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Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

In diesem Artikel geht es jedoch nicht um diese grundlegende Funktion des Rederechtes, sondern als Beitrag zu einer, Theorie des Unterrichts‘ verstanden vielmehr darum, unterschiedliche Modi seiner Handhabung zu analysieren, denn die Frage, wer zu welchem Zeitpunkt was äußern darf, ist für eine praxeologische Analyse der Ordnung von Unterricht hoch interessant. Wenngleich dem Re­derecht eine zentrale Bedeutung in der Herstellung und Ordnung des Unterrichts zukommt, sind im deutschsprachigen Raum empirische Studien zu diesem Punkt kaum vorhanden (vgl. Lipowsky u.a. 2007). Selbst in den weit verbreiteten po­pulärwissenschaftlichen Ratgeber sucht man weitestgehend vergeblich, die we­nigen diesbezüglichen Artikel versprechen, „Hilfe [n] für richtiges Aufrufen und Drannehmen“ (Knipper 1990, S. 24).

(…)

Offen bleibt die praxeologische Handhabung des Rederechtes bei der Ordnung von Unterricht. Wie wird Unterricht durch die Verteilung des Rederechtes her­gestellt? Welche Handhabungen durch die schulischen Akteurinnen lassen sich finden? Welche Routinen und welche Brüche werden deutlich, welche Praktiken erfüllen welche Funktionen? Welche Modi der Interaktionspraktiken werden sichtbar?

Zur Beantwortung dieser Fragen soll im Folgenden Material aus einem eth­nographischen Forschungsprojekt herangezogen werden, in dem u.A. die Hand­habung der Verteilung des Rederechtes in den Blick genommen wurde. Anhand der empirischen Ausführungen lassen sich wiederum die eingangs angestellten Überlegungen zum Erkenntnispotential ethnographischer Beobachtungen wei­ter intensivieren.

(…)

Modus Bruch: Beiträge ohne Melden

Allerdings lassen sich im Unterrichtsalltag ebenfalls Durchkreuzungen dieser Interaktionsroutine beobachten, indem die Meldepflicht von den Schülerinnen oder Lehrpersonen ausgesetzt wird. Die Praktiken sind in solchen Situationen gerade nicht selbstläufig, sondern in ihrer Routine gestört und zur Aushandlung aufgerufen. So weisen Kalthoff und Falkenberg beispielsweise darauf hin, dass die asymmetrische Strukturierung des Unterrichts in den Hintergrund treten kann, wenn Schüler ihrerseits Fragen stellen und damit die Richtung des Un­terrichtsgesprächs mitbestimmen (vgl. Kalthoff/Falkenberg 2008, S. 912). In un­serer Studie zeigen sich weitere Strategien, mit denen die Schülerinnen den Ab­lauf der routinierten Sequenz durcheinander bringen. Ein weitgehender Regel­bruch kann beispielsweise sein, wenn die Beteiligten dazwischen rufen, ohne dass sie sich vorher gemeldet haben. Wird die Melderegel in dieser Weise über­treten, weisen die Lehrpersonen manches Mal explizit darauf hin, wie das fol­gende Beispiel zeigt:

„Ann, die etwas rein gerufen hatte, wird ermahnt. Sie meldet sich dann, kommt dran und wird von Frau Jablonka dafür gelobt, dass sie sich nun gemeldet habe.“

