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Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Der Klassenrat ist in der von mir beobachteten Grundschulklasse ein schulisch-institutionell verankertes Gremi­um. Welche Lernprozesse sieht die schulische Ordnung hier vor? Intendiert ist, dass die Schüler und Schülerinnen im wöchentlich ritualisierten Klassenrat Probleme bespre­chen, die während des Schulalltages entstanden sind. Dazu sollen die Beteiligten ihre Sicht auf den jeweiligen Problemfall und ihre Gefühle dazu äußern. Außerdem können sie Wünsche hinsichtlich möglicher Veränderun­gen an die beteiligten Personen formulieren. Die Schüler und Schülerinnen sollen folglich lernen Konflikte selbstständig zu lösen, indem sie sie verbal nachvollziehbar darstellen und mit Hilfe der Klassenöffentlichkeit besprechen. Die Öffentlichkeit ist als beratende und helfende Klassenöffentlichkeit vorgesehen. Die SchülerIn­nen sollen außerdem lernen, die Perspektiven der anderen Beteiligten einzunehmen. Das Gespräch findet im Sitzkreis statt. Die Lehrerin protokolliert das Gesagte. Auch wenn die SchülerInnen die Moderation selbst über­nehmen, ist sie anwesend und Teil der unterrichtlichen Öffentlichkeit. In meinen videogestützten Beobachtungen konnte ich feststellen, dass viele der beobachteten Gespräche eine Doppelbödigkeit zeigten. Die öffentlichen Äußerungen schienen manchmal an die zuhörende Lehrerin gerichtet zu sein, manchmal enthielten die Äußerun­gen auch Hinweise an die Peers und zeigten, dass die SchülerInnen zwischen den Erwartungen der Institution und denen der MitschülerInnen unterschieden.

Um diese Doppelbödigkeit im Spannungsfeld schulisch normativer Handlungserwartungen und peer­kultureller Reaktionen nachvollziehbar zu machen, stelle ich im Folgenden einen Gesprächsausschnitt aus einer Klassenratssitzung vor. Die SchülerInnen sind zu diesem Zeitpunkt neun und zehn Jahre alt und blicken auf eine dreijährige Klassenratserfahrung zurück. Sie leiten den Klassenrat selbst und gehen dabei nach einer festen Ta­gesordnung vor. Zunächst wird ein Wochenrückblick vorgenommen. Dann folgt das Gespräch über angemeldete Probleme. Dieser Punkt ist von allen der zeitaufwändigste und führt in der Regel dazu, dass die sich anschlie­ßende Runde mit Wünschen für die Folgewoche nur noch sehr gerafft stattfinden kann [2]. Abschließend werden Rückmeldungen für die leitenden Schülerinnen, Präsidentinnen genannt, formuliert. In dieser Szene geht es nun um ein Problem zwischen Raphael und Nils; es ist einer von drei angemeldeten Problemfällen.

„Nee, das war ich nicht. Das hat der Schlauch gemacht“ – Argumentationen zwischen Taktik und Überzeugung

Nils stellt fest, dass Raphael mit Wasser rumgespritzt habe, als er Blumengießdienst hatte. Raphael differenziert Nils‘ Aussage einschränkend und suggeriert, dass er einen Unterschied zwischen Wasser anmachen und nass spritzen sieht. Dominik widerspricht als Zeuge oder Beobachter dieser Aussage und zeigt, dass durchaus eine Kausalität besteht. Raphael insistiert, der Schlauch habe gespritzt, nicht er. Auch Dominik beharrt und rekurriert wiederholt auf die Kausalität zwischen anmachen und nass spritzen.

