Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Es stellt sich damit nun die Frage, welche Schlüsse studentische Praxen fallrekonstruktiver Arbeit im Hinblick auf die Ausbildung der Kompetenz zu­lassen, die Anforderungen an eine professionelle Bewältigung der Probleme in Schule und Unterricht adäquat zu verstehen? Entsteht bei Lehramtsstuden­ten eine reflexive Distanz gegenüber Normalitätsmodellen von Unterricht, die man im Rahmen einer mindestens 12-13jährigen Schulkarriere als Schüler und als Praktikant erwarb, gemäß dem Muster „Lehrer lernt man, indem man Schüler war“? Entwickelt sich also eine reflexive und kritische Haltung ge­genüber dem, was Emile Durkheim vor über 100 Jahren als „Verewigung der Routine“ beschrieben hat (Durkheim 1977/1906, S. 11)?

Im Folgenden wird ein explorativer Versuch der Beantwortung dieser Fragen unternommen, indem aufgezeigt wird, wie Studenten im Rahmen eines Moduls kasuistischer Ausbildung in typischer Weise Unterrichtsproto­kolle interpretiert haben.

(…)

Entsprechend dem beschriebenen explorativen, methodischen Vorgehen werden zunächst die Ergebnisse einer objektiv hermeneutischen Interpreta­tion der von den Studierenden jeweils bearbeiteten Unterrichtssequenz prä­sentiert und hernach, darauf bezogen, erfolgt die Analyse der entsprechenden Interpretationen der Studierenden. Ausgewählt wurden aus Umfangsgründen sehr kurze, aber aufschlussreiche Ausschnitte.

Projektion

Die nächste studentische Arbeit wählte die Anfangssequenz einer Deutsch­stunde in einer 9. Hauptschulklasse, deren Thema der Student mit „Übungen für eine bevorstehende Klassenarbeit“ bezeichnet.

Das Protokoll der Stunde beginnt folgendermaßen:

L: Ich wollte eigentlich etwas zügig machen, da wir übernächste Woche wieder eine Klassenarbeit schreiben.

Erfindet man gemäß dem Verfahren der Objektiven Hermeneutik zu­nächst Geschichten, die konsistent zu der Äußerung passen, ihre Geltungsbe­dingungen pragmatisch erfüllen, unter Absehung des Kontextes, in dem die Äußerung tatsächlich fiel, so könnte der Text von einem Schüler stammen, der gerade bei der Gartenarbeit behindert wird und eigentlich schnell wieder an den Schreibtisch zum Lernen zurückkehren will. Er typisiert sich damit als Streber, da die Klassenarbeit ja erst übernächste Woche ansteht. Der Satz könnte auch von einem guten Schüler gegenüber Mitschülern geäußert wer­den, denen er gerade bei schulischen Arbeiten hilft. Diese ziehen aber nicht richtig mit. Der Satz könnte schließlich Bestandteil einer Entschuldigung sein: „Es tut mir leid – ich wollte eigentlich zügig machen, aber ich habe Kopfschmerzen.“

Der Satz thematisiert ein Vorhaben des Sprechers, das nicht nach Plan realisiert werden kann („Ich wollte eigentlich“). Das Vorhaben besteht im „zügig machen“, d.h. es sollte zielorientiert und relativ schnell vorgegangen werden. Das „etwas“ relativiert Zielstrebigkeit und Geschwindigkeit. Gründe der Verhinderung des Vorhabens können beim Sprecher selbst liegen und/ oder bei anderen und anderem. Eine direkte verbalisierte Schuldzuschreibung findet nicht statt. Auch wird nicht benannt, was zügig gemacht werden sollte. Denkbare Situationen stimmen schließlich darin überein, dass eine Diszipli­nierung und Animation vorliegt. Die Behinderung des Plans, „etwas zügig zu machen“, soll aufhören und nun relativ schnell und zielorientiert agiert wer­den. Möglich ist auch, dass die Äußerung Bestandteil einer Entschuldigung ist, dann ist das Vorhaben „zügig zu machen“ bereits gescheitert.

Der Text formuliert weiter eine Begründung, warum der Sprecher eigent­lich etwas zügig machen wollte: … da wir übernächste Woche wieder eine Klassenarbeit schreiben.

Als Begründung für das Vorhaben „etwas zügig zu machen“ wird eine weitere („wieder“) schulische Leistungsprüfung und Selektion angeführt. Die­se Leistungsprüfung erfolgt erst in maximal zwei Wochen, d.h. sie steht nicht direkt bevor. Einerseits ist gesagt, dass der Sprecher Leistungsprüfungen hohe Bedeutung zuspricht (in der Logik des Strebers), andererseits kann das Problem entstehen, z.B. aufgrund der relativen zeitlichen Ferne, dass der Aufforde­rungscharakter für den Hörer der Äußerung geringer ist als gewünscht. Die Wirksamkeit dieser Aufforderung ist abhängig von der Dringlichkeit und/oder Bedeutung, die das Ereignis auch für die oder den Hörer besitzt.