Ann beteiligt sich mit einem Wortbeitrag am Unterrichtsgeschehen. Da sie sich das Rederecht angeeignet hat, ohne die Erteilung durch die Lehrerin abzuwar­ten, wird sie von Frau Jablonka dafür ermahnt. Die Interaktionsroutine stoppt, der Unterrichtsfluss ist kurz unterbrochen. Sofort zeigt Ann eine Verhaltens­modifikation und meldet sich, sie signalisiert damit Einverständnis mit der Re­gel. Frau Huber erteilt ihr dann das Wort, gibt ihr eine „zweite Chance“ und lobt sie anschließend, jedoch nicht für den Inhalt der Äußerung, sondern für ih­re Verhaltensmodifikation. Paradox ist, dass sie für die Einhaltung einer Regel ein Lob erhält, während andere Schülerinnen, die ohne vorherigen Regelbruch durch Melden das Rederecht erhalten, dafür nicht gelobt werden. Positiv beur­teilt wird also die Besserung, nicht das Einhalten der Regel an-sich. Dies ver­weist auf die ordnende Funktion, welche der Verteilung des Rederechtes und der damit zusammenhängenden Meldepflicht immanent ist, denn die Wiederho­lungsaufforderung von Frau Jablonka dient in erzieherischer Weise der (körper­lichen) Einschreibung der Regel und nicht dem Fortgang des Unterrichtsge­spräches. Hier werden konkurrierende pädagogische Prinzipien deutlich: Unter­richt vs. Disziplinierung; Regelorientierung vs. Fachorientierung; Erziehung vs. Bildung. Vor allem die Abgrenzung von sozialen Ordnungen des Unterrichts ge­genüber anderen sozialen Ordnungen außerhalb des Unterrichts steht im Vor­dergrund und wird zugunsten von Regelorientierung und Erziehung aufgelöst. Auch andere Lehrpersonen pochen darauf, dass sich die Schülerinnen melden, wenn sie das Rederecht erhalten möchten:

„Herr Hasloh sagt, es gäbe Spielregeln, die hätten sie doch sicher in der Volksschule auch schon gehabt. Claus ruft: ,Ja, viel essen hat die Lehrerin immer gesagt‘. Herr Hasloh: ,Claus, kann ich dich bitten, dich immer zu melden. Spaß ist okay, aber nicht immer‘. Er führt länger aus, dass es nicht schlimm sei, wenn man mal einen Spaß mache.“

Auch in diesem Beispiel ist die Handhabung ambivalent, der Lehrer mahnt Claus zwar an die Einhaltung der Regel, der Inhalt des Gesagten spielt keine Rolle. Denn Claus‘ Beitrag wäre, selbst wenn er das Rederecht formal korrekt erhalten hätte, zweifelsohne provokativer Natur, indem er eine offensichtlich absurde Spielregel nennt. Dass es den Lehrpersonen in beiden Beispielen nicht um den Inhalt des Gesagten geht, sondern darum, die Einhaltung der Frage-Melden-Aufrufen-Regel durchzusetzen, verweist darauf, dass das Rederecht auch die Funktion hat, die sozialen Positionen Lehrerin und Schülerin herzustellen. Im Gegensatz zum Modus Routine lässt sich an dieser Stelle ein weiterer Modus von Praktiken identifizieren, nämlich der Modus Bruch mit Interaktionsrouti­nen. Die Regelförmigkeit der Interaktionssequenz wird ausgesetzt, erzieheri­sche Aspekte treten in den Vordergrund, die Routine wird unterbrochen, das Thema kurzfristig gewechselt. Ausgehandelt wird dabei die Herstellung schuli­scher Ordnung im Gegensatz zu anderen sozialen Ordnungen. Zu den schuli­schen Ordnungen wiederum zählt prominent das Melden als körperliches Signal zur Beantragung des Rederechtes (vgl. Wenzl 2010). Die Markierung als gravie­render Bruch liegt darin begründet, dass nicht nur die Melderegel durch den Zwischenruf von Claus unterbrochen ist, sondern auch die Unterrichtsroutinen. Für die eingangs aufgeworfene Frage, wie aus ethnographischen Beobachtun­gen generalisierbare Erkenntnisse generiert werden können bedeutet dies, dass Praktiken im Modus Bruch gerade dadurch deutlich werden, dass die Routine ausgesetzt und irritiert ist und dadurch offengelegt und prekär wird. Dabei ist nicht transparent, wann ein Dazwischenrufen ohne Melden geahndet wird. In welchem Falle das Dazwischenrufen als störend markiert wird und in welchen Fällen als richtiger Beitrag, der den Fortgang des Unterrichts sichert, (und wann einfach ignoriert) hängt dabei – so zeigt unser Material – von unterschied­lichen Faktoren ab.[1] So spielt beispielsweise der Unterrichtsstil eine Rolle, er­folgreich sind Schülerinnen mit dem Dazwischenrufen ohne Melden eher dann, wenn die Lehrpersonen prozess- und nicht regelorientiert unterrichten. Weiter spielt auch die Einschätzung des Lernklimas eine Rolle. Ein zentraler Befund ist, dass Lehrpersonen, die für mehr Disziplin in ihren Klassen sorgen wollten, neben dem Insistieren auf Pünktlichkeit die wiederholte Markierung der Mel­depflicht als zentrales Feld für die Durchsetzung eines regelgeleiteten Unter­richts ansehen und auf diese Weise über das Melden Ordnung (wiederherstel­len – eine solche Anwendung entzieht der Interaktionssequenz ihre oben (Kap. 4.2) herausgestellte Flexibilität und setzt die schematische Durchsetzung der Regelbefolgung über den Unterrichtsverlauf. Gleiches gilt für die ersten Stun­den in einem neuen Schuljahr, auch hier sind viele Lehrpersonen sehr penibel darauf bedacht, die Melderegel durchzusetzen. Die Funktion ist in solchen Fäl­len vor allem im disziplinarischen Bereich angesiedelt. Zumeist aber liegt die differentielle Handhabung des Regelbruchs durch Dazwischenrufen im Interes­se der Lehrpersonen am Fortgang des Unterrichts selbst begründet, entschei­dend ist, ob der Beitrag den Unterricht voranbringt (und so eine explizite Mar­kierung des Bruchs den Verlauf der Themenerarbeitung unterbrechen würde).