Lisa mischt sich unterstützend ein. Sie fragt verständnissichernd nach, ob er den Schlauch angemacht habe und begründet weiterführend, dass der Schlauch nicht von alleine angehen und rumspritzen könne. Sie korrigiert ihre Aussage und stellt fest, dass der Schlauch schon von alleine rumspritzen könne und erkennt offensichtlich Ra­phaels Argumentationskern. Raphael bestätigt sie daraufhin zweimal und nutzt ihre Aussage für die Beweiskraft seiner Argumentation. Als Lisa registriert, dass sie Raphael ungewollt unterstützt hat, führt sie ein neues Argu­ment an. Sie hinterfragt den Sinn seiner Handlung und zeigt ihm auf, dass mit Wasser zu spritzen Wasserver­schwendung sei. Damit konfrontiert sie ihn mit einer in ihren Augen sinnlosen Konsequenz seines Handelns und weicht auf ein neues Thema aus. Es geht nicht mehr um die Kausalität zwischen Wasser anmachen und Nils‘ Schädigung, sondern um die Kausalität zwischen sinnlosem Wasser anmachen und Wasserverschwendung. Lisa sucht offensichtlich nach einem beweiskräftigen Argument, um Raphaels Rationalisierungspraxis zu entkräften.

Ein weiterer Zeuge mischt sich ein und ergänzt Lisas Aussage, indem er darauf aufmerksam macht, dass Nils Raphael mehrmals aufgefordert habe, das Wasser abzustellen. Auch hier differenziert Raphael und macht aus „mehrmals“, „zweimal“. Er widerspricht nicht der Aussage als solcher, sondern schränkt sie zu seinen Gunsten ein. Der Zeuge widerspricht ihm und insistiert. Raphael entkräftet dessen Feststellung und spricht ihm ab, etwas bezeugen zu können. Eine Widerspruchssequenz zwischen beiden folgt und führt dazu, dass Raphael einlenkt und der Zeuge Recht behält.

Nils ergreift als Fallgeber wieder das Wort und fragt Raphael nach dem Sinn seiner Handlung. Damit greift er implizit Lisas Argumentationsmuster auf. Seine Frage führt zu einer Verschiebung des Gesprächs vom ‚Was‘ auf das ‚Warum‘ der Handlung.

Es gibt keine Erklärung. Nils` Frage, ob es ihm Spaß mache, verneint Raphael lächelnd. Seine Inkongruenz zwischen Äußerung und Mimik suggeriert, dass es ihm doch Spaß gemacht hat und er weiß, dass er dies öffent­lich nicht zugeben sollte. Er inszeniert sich als geschickter Stratege und unterstreicht mit seiner Mimik das Wis­sen um die Doppelbödigkeit der Situation.[4] Nils akzeptiert seine Reaktion nicht. Raphael insistiert. Auch auf Nils` zweite Nachfrage, warum er Sachen mache, die keinen Spaß machen, erwidert Raphael, dass er es nicht sagen könne. Die ‚Warum-Frage‘ ist offensichtlich für Raphael nicht mehr beweiskräftig zu beantworten. Er gesteht indirekt ein etwas gemacht zu haben, was nicht begründbar ist und impliziert damit, dass Ärgern auch Spaß macht. Sein Eingeständnis scheint für ihn mit keinem Gesichtsverlust verbunden zu sein. Vermutlich ge­fällt ihm die Rolle des ‚witzigen Normbrechers‘.

Die Lehrerin möchte abschließend wissen, ob es einen Beschluss gibt. Sie übernimmt hier die Ergebnissiche­rung, die sonst in der Hand der Präsidenten liegt. Möglicherweise reichte beiden Raphaels Aussage.

Nils wünscht sich daraufhin, dass Raphael aufhören soll. Auf die Intervention der Lehrerin hin präzisiert und begründet er seinen Wunsch. Er findet, wenn er Blumendienst habe, solle Raphael gar nicht erst mitgehen, dann könne er auch keinen Quatsch machen. Raphael bestätigt Nils´ Wunsch. Auch wenn seine vorhergehende Be­gründungspraxis sein Einverständnis relativiert, zeigt er sich als routinierter Verfahrensbeteiligter, der mit seiner Bestätigung das Verfahren beenden muss.

Beide, Nils und Raphael, inszenieren sich in ihren Rollen. Nils zeigt sich als normkonform Handelnder, der erwartet, ungestört seinen Klassendienst ausführen zu dürfen. Er suggeriert, dass Raphael Spaß am Ärgern hatte und provoziert dessen Geständnis. Raphael inszeniert sich als geschickter Stratege, dem es gelingt, unter Ver­weis auf sprachliche Ungenauigkeiten eine inhaltliche Auseinandersetzung aufzuschieben. Er stellt sich als ge­witzter Normbrecher dar, der durch Inkongruenz von Mimik und Sprache im öffentlich-institutionellen Raum den Spaß an normverletzenden Handlungen andeutet.