Nun ziehe ich den Kontext hinzu: Die Äußerung wird in einer 9. Haupt­schulklasse von einer Lehrerin getätigt, während die Schüler noch ihre Sa­chen auspacken.

Erstens setzt der Text durch die Verwendung des vergemeinschaftenden „wir“ die Lehrerin in die Rolle des Mitschülers und Strebers. Das heißt Schü­ler- und Lehrerolle werden entgrenzt in einer Pseudo-Vergemeinschaftung, denn die Lehrerin schreibt nicht selbst die Klassenarbeit mit. Reproduziert sich dies im Material, verweist dies auf eine hohe Identifikation mit der Klas­se und eine Rollenunsicherheit seitens der Lehrerin. Mit der Pseudo-Verge­meinschaftung wird die Disziplinierung und Animation zugleich in sich brü­chig. Ob das „zügig machen“ auch im Interesse der Schüler liegt (z.B. mehr Zeit zum Üben) oder nur in dem (dann perfiden) der Lehrerin (das Pensum durchpauken – Erhöhung des Schwierigkeitsgrades der Arbeit), ist offen. An den folgenden Sequenzen wäre dies zu prüfen.

Auch auf einer zweiten Ebene ist diese Form der Disziplinierung und Motivierung fragwürdig: Es handelt sich um eine neunte Hauptschulklasse. Einerseits stehen die Schüler vor ihrem Abschluss und Noten werden für künftige Lebenschancen wichtig. Andererseits sind Hauptschüler typisiert als Personen mit einem geringen Planungshorizont, vergleichsweise schlechten Schulleistungen, relativ geringer Schulleistungsmotivation und vergleichs­weise geringen Chancen, einen Ausbildungsplatz zu erhalten. Es ist also interessant, auch in dieser Hinsicht am weiteren Protokoll zu prüfen, ob die Äu­ßerung der Lehrerin die disziplinierende und animierende Wirkung hat, die formuliert ist. Ferner ist zu prüfen, ob die Lehrerin hauptschulspezifisch- schülerorientiert oder schulartunspezifisch agiert. Hier wird ein schulartunspezifisches Muster der Motivierung und Disziplinierung benutzt.

Zu entwickelnde und zu prüfende Lesarten liegen also auf der Ebene einer potentiell rollenunsicheren oder gar perfiden sowie einer schulartunspe­zifisch agierenden Lehrerin und stehen damit im Zusammenhang der Frag­würdigkeit des Aufforderungscharakters der disziplinierenden Animation.

Schließlich kann geprüft werden, ob die Äußerung Bestandteil einer Ent­schuldigung ist. Die anderen Lesarten wären damit hinfällig oder es könnte der interessante Fall vorliegen, in dem Disziplinierung und Entschuldigung für die Disziplinierung Hand in Hand gehen.

Nun zur studentischen Interpretation der Lehreräußerung.

ST 3: Sie schiebt somit die Schuld für schlechte Noten auf die Schüler und entgeht dadurch jeglichen Konfliktsituationen, da sie die Notenvergabe nicht mehr rechtfertigen muss.

Der Student interpretiert den Text der Lehrerin als Schuldzuweisung an die Schüler mit der Folge der Konfliktvermeidung hinsichtlich der Notenver­gabe. Er entwickelt also die Lesart einer willentlichen oder unwillentlichen Sündenbockstrategie seitens der Lehrerin. Diese Interpretation ist durch den Text der Lehrperson nicht gedeckt. Der Text bedeutet eine disziplinierende Animation oder ist Teil einer Entschuldigung, aber eine direkte Schuldzuwei­sung in Sachen Vergabe schlechter Noten und Konfliktvermeidung ist gerade nicht ausgesprochen oder impliziert. Im Gegenteil: Die Angesprochenen könnten antworten, ,dann mach doch zügig’. Bemerkenswert ist neben der Projektion des Studenten auch die Unterstellung, Konfliktsituationen in der Auseinandersetzung um Noten seien der Normalfall, dem die Lehrerin hier entgeht.

Die vorliegende Interpretation verweist auf einen Schülerstellvertreter, der im Sinne der Demokratisierung der Schule für die argumentative Ausei­nandersetzung um die Notenvergabe zwischen Lehrer und Schülern und für die offene Konfliktaustragung plädiert und im vorliegenden Fall lehrerkri­tisch übersteigernd („entgeht jeglichen Konfliktsituationen“) einen Verstoß gegen diese Pädagogik ausmacht.

ST 3: Den Schülern entfällt somit ihr Recht auf die Argumentation bei der Notenvergabe, denn sie sind es, die nicht einsehen, dass sie für das Leben und nicht für die Schule oder den Lehrer lernen.

Aus der Diagnose „Konfliktvermeidung in Sachen Notenvergabe durch Schuldzuweisung an die Schüler“ werden nun Folgerungen gezogen, die wei­terhin projektiv unterlegt sind. Das Entfallen von Rechten der Schüler ist durch die Lehreräußerung in keiner Weise impliziert.