Auch Lehrpersonen weichen in manchen Situationen von der Melderegel ab. Nicht immer werden Schülerinnen aufgerufen, die sich gemeldet haben, son­dern in manchen Situationen auch gerade jene, die sich nicht gemeldet haben, dies stellt gleichsam aus Lehrerinnenperspektive das Gegenstück zur eigen­mächtigen Aneignung des Rederechtes der Schülerinnen ohne vorheriges Mel­den dar. Dies kann zum einen der Fall sein, wenn sich niemand meldet und der Fortgang des Unterrichts in Gefahr ist (vgl. Helsper 2009). Das Aufrufen von leistungsstarken Schülerinnen, bei denen die Lehrpersonen zu Recht vermuten können, dass diese die (für den Unterrichtsverlauf) richtigen Beiträge bringen, dient in diesen Fällen der Aufrechterhaltung des Unterrichts (vgl. Kalthoff 2000; Krummheuer 2008). Häufiger jedoch werden gerade Schülerinnen aufge­rufen, die sich sonst nicht melden, wie dies Frau Huber im zitierten Interview beschrieben hat. Zum einen sind Schülerinnen davon betroffen, bei denen die Lehrpersonen den Eindruck haben, dass sie sich nicht genug beteiligen.

„Als sich wieder einmal nur einige der Jungen melden sagt Herr Claasen, dass er jetzt erst mal warten möchte, weil die Mädchen in den letzten Reihen noch nicht viel ge­sagt haben. Tatsächlich melden sich dann einige. Lilli kommt dann dran. Im Verlauf der Stunde beteiligt sich Edina zunehmend. Insgesamt kommt im Lauf der Stunde viermal Edina, zweimal Ingrid, dran.“