Lernprozesse

Die Beteiligten an dem Schlichtungsgespräch zeigen ein hohes Maß an Verfahrenssicherheit und -routine. Das Prozedere vollzieht sich ohne größere Lenkung durch die leitenden Kinder. Die SchülerInnen sprechen sich wechselseitig persönlich an und handeln den thematisierten Dissens argumentativ aus. Dabei tauschen sie ihre individuellen Situationsdeutungen aus. Der Fallgeber Nils formuliert seinen Unmut genauso wie seinen Wunsch zur Veränderung des kritisierten Verhaltens. Er weiß sich auf der ‚sicheren‘ Seite; da er eine Normverletzung nachweisen und damit sicher gehen kann, auch die Akzeptanz der Lehrerin zu erhalten. Er beruft sich dement­sprechend in seiner Begründungspraxis auf die Erwartung normkonformen Verhaltens, argumentiert linear und überzeugend.

Sichtbar wird in diesem Prozess, dass die schulische Autorität stets anwesend ist. Die Interventionen der Kin­der im Klassenrat zeigen, wie sich diese wechselseitig klar machen, dass sie sich in der Schule befinden und die Aufgabe bearbeiten, regelgeleitet Konflikte zu besprechen. Sowohl die Handlungen der leitenden und diskutie­renden als auch der zuhörenden SchülerInnen machen deutlich, dass hier nicht ‚einfach so‘ unter Kindern ver­handelt wird, sondern dass die Kinder als Schülerinnen und Schüler Teil eines Verfahrens sind, dem eine schuli­sche Ordnung zu Grunde liegt. Der schulische Handlungsrahmen bleibt immer präsent. An den Aussagen der SchülerInnen ist erkennbar, dass es ein geteiltes Wissen darüber gibt, welche Verhaltensweisen in der Schule gewünscht werden und welche nicht. Raphael z. B. zeigt mit seinem Verhalten, dass ihm bewusst ist, eine schu­lische Norm verletzt zu haben und er sich abschließend gegenüber Nils einsichtig zeigen muss. Nils argumentiert hingegen selbstbewusst aus der Perspektive des Opfers, das einen Schadensausgleich verdient hat.

Erkennbar ist auch, dass in der Schule nicht geduldete Vorgehensweisen, z. B. „Spaßärgern“, durchaus gedul­dete implizite Handlungsmuster der Peer-Kultur sein können. Es zeigt sich ein Nebeneinander von offiziellen, schulischen Argumentationen und inoffiziellen, mimisch und gestisch nur angedeuteten Vorstellungen. So ver­weisen die Gespräche im Klassenrat rückblickend darauf, dass die SchülerInnen kein Interesse daran haben, die Differenz zwischen den Erwartungen der Gleichaltrigen und denen der Schule aufzuheben und den Klassenrat zum Ort persönlicher Eingeständnisse zu machen. Sie sind im Klassenratsgespräch um die soziale Anerkennung der Lehrerin und der Peers bemüht und lösen diese Dilemmasituation, indem sie nur das veröffentlichen, was mit dem Aufrechterhalten eines konsistenten Images vereinbart werden kann. Die Aussagen sollen sowohl die schu­lischen Erwartungen erfüllen, als auch vor den Augen der Gleichaltrigen Bestand haben können.

