Erfahrungen mit Freundschaften unterscheiden. […]

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Melanie und Martin verfügen über ein tägliches Hobby und weitere Freizeitaktivitäten, die nun kurz zusammengefasst und anschließend hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Entwicklung der Freundschaften ausgeführt werden.

Mit fünf Jahren begann Melanie mit dem täglichen Training der Rhythmischen Sportgymnastik auf einem hohen Leistungsniveau. Vor drei Jahren erfolgte jedoch eine Auswahl für die intensive Einzelförderung, in die Melanie nicht aufgenommen wurde und dadurch gezwungen war, die Sportart zu wechseln. Seitdem trainiert sie täglich den Showtanz und nimmt ebenfalls sehr erfolgreich an Wettkämpfen und Meisterschaften teil. Wie im vorherigen Abschnitt beschrieben, bildet die Beschäftigung mit dem modischen Erscheinungsbild einen Teil ihrer Freizeitaktivitäten, wozu auch der Einkaufsbummel und „Schönheitstage“ mit Anja zählen. Zu den geschlechtsübergreifenden Praxen gehören der Diskobesuch und abendliche Treffen am Wochenende, die zum Unterhalten, Kochen und Filme schauen genutzt und durch Alkohol- und Tabakkonsum begleitet werden. Individuelle Freizeitaktivitäten oder Aktivitäten im Familienkreis werden in den Interviews nicht erwähnt.

Demgegenüber beschreibt Martin wesentlich mehr Aktivitäten, die er mit seiner Familie teilt. Im Zusammenhang mit seinem zeitintensivsten Hobby, dem Reiten, werden keine Freunde erwähnt. Wie Melanie hat er im Grundschulalter mit dem Sport begonnen und Reitstunden auf dem Pony seines Bruders bekommen. Als sein Bruder den Reitsport aufgab, übernahm Martin mit seiner Mutter die tägliche Betreuung des Ponys und später seines eigenen Pferdes. Für Martin wird die Teilnahme am Turniersport ebenfalls angestrebt, kann aber aufgrund der anhaltenden Krankheit seines Pferdes nicht erfolgen. Zu seinen ausgeprägten Interessen gehört somit die Tierhaltung, welche er insbesondere mit seiner Mutter teilt. Neben seinem Pferd hält er noch einen Hamster sowie mehrere Hühner und Katzen. Weitere ausführlich beschriebene Aktivitäten beziehen sich auf den Computer und vor allem das Internet, welches ihm den medialen Kontakt mit seinen Freunden ermöglicht. Gemeinsam werden Videos angeschaut, Spiele gespielt oder sich unterhalten.

Die weitere Rekonstruktion der individuellen Orientierungen im Längsschnitt zeigt für Martin eine zunehmende Erfahrung der täglichen Pferdepflege als Belastung. Im Interview der zweiten Welle klagt Martin noch über fehlende freie Zeit und begründet dies vorrangig mit dem Besuch der Ganztagsschule. Im Interview der dritten Welle dokumentiert sich Martins Frustration, da das Reiten seit Längerem nicht möglich ist und ihn sein Pferd nur noch Zeit kostet. So zeigt sich, dass er sein Hobby nicht mehr als Freizeit im eigentlichen Sinne erlebt. Wie die folgende Sequenz verdeutlicht, setzt er seine Zeitproblematik wieder in einen Zusammenhang zu den schulischen Leistungsansprüchen, die bis in die außerschulische Zeit hineinragen:

Martin verweist auf den Computer, der dazu führt, dass die Zeit wie im Flug vergeht und in seinen Augen nicht besser genutzt wird. Sein Problem besteht darin, dass er grundsätzlich wenig Zeit hat und auch die wenigen Zeitfenster nicht für die Schule nutzt. Dementsprechend zeigt sich, dass für ihn mehr freie Zeit nicht mehr Entspannung und Erholung bedeutet, sondern die Möglichkeit, sich auf die Schule vorzubereiten. Diese Orientierungen einer schulbezogenen Pflichterfüllung enaktiert er jedoch nicht. Dementsprechend bildet weder die Zeit beim Pferd noch am Computer eine wirkliche Entspannung und Ausgleich zu den schulischen Leistungserfahrungen. Melanie verdeutlicht hingegen, dass sowohl Schule als auch der Sport überaus relevant sind und sie durch den Sport schulische Belastungserlebnisse kompensieren kann, wie im folgenden Interviewausschnitt beschrieben wird:

Dabei kann der Sport als Ausgleich für die Schule sorgen. Bei Melanie deutet sich an, dass vor allem der Austausch mit anderen über die Schule einen Ausgleich verschafft. Generell gilt das Zusammensein mit den Freunden als ein positiver Aspekt des Sports. Da Martin von keinen Freunden beim Reiten berichtet, fehlt es ihm somit an diesem positiven Aspekt. Die tägliche Einbindung in ein Hobby erweist sich bei Melanie als stabilisierend. Nun könnte geschlossen werden, dass für Martin von einer Destabilisierung oder Eingrenzung auszugehen ist. Doch beim genaueren Blick in die Rekonstruktion bildet die fehlende intensive Zeitnutzung und der Zeitvertreib am Computer eine deutliche Gemeinsamkeit mit seinem Freund Dirk. Beide formulieren eine Erfahrung des Zeitverstreichens:

Jene Passagen der Gruppendiskussion, die sich auf Animees beziehen, unterschieden sich deutlich in der interaktiven Dichte und sind von Scherzen geprägt. Das Reden stellt die Hauptbeschäftigung von Dirk und Martin dar und erfolgt sowohl in und außerhalb der Schule sowie teilweise während des Unterrichts, denn die beiden sitzen wieder nebeneinander. Themen bilden vorwiegend japanische Mangas und Animees sowie Filme und Spiele. Es zeigt sich, dass nicht nur das Interesse, sondern auch eine ähnliche Art sich damit auseinander zu setzen verbindet. Wider Erwarten  steht  dabei nicht der Expertenaustausch über einzelne Spiele und bestimmte Animees im  Vordergrund. Denn die beiden Jungen favorisieren bzw. beschäftigen sich mit unterschiedlichen Spielen und Filmen und teilen so nur die Praxis ansich.

Einen weiteren Kontrast bilden die spezifischen Peerpraxen, die sich im Falle Melanies in allen zu den drei Zeitpunkten erhobenen Gruppendiskussionen zeigen. Dabei handelt es sich um die intensive Auseinandersetzung  mit dem eigenen modischen Erscheinungsbild, wobei nun eine deutliche Distinktionspraxis hinzugekommen ist. Die Auseinandersetzung mit dem anderen Geschlecht bildet eines der am dichtesten verhandelten Themen der Gruppendiskussion von Melanie. Allerdings wurde die Gruppendiskussion nur mit den engsten Freunden geführt. So sind die vier Mädchen in eine geschlechterübergreifende Clique eingebunden. Identifikatorische Aspekte und eine zentrale Praxis bestehen jedoch in der Auseinandersetzung mit der angemessenen Ausübung jugendkultureller Praxen, die wieder mit der Kritik des äußeren Erscheinungsbildes eingeleitet wird und den Zusammenhang sowohl zur Leistungsorientierung als auch geschlechtsübergreifenden Praxis dokumentieren:

Die Abgrenzung zu anderen richtet sich auf das ästhetische Äußere. Allerdings dokumentiert sich nun wesentlich deutlicher die Beschreibung des Äußeren als Hinweis auf einen Entwicklungsvorsprung. Sich stilsicher und möglichst bewusst zu kleiden bildet einen Ausdruck von Reife. Gleichfalls sind daran bestimmte Aktivitäten gebunden, da die Mädchen an anderer Stelle betonen, dass sie zu den wenigen ihres Jahrganges gehören, die bereits an den Wochenenden oder unter der Woche Ausgehen. Beide Fälle dokumentieren also den Verweis auf einen kindlichen Entwicklungsstand als Abgrenzungskriterium. In der Gruppendiskussion mit Martin und Dirk werden keine geschlechtsheterogenen Beziehungen thematisiert, obwohl nicht davon auszugehen ist, dass keine bestehen. In den Längsschnittauswertungen zeigt sich, dass Dirk zeitweilig Teil einer geschlechtsheterogenen Clique war. Darüber hinaus ist die Zusammensetzung von Martins Peerkontexten, wie in seinen Netzwerkkarten angegeben, über den gesamten Erhebungszeitraum hinweg geschlechtsheterogen. Die unterschiedliche Sortierung der Muster zeigt sich darin, dass Melanie Aktivitäten komplett erhalten hat und neue hinzugekommen sind. Martin hat zwar seine individuellen erhalten. Doch verstärkt hat sich die Beschäftigung mit dem Computer und völlig neu ist das Interesse an Mangas und Animees.

 
Mit freundlicher Genehmigung des Budrich Verlages.
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