In diesem Beispiel unterbricht der Lehrer Herr Claasen die ritualisierte Form der Erteilung des Rederechtes. Er markiert anhand von räumlichen Kriterien eine Zone der geringen Unterrichtsbeteiligung in den letzten Reihen und fordert die dort sitzenden Schülerinnen auf, sich zu melden, er eröffnet einen Raum, der es ihnen ermöglichen soll, sich – befreit vom Konkurrenzkampf um die Auf­merksamkeit beim Melden – zu beteiligen. Das Nicht-Melden wird paradoxer­weise nun für kurze Zeit zum Kriterium für das Aufrufen des Lehrers. Aller­dings ist dieser Raum nicht unriskant, denn er erhält den Charakter einer Büh­ne, auf der nun für eine kurze Zeit das Stück „Beiträge der letzen Reihen“ zur Aufführung kommt. Der Lehrer markiert eine Zäsur, er „möchte erst mal war­ten“. Ein für den Unterricht ungewöhnlicher Vorgang, in der Regel wird im Un­terricht nicht gewartet, sondern gelernt. Das Warten erfordert ein Ende durch Aktivität der Schülerinnen. Die nun folgenden Beiträge einiger Mädchen finden statt im Zentrum gesteigerter Aufmerksamkeit der Klassenöffentlichkeit. Dies mag vom Lehrer als Unterstützungsleistung angelegt sein, sollten die Schüle­rinnen allerdings tatsächlich nichts zum Unterrichtsgespräch beizutragen ha­ben, würden sie es riskieren, sowohl in Bezug auf die Fachinhalte als auch auf der eröffneten Bühne zu scheitern. Meldet sich jedoch keine von ihnen, dann entfaltet die Bühne ihre eigene Logik, dies können Sanktionierungen, Bestäti­gung von Annahmen des Lehrers über die Schülerinnen u.ä. sein.[2] In dem hier protokollierten Beispiel kann diese Gefahr abgewendet werden. Einige melden sich nun tatsächlich, bei Edina führt die Interaktion im weiteren Gang der Stunde dann sogar zu nachhaltigen Effekten. Die Interaktionspraktik entfaltet ihren ganz eigenen sozialen „Zugzwang“, einmal aufgerufen, sind die Schülerin­nen zu unmittelbaren Reaktionen aufgefordert.

Zum anderen werden Schülerinnen ohne vorheriges Melden aufgerufen, wenn es um Disziplinierungen geht.

„Peter unterhält sich leise mit Max. Frau Stenzel stellt eine Frage: Alle überlegen […], auch der Peter! […] Peter, ich warte auf eine Antwort von dir‘.“

Die Lehrerin Frau Stenzel stellt eine Frage (ob sich andere Schülerinnen mel­den ist nicht protokolliert) und fordert alle auf, zu überlegen. Dann wird „der Peter“ persönlich adressiert, auch er möge überlegen. Intendiert ist damit die Unterbindung seines Gespräches mit dem Nachbarn, das Aufrufen geschieht in disziplinierender Absicht. Dass Peter dabei das Rederecht erhält, wird erst in dem Moment deutlich, in dem die Lehrerin Peter darauf hinweist, dass sie auf seine Antwort wartet. Durch die persönliche Adressierung soll im Falle des dis­ziplinierenden Aufrufens die Aufmerksamkeit des adressierten Schülers/der ad­ressieren Schülerin wieder zur Lehrperson gelenkt werden. Dies impliziert auch eine körperliche Neuausrichtung der derart angerufenen Schülerinnen. Anstatt zu tuscheln soll Peter sich am Unterricht beteiligen. Diese Aufforderung ist in­sofern paradox, als dass die Lehrerin vermuten kann, dass Peter aufgrund sei­ner Gespräche mit dem Nachbarn nicht wird antworten können, ein Unter­richtsbeitrag also eher nicht zu erwarten ist. Zusätzlich wird Peters Tuscheln auf der Ebene der Leistungserbringung zu einer mündlichen Fehlbeteiligung. Für Frau Kick wiederum sind in der Situation erzieherische Aspekte relevanter als die Wissensvermittlung, die unterbrochen wird. Auch in diesem Beispiel geht die Verleihung des Rederechtes über rein fachbezogene Funktionen hinaus und dient der Markierung von schulisch Relevantem (die Lehrerinnenfrage) ge­genüber schulisch Irrelevanten (das Gespräch mit dem Nachbarn). Zentral ist in diesen Beispielen die Fokussierung Disziplinierung und Erziehung.

Sowohl beim Dazwischenrufen der Schülerinnen als auch beim Aufrufen oh­ne vorherige Meldung der Schülerinnen wird die Logik der Interaktionen gera­de nicht in Routinen, sondern im markierten Bruch mit den Routinen deutlich. Wesentliches Kennzeichen des Bruchs ist, nicht routiniert zu sein, sondern eine singulare Ausnahme. Die Unterscheidung zwischen Zufälligkeit und Bruch liegt also in der Reaktion des Feldes selbst begründet. Erst wenn eine singulare Praktik wahrnehmbare Effekte zeigt – wenn also die Routinen durchkreuzt sind – kann auf eine für die Ordnung des Unterrichts bedeutsame Praktik geschlos­sen werden.