Dennoch zeigt sich in den regelmäßigen, kindergeleiteten Klassenratsgesprächen auch ein Gewinn von Hand­lungsautonomie. Es wird sichtbar, dass die kommunikativen Peer-Aushandlungen im Klassenrat nicht nur zum sozialen, sondern auch zum sprachlichen Lernen führen. Die Argumentationspraktiken der Kinder enthalten Begründungsmuster und Aspekte kooperativer Kommunikativität. Dies sind Fähigkeiten, die sonst im Fachun­terricht mit didaktisch durchdachten Lernschritten erreicht werden sollen und dennoch selten zu einer ähnlich komplexen Gesprächsbeteiligung führen. Krummheuer und Brandt (2001) definieren den Gewinn von Hand­lungsautonomie in Anlehnung an Bruner (1983) als Rollenverschiebung innerhalb fester Interaktionsmuster [5]. Der kindergeleitete Klassenrat mit seinem schematischen Ablauf ermöglicht eine solche Rollenverschiebung. Die zunehmend differenzierter werdende Begründungspraxis der Schülerinnen erweckt den Eindruck von wach­sendem Interesse am kollektiven Austausch und eines Ringens um die besseren Argumente. Die Analyse zeigt, dass die Kinder sich auch ohne Hilfe der Lehrerin verständigen und auseinandersetzen. Die Lehrerin hält sich auch in den Folgeszenen dieser Sitzung komplett aus dem Gespräch. Sichtbar wird, dass die SchülerInnen mit der wachsenden Zurückhaltung der Lehrerin die Funktion der Gesprächsmoderation selbstständig ausfüllen und zunehmend Rollenanteile übernehmen, die sonst die Lehrerin inne hatte. In diesem Kontext wird der Gewinn von Handlungsautonomie an der Übernahme argumentativer und moderierender Anteile im Gespräch sichtbar. Die SchülerInnen machen sich gegenseitig deutlich, welche Aussagen akzeptiert und welche nicht anerkannt werden. Es kommt zu einer Auflösung der für unterrichtliche Kommunikation typischen Asymmetrie (vgl. Mehan 1979) und zur Entwicklung von Argumentationen, die den Gewinn von kommunikativer Kooperativität erkennen lassen. Die Interaktionen zwischen den Schülerinnen und Schülern zeigen, dass zwischen den Beteilig­ten phasenweise Reziprozität und Egalität hergestellt bzw. darum gerungen wird und kein Kind unhinterfragt für sich die Deutungsmacht beanspruchen kann.

Diese Beobachtungen korrelieren mit denen von Krappmann und Oswald, die in ihren Studien zum Alltag von Schulkindern (1995) auf die Bedeutung der Peer-Interaktionen für schulische Lernprozesse aufmerksam machen. Sie beobachteten Berliner Grundschüler in ihren Interaktionen, Beziehungen und Aushandlungsprozes­sen. In Anlehnung an Youniss (1994) und Piaget (1983) kommen sie in ihren Analysen zu dem Fazit, dass die Interaktionen der Gleichaltrigen, die auf relativ gleichem Entwicklungsstand stehen und über ähnliche Fähigkei­ten verfügen, besonders gute Voraussetzungen bieten um ko-konstruktive Leistungen zu vollbringen (vgl. Krappmann/Oswald 1995, S. 21). Youniss weist in diesem Kontext auf die Notwendigkeit von Beziehungen unter Gleichaltrigen für soziale Konstruktionsprozesse hin und macht deutlich, dass erst innerhalb symmetri­scher kommunikativer Beziehungen des Subjekts eine soziale Konstruktion von Wissen entstehe. Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern sind grundsätzlich asymmetrisch und durch ein Ungleichgewicht von Erfah­rung, Wissen und Macht gekennzeichnet.

So kann die wechselseitig aufeinander bezogene Kommunikation der Beteiligten im dargestellten empiri­schen Beispiel einerseits als reziproke Handlung gedeutet werden. Andererseits kann Raphaels abschließendes Einlenken und Nachgeben ein Indiz für die Überformung des Klassenrates durch strategisches Verhalten sein. Der kindergeleitete Klassenrat zeigt, dass es zur Entwicklung gegenseitiger Achtung in Kooperation unter ‚Glei­chen‘ kam. Dazu ist das gegenseitige kognitive Verstehen und Begründen nötig, aber auch das Zuhören und Rücksichtnehmen. In diesem Prozess werden die sozialen und kommunikativen Fähigkeiten der SchülerInnen herausgefordert. Dennoch wird offenbar, dass die Öffentlichkeit des Verfahrens einerseits taktische Verhaltens­weisen nach sich zieht und sie andererseits durch ihre kontrollierende Funktion wieder einschränkt. Kooperative Einigungen am Ende von Konfliktgesprächen sind somit das Resultat taktischer Erwägungen als auch überzeu­gender Argumentationen.