Der Interpret scheint nun die Rollen zu tauschen. Dieser Satz könnte nicht mehr von einem Schülerstellvertreter, wohl aber von einem Lehrer stammen, der gegenüber Kollegen deutlich macht, warum er diesmal keine Diskussion um die Notenvergabe zulässt. Der Student versetzt sich (intro­spektiv) in die Lehrerrolle. Es wird schülerkritisch eine stereotype Verhal­tenserwartung – „nicht für das Leben für die Schule lernen wir“ – zur Be­gründung des Rechtsverlusts herangezogen, ohne dass dies durch die Äuße­rung der Lehrerin selbst zu motivieren ist. Es wird also wiederum eine außer­halb des Textes liegende Vorstellungswelt mobilisiert und appliziert.

ST 3: Die Lehrerin suggeriert damit den Schülern, dass es von eigenem Interesse ist, am Unterricht teilzunehmen, denn ihre Pläne wurden durch­kreuzt: sie selbst hat sich schließlich auf den Unterricht vorbereitet und er­wartet im Gegenzug dazu dieselbe Motivation und zusätzlich noch Dankbar­keit für ihre Mühe.

Die Interpretation verfährt sprunghaft und es reproduziert sich das pro­jektive Vorgehen. Vom Ausbuchstabieren der Sündenbockstrategie wird zur Diagnose einer anderen Form der Schülermanipulation übergegangen, der der Suggestion. Die Lehrerin suggeriert in ihrer Äußerung nicht, es sei von eige­nem Interesse am Unterricht teilzunehmen, sondern sie impliziert dies und animiert damit dazu, Behinderungen aufzugeben und zügig zu agieren. Die Äußerung könnte sich ferner noch als Bestandteil einer Entschuldigung er­weisen. Eine Beeinflussung anderer, die zu ungeprüfter Aneignung von Über­zeugungen, Werteinstellungen oder Verhaltensweisen führen soll, besteht faktisch allenfalls in der vom Interpreten nicht thematisierten Verwendung des vergemeinschaftenden „wir“. Hier ist die Lesart „Suggestion“ möglich, da so getan wird, als ob Schüler und Lehrer gemeinschaftlich die Klassenar­beit schreiben werden. Zügiges Agieren, nicht notwendig Teilnahme am Un­terricht, sei also im gemeinsamen – nicht nur im eigenen – Interesse.

Gemeinsam mit der Sündenbockstrategie-Lesart fügt sich die Suggestions-Lesart des Studenten nahtlos in das Lehrerbild „Manipulation der Schü­ler im Dienste eigener Interessen“. Der Lehrerin wird dabei in der Übernah­me eines verbreiteten Deutungsmusters eine egozentrierte Gegenseitigkeits­erwartung (ich bin motiviert, also habt ihr es auch zu sein) unterstellt, für die sie „zusätzlich noch“ Dankbarkeit erwarte. Es reproduziert sich die Applika­tion von stereotypen Verhaltenserwartungen, nun wieder lehrerkritischen, die durch den Text nicht zu motivieren sind.

Ich nenne dieses studentische Muster der Interpretation „Projektion“. Der zu interpretierende Text evoziert eine außerhalb des Textes liegende Vorstel­lungswelt, die aus Erfahrungen und Überzeugungen, stereotypisierten Verhal­tenserwartungen und Gehörtem im Seminar besteht. Die Aussagen zeichnen sich dadurch aus, dass projektiv zwischen schüler- und lehrerkritischen Ste­reotypen hin und her gewechselt wird. Dies lässt sich als Ausdruck des Über­gangsproblems im Rollenwechsel vom Schüler zum Lehramtskandidaten ver­stehen.

Ursächlich für dieses Agieren kann im konkreten Fall die potentielle Rollenunsicherheit der Lehrerin sein, sowie die disziplinierende Animation durch den Verweis auf eine bevorstehende, vermeintlich gemeinschaftlich zu schreibende Klassenarbeit, die als solche auch eine „Perfidie“-Lesart möglich macht (s.o.). Sie ergibt sich aber aus gänzlich anderen Gründen, als sie in der Interpretation des Studenten aufscheinen und muss gemäß der objektiv-hermeneutischen Sparsamkeitsregel (1) (bis auf Weiteres) ausgeschlossen werden.

Beratung im vorliegenden Fall kann an den Diskrepanzen zwischen dem Protokoll und der vom Studenten entwickelten Sündenbock-Lesart ansetzen, indem z.B. deren Geltungsbedingungen ausbuchstabiert und am vorliegenden Text überprüft werden.

Fußnote:

(1) Bei konkurrierenden Lesarten ist stets die voraussetzungslosere zu wählen.

Mit freundlicher Genehmigung von Budrich UniPress
http://www.budrich-journals.de/index.php/pk

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