Rederecht als ambivalente Praktik zwischen Routine und Bruch

Der Interaktionssequenz Fragen-Melden-Aufrufen kommt als kleinste soziale Einheit eine grundlegende Funktion bei der Ordnung von Unterricht zu: Nor­men werden verhandelt, Wissen abgefragt, körperliche Handlungen ausgerich­tet. Deutlich wird dabei, dass die Lehrpersonen für sich einen anderen Umgang mit der Melderegel reklamieren als sie für die Schülerinnen geltend machen. Sowohl beim Fragen-Melden-Aufrufen als auch beim Aufrufen-ohne-Melden be­halten die Lehrpersonen die Möglichkeit der Auswahl, sie bestimmen, wer spre­chen darf und wer nicht. Zwar können die Schülerinnen den Auswahlprozess beeinflussen, indem sie ihr Melden durch Rufe unterstreichen oder durch Nicht-­Melden signalisieren, dass sie nicht drankommen möchten. Dieser Schutz ist aber kein vollständiger, denn den Lehrpersonen kommt augenscheinlich das Recht zu, genau diese Schülerinnen zu adressieren und dann unter ihnen aus­zuwählen. So werden die sozialen Positionen Schülerin und Lehrerin hergestellt und als konträr entworfen, denn wie McHoul (1978) anmerkt, ist Lehrperson, wer das Rederecht vergeben darf, Schülerin hingegen ist, wer das Recht erst er­hält Die Lehrpersonen verteilen das Rederecht – vor allem den eigenen Ansprü­chen sowohl an Gerechtigkeit als auch an dem Fortgang des Unterrichts glei­chermaßen verpflichtet. Die Schülerinnen empfangen das Rederecht (oder eben nicht), sie müssen die intransparenten Regeln mehr oder weniger einhalten. Dieser Befund stützt die Erkenntnisse früherer internationaler Studien. So meint Atkinson: „The patterns of turn-talking and rights to speak in classrooms […] display the asymmetry of such interactional settings. The situated rules of talk embody the differential distribution of power and authority“ (Atkinson 1988, S. 448; auch Mehan 1979). Außer dem pädagogisch unterfütterten Hin­weis auf (Geschlechter-) Gerechtigkeit finden sich in unseren Interviews und Be­obachtungen kaum explizite Erklärungen, wieso das Aufrufen in der jeweils ge­wählten Form funktioniert, den Schülerinnen muss dieses Verfahren deswegen tendenziell unklar bleiben (vgl. Sacher, 1997b; zu Leistung auch Lipowski u.a. 2007, S. 137-139). Die Intransparenz unterstützt und produziert gleichzeitig die asymmetrische Anordnung der sozialen Positionen Schülerin und Lehrperson und dient der Kontrolle der Aufmerksamkeit. Die tendenzielle Undurchschau­barkeit schürt die Konkurrenz, da es in unseren Beobachtungen keine explizier­ten (und damit einklagbaren) Regelungen der Auswahl gibt.

Allerdings ist diese Asymmetrie der sozialen Positionen Schülerin und Lehr­person keine hierarchische „Einbahnstraße“. Denn erstens kann die Ausdeutung, was das Einhalten von Regeln angeht – wie gezeigt – durch körperliche und ver­bale Zusatzaktivitäten variieren, wenngleich die Schülerinnen den Rahmen nicht verlassen können, ihre Interaktionen sind reaktiv. Die mündliche Mitarbeit ist weniger von dem Engagement der Schülerinnen abhängig, als vielmehr von der interaktiven Ausdeutung dieses Engagements. Zweitens bedeutet die Tatsache, dass das Engagement der Schülerinnen reaktiv ist, nicht, dass diese der Vertei­lung des Rederechtes als passive Empfängerinnen gegenüberstehen. Sie können vielfältige Strategien der gekonnten Handhabung ihrer mündlichen Mitarbeit zur Anwendung bringen, beispielsweise in Form von „aufdringlichen Meldungen“ oder aber der Beteiligungssimulation. Breidenstein (2006) wiederum berichtet von Praktiken der ökonomischen Kalkulation des Engagements, eine systematisie­rende Analyse steht allerdings noch aus.