Das öffentliche Klassenratsverfahren verlangt von seinen Akteuren spezifische Handlungskompetenzen, die es zu lernen galt. Denn der Klassenrat findet auf der Klassenbühne statt. Als institutionelles Verfahren unterscheiden es die Kinder deutlich von privaten Aushandlungen. Der offizielle, schulisch-institutionelle Rahmen des Klassenrates führt somit einerseits zur Reproduktion schulischer Erwartungen. Andererseits führt die konti­nuierliche Auseinandersetzung im geregelten Setting zur Herausbildung einer klassenratstypischen Gesprächs­kultur, die sich in der Ausprägung individueller und kollektiver Argumentationen [6] und der Herstellung kommu­nikativer Kooperativität zeigt und gleichsam offizielle und inoffizielle Rationalisierungspraktiken zu vereinen sucht.

Die Klassenlehrerin erkannte im Laufe des Forschungsprozesses dieses Spannungsverhältnis und befragte in einem Gespräch zu Beginn des vierten Schuljahres die Kinder danach, wie sie die Situation empfanden, in einen Konflikt verwickelt zu sein, der im Klassenrat besprochen würde. Dreiviertel der Kinder beschrieben die Situati­on für sich als peinlich und beschämend. In einem Gespräch über Handlungsalternativen entschieden sie darauf­hin gemeinsam, nur noch Themen im Klassenrat zu besprechen, welche die ganze Klasse betrafen bzw. zumin­dest einen großen Teil der Klasse. Für interindividuelle Konflikte richteten sie den Streitschlichterdienst ein. Diese Entscheidung führte zu einer Umstrukturierung der Klassenratstagesordnung und dementsprechend zu einer Veränderung der Gesprächsthemen.

Soziales Lernen, politisches Lernen, Demokratie-Lernen?

Dagmar Richter unterscheidet in ihren Reflexionen zu den Inhaltsbereichen und Kompetenzformen des Sachun­terrichts (Richter 2002) zwischen dem sozialen und moralischen, dem politischen und dem Demokratie-Lernen. Unter welchem der genannten Aspekte lassen sich nun die oben beschriebenen Lernprozesse fassen?

Richter konstatiert, dass es beim politischen Lernen im Sachunterricht weniger darauf ankommt, eine bestimmte Katego­rie des Politischen verstanden zu haben und anwenden zu können, als prinzipiell den Unterschied zwischen Pri­vatheit und Öffentlichkeit zu verstehen (vgl. ebd., S. 167). In diesem Sinne wird an der dargestellten Klassen­ratsszene erkennbar, dass sich Grundschulkinder in einem Spannungsfeld von schulischem System und kindli­cher Lebenswelt als gemeinsamer Figuration (vgl. Scholz 2003, S. 43) bewegen und Praktiken entwickelt haben, mit dieser Spannung umzugehen. Sie haben eigene Anpassungsmechanismen ausgebildet, um den Verhaltens­- und Handlungserwartungen der Institution zu entsprechen. Dazu gehört auch, zwischen den Erwartungen der Institution und denen der MitschülerInnen zu unterscheiden. Es sind schulisch bewährte Lebens- und Überle­bensstrategien, die deutlich machen, dass SchülerInnen und LehrerInnen unterschiedliche schulische Welten erleben. In Richters Sinne entspricht dies der Unterscheidung von Öffentlichkeit und Privatheit. Eine Ausdiffe­renzierung der verschiedenen Sichtweisen könnte an diesem Beispiel im Unterrichtsgespräch dazu führen, dass implizite Abhängigkeiten der SchülerInnen von den schulischen Strukturen explizit werden und somit zum poli­tischen Lernen führen. Häußling spricht in diesem Kontext vom „Versachlingsdruck“. Er reflektiert am Fallbei­spiel des Sachunterrichts, wie aus soziologischer Sicht aus einer „Sache ein Sachverhalt“ wird. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass die Schülerinnen über bildungspolitische, institutionelle und pädagogische Maßnahmen einem „Versachlingsdruck“ ausgesetzt sind, mit dem Ziel in gesellschaftlich vorgegebene Rollen hineinzuwach­sen (vgl. Häußling 2004, S. 153). Erst die schulische Thematisierung dieses reell bestehenden „Versachlichungsdrucks“ und der zu Grunde liegenden Ursachen führt zu einem Prozess des politischen Lernens.