Die in der Ordnungsfunktion der Meldepflicht angelegte „Verkörperung“ soll unter anderem für die körperliche Ausrichtung der Schülerinnen auf einen spe­zifischen und regelgeleiteten Modus der Teilnahme am Unterricht sorgen. Darin liegt für die Schülerinnen eine Ambivalenz: So sind sie aufgefordert, sich mit Beiträgen zu beteiligen, andererseits ist die Aufmerksamkeit der Lehrpersonen ein knappes Gut. Die Ausrichtung der Körper provoziert geradezu den Regel­übertritt, denn die mit der mündlichen Beteiligung gleichzeitig einhergehende Konkurrenz um Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit des Engagements erfordert, sich von den anderen Schülerinnen abzusetzen und führt zu den unterschiedli­chen Varianten der körperlichen oder sprachlichen Erweiterung des Meldens, oftmals an der Grenze zwischen legitimen und illegitimen Verhalten. Die Auf­merksamkeitsökonomie und die Konkurrenz Vieler um begrenzte Mitwir­kungsmöglichkeiten verlangt von den Schülerinnen Widersprüchliches, zum ei­nen sollen sie Mitarbeit signalisieren, zum anderen sollen sie dies wohlgeordnet tun, die Grenze zum Stören ist schmal. Damit wird deutlich, dass Lehrpersonen und Schülerinnen der Interaktionssequenz unterschiedliche Bedeutung beimes­sen können.

Für Lehrpersonen steht „doing class“ in Form der erzieherischen Herstellung von Arbeitsatmosphäre sowie der Regulierung des fachbezogenen Diskurses im Vordergrund. Neben dem Fortgang des Unterrichts sind es vor allem erzieheri­sche Aspekte, die verhandelt werden (vgl. Hinkel 2006). Es geht nicht nur um die Organisation der Vermittlung fachlicher Wissensbestände im Unterrichtsge­spräch, in herausragender Weise wird ebenfalls ausgehandelt, welche unterricht­lichen Spiel- und Sprechregeln gelten sollen. Damit werden spezifische schulische Ordnungen thematisiert und in Kraft gesetzt. Aus diesem Grund werden in sol­chen Situationen Schülerinnen auch für die Einhaltung der Regeln gelobt und nicht für die Inhalte der Beiträge, denn beides stellt eine Leistung im Sinne der Herstellung und Ordnung von Unterrichts dar. Immer wieder „schiebt“ sich die erzieherische Folie vor die fachlichen Aspekte und dominiert die Handhabung. Bei einer Reihe von Schülerinnen treten neben das ,doing pupil‘ (also dem Verhal­ten gemäß der Erwartungen der Lehrpersonen gleichsam als Pendant zum „doing class“) andere Formen der Bearbeitung der Melderegeln. Diese möchte ich heuris­tisch als „doing peers“ bezeichnen und fasse damit Praktiken wie beispielsweise provozierendes Unterlaufen der Melderegel, welches der individuellen Performanz auf der Bühne Unterricht vor den Augen der Mitschülerinnen als Zuschauerlnnen dient. Die Unterrichtsbeteiligung von Schülerinnen ist eingespannt in einen Zwiespalt zwischen „doing pupil“ als „Schülerjob“ (vgl. Breidenstein 2006; auch Breidenstein/Jergus 2008, S. 130) und Varianten des „doing peers“. Beim Rederecht kommt es regelmäßig dazu, dass Schülerinnen gegen die Ordnung des Unterrichtes verstoßen, gerade weil sie – im Sinne von „doing student“ – erfolg­reich Unterrichtsbeiträge platzieren wollen. Denn die disziplinarische Interventi­on von Lehrpersonen verschiebt dies auf die Ebene von „doing peers“, da die Dis­ziplinierung erstens auf der erzieherischen Ebene durch die Lehrperson ein Sig­nal an die Mitschülerinnen (als Zuhörerlnnen und als „Bystanders“, vgl. Krumm­heuer 2008) darstellt und zweitens bei den Schülerinnen als riskante Praktik An­erkennung positive Beachtung finden kann. Das beschriebene ,Spiel an den Gren­zen‘ erscheint neben dem Modus Bruch und dem Modus Routine als spezifische Bearbeitungsvariante des Spannungsfeldes von „doing pupil“ und „doing peers“ und verknüpft darin die beiden Modi Routine und Bruch.

Die Sequenz Frage-Melden-Aufrufen funktioniert größtenteils selbstläufig und unbewusst bis in den körperlichen Vollzug des Meldens hinein. Dies bestä­tigt sich unabhängig von dem jeweiligen Fach, welches unterrichtet wird, spezi­fische fachkulturelle Ausdeutung der Interaktionssequenz lassen sich mit unse­rem Material nicht dokumentieren. Allen Unterrichtsakteurlnnen scheint das Spiel der Routinen klar und geläufig. Nur im Falle gravierender Verletzungen wird die Regeleinhaltung angemahnt. Bei der Verteilung des Rederechtes sind – so zeigt die Empirie – die Brüche zumeist geringer Natur, nach der kurzen Mar­kierung einer Zäsur arbeiten Lehrpersonen und Schülerinnen zügig daran, die Routine der Abfolge Fragen-Melden-Aufrufen wiederherzustellen. Denn solange die Routine des Unterrichtsgesprächs nicht gestört wird (solange sozusagen „al­les seinen Gang geht“), können kleinere Regelverstöße ignoriert werden. Sind die Regelverstöße allerdings beispielsweise provokativer Natur, wird das Unter­richtsgespräch gestört, da sowohl die Melderegel als auch die Unterrichtsrouti­ne verletzt sind (vgl. Sacher 1997a).

Für die Ordnung von Unterricht bedeutet dies, dass die impliziten Routinen nicht starr und schematisch angewendet werden, sondern flexibel in einem Spektrum von Variationsmöglichkeiten. Die Melderegel ist somit keine statische Grenze zwischen legitimen und illegitimen Verhalten, sondern eine Zone der praktischen Ausgestaltung von Routinen. Die flexible Handhabung der Mel­deregel scheint eigentlicher Charakter der Interaktionssequenz zu sein.

Aus praxeologischer Perspektive — so lässt sich summieren – dient die spezi­fische Verteilung des Rederechtes der Ordnung von Unterricht, indem alle drei eingangs skizzierten Differenzenlinien (vgl. Kolbe u.a. 2008) bearbeitet werden: erstens wird eine unterrichtliche Sprechordnung im Gegensatz beispielsweise zu den spontanen Sprechordnungen in Peer-Groups verhandelt, zweitens wer­den die sozialen Positionen Lehrperson und Schülerinnen hergestellt und drit­tens dient das Aufrufen dazu, unterrichtliches im Gegensatz zu nicht-unter­richtlichem Wissen anzusprechen.

Wie die empirischen Beispiele zeigen, ermöglicht die Teilnahme im Feld In­teraktionspraktiken in unterschiedlichen Modi wahrzunehmen und auf diese Weise Erkenntnisse zu generieren. Grob vereinfacht existieren einerseits „Wie­derholungspraktiken“, die durch unendliche feine Variationen eine Abfolge rou­tinierter Handlungen hervorbringen, die auf feldspezifische Ordnungsstruktu­ren verweisen. In einem solchen Verständnis besteht der Unterricht geradezu aus einer Aneinanderreihung von Wiederholungspraktiken. Die spezifischen In­teraktionsroutinen werden erst in längerfristigen Vollzügen sichtbar. Anderer­seits gibt es Situationen, die mit den Handlungsroutinen brechen, für Irritatio­nen (im Feld oder bei den Forschenden) sorgen und in diesem Sinne gerade die gewohnte Handlungsroutine dadurch offen legen, dass die Mitarbeit verweigert und dadurch die Prekarität sozialer Praktiken deutlich wird.

Auf der erkenntnistheoretischen Ebene zeigen sich mit Bruch und Routine zwei zentrale Modi, in denen Praktiken wirksam und beobachtbar werden. Während der Bruch spektakulär und auffällig ist – und als solches von den Beo­bachtenden sofort bemerkt werden – verdichtet sich die Routine erst im Laufe der Anwesenheit; die Dauer der Beobachtung hilft den Beobachtenden, heraus­zufinden, ob die Praktiken zufällig oder routiniert (und damit konstitutiv für die feldspezifischen Ordnungen) sind. Dauer ist dabei weniger als faktische Zeit verstanden (die braucht es auch), sondern als eine Art „Zustand der Sättigung“ für die feldspezifischen Ordnungen. Wenn die Beobachtung routinierter Prakti­ken – so könnte man formulieren – für die Forschenden selber zur Routine wird, ist eine reflexive Distanzierung vom Feld geboten, da das „going nativ“ ansons­ten in eine Art „being nativ“ umschlägt, in ein Aufgehen im Feld.

Bruch und Routine sind dabei nicht als dichotome Gegensatzpaare zu ver­stehen, sondern als lineare Modi der Handhabung, die sich ergänzen, abwech­seln oder widersprechen können, denn der Bruch funktioniert ja nur deswegen als Bruch, weil er mit routinisierten Handlungsabläufen bricht. Aus diesem Grund ist er auch nicht zufällig, die Irritation des Feldes, die Zäsur in den Rou­tinen, die den Bruch ja erst als Bruch markiert, offenbart gerade die routinierte Struktur der Praktiken, deren Selbstverständlichkeit temporär irritiert und au­ßer Kraft gesetzt wird. Somit trifft auch der Bruch Aussagen über die Routinen, Indikator sind die Reaktionen, die mit dem Bruch einhergehen, die markieren, inwieweit die Routinen gestört sind. Besonders deutlich wird dies im „Spiel an den Grenzen“ des Umgangs mit der Meldepflicht, da beide Modi zur gleichen Zeit wirksam sind.

Verbinden lassen sich die beiden Modi in einer praxistheoretischen Perspek­tive mit Bezug auf Reckwitz (1997, S. 142-146), der die Antinomie zwischen Routinisierbarkeit und Zukunftsungewissheit sozialer Praktiken als wesentli­ches Merkmal beschreit und sie unter anderem über die Zeit – d.h. über den temporalen, sequenzhaften Verlauf von Praktiken – aneinander bindet. Am Bei­spiel der Handhabung des Rederechtes wird deutlich, dass hier die Routinisier­barkeit zu überwiegen scheint. Brüche der Ordnung des Aufrufens werden schnell geregelt, der unterrichtliche Verlauf wieder in Kraft gesetzt. Dies mag nicht zuletzt damit zusammenhängen, dass das schulische Feld insgesamt einen hoch verregelten Bereich darstellt, in dem bereits leichten Abweichungen (z.B. S. 145 von der Regel, sich zu melden) mit expliziten Sanktionierungen belegt werden können.

Fußnoten

1) Anhand von Auszählungen lassen sich unterschiedliche Erfolgsaussichten der Beteili­gungsstrategien abschätzen. Knapp ¼ aller Kinder beteiligt sich überhaupt nicht am Unterrichtsgespräch, dies sind vor allem Mädchen. Auch andere Studien weisen dar­auf hin, dass längst nicht alle Schülerinnen im Verlauf einer Unterrichtsstunde auf­gerufen werden, da die Lehrpersonen diese übersehen oder, wie Sacher ebenfalls ein­räumt, nicht aufrufen wollen (Sacher 1995). Weiter gibt es eine kleine Gruppe, die sich nur mit wenigen Beiträgen am Unterricht beteiligt. Andererseits existiert eine größere Gruppe der Klasse, die sich intensiv am Unterricht beteiligt. Die Strategie, Beiträge dazwischen zu rufen, ohne sich gemeldet zu haben, ist häufiger bei Jungen anzutreffen, während Mädchen sich vergleichsweise häufiger melden, ohne aufgeru­fen zu werden.

2) Um das Aufgerufen-Werden zu vermeiden (bei Nicht-Wissen ja eine sinnvolle Strate­gie), könnte es also effektiver sein, sich – wie Andrea und Editha im oben genannten Beispiel – in einer Weise zu melden, die von der Lehrperson zwar übersehen wird, gleichzeitig aber Teilnahmebereitschaft signalisiert.

Mit freundlicher Genehmigung des Budrich Verlages.
http://www.budrich-journals.de/index.php/zqf/article/view/6100

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