So lässt sich am Beispiel des Klassenrates zeigen, dass die SchülerInnen die Rolle der lösungsorientierten KonfliktpartnerInnen einnehmen und sich dem „Versachlingsdruck“ beugen. Rauterberg weist in seinen kriti­schen Reflexionen des Prinzips der Lebensweltorientierung im Sachunterricht auf die Problematik hin, die sich aus dem Paradigma ergibt, sich an der Lebenswelt des Kindes orientieren zu wollen. Er kritisiert, dass die Dis­krepanz zwischen kindlichen Erfahrungen mit der Umwelt und wissenschaftlichen Umweltkonstruktionen der Erwachsenen häufig nicht gesehen wird (vgl. Rauterberg 2004, S. 146). An dem dargestellten Beispiel wurde in diesem Sinne sichtbar, dass die pädagogische Vorstellung, den Klassenrat als Gremium des Demokratielernens zu betrachten und ihn gleichzeitig auf die diskursive Aushandlung von interindividuellen Konflikten zu reduzie­ren, systemische Zusammenhänge ausblendet. Auseinandersetzungen im Klassenrat werden von der Macht der Institution gerahmt. Es zeigt sich, dass die Beteiligten ihr Peer-Sein und ihr SchülerInnen-Sein im Klassenrat miteinander ausloten und beides nicht immer voneinander zu trennen ist. Die „Hinterbühne“ wird in diesem Kontext zur „Vorderbühne“ und lässt erkennen, dass sich Peerkultur und Unterricht gegenseitig beeinflussen und zur Ausbildung spezieller kultureller Peerpraktiken fuhren, mit denen die Schülerinnen aktiv „zur Verschulung der Schule“ (Wiesemann 2005, S. 33) beitragen. Diese Grenzziehungen können als Interesse der SchülerInnen gewertet werden, die Integrität der eigenen Person zu schützen und zwischen persönlichen und schulisch-­öffentlichen Themen zu unterscheiden. In diesem Aushandlungsprozess findet auch soziales Lernen statt, denn die SchülerInnen zeigen, dass sie soziale Regeln und Verhaltensweisen erlernt haben, mit denen das Zusammen­leben im Nahbereich der Klasse gelingen kann (vgl. Richter 2002, S.163). Sie kommunizieren kooperativ und greifen auf jene Regeln zurück, die ein friedliches Miteinander in der Schule garantieren. Sie machen sichtbar, dass sie wissen, woran für Erwachsene soziale Interaktionen zu erkennen sind.

Und dennoch: Erkennbar wird eben auch, dass die SchülerInnen gelernt haben zwischen den schulisch ge­wünschten Interaktionsmustern und den peerkulturell-alltagspraktischen zu unterscheiden. Auch dieser Lernprozess gehört offensichtlich zu den notwendigen Erfahrungen, um im schulischen Alltag angemessen handeln zu können. Moralisches Lernen ist damit deutlich vielschichtiger und komplizierter als geplant. Die SchülerInnen müssen nicht nur lernen, schulische Regeln begründet anzuwenden, Affekte zu regulieren, Empathie und Per­spektivenübernahme zu zeigen. Sie müssen gleichsam die verschiedenen Handlungszusammenhänge mitreflek­tieren und ihr Handeln in Abhängigkeit vom jeweiligen Kontext oder der jeweiligen Situationsrahmung beden­ken. In diesem komplexen Prozess bildet sich offensichtlich auch im schulischen Setting eine eigene „Kinderkul­tur“ (Scholz 1996, S. 60) heraus. Hier treffen Kinder auf andere Kinder, mit denen sie ernsthafte Erfahrungen machen können, mit denen sie gemeinsame Erlebnisse verbinden und mit denen sie an ihrem reellen Schulleben teilnehmen können (vgl. Beck zitiert nach Scholz 2003, S. 60).

Deutlich wird auf diese Weise, dass sich Lernprozesse eben nicht nur dort ereignen, wo sie erwartet werden, sondern auch auf einem Nebenschauplatz. Die beobachteten Praktiken der SchülerInnen haben damit auf die Grenzen des Verfahrens und zugleich auf bislang wenig beachtete Handlungsmöglichkeiten verwiesen.

Für die in der Schulpraxis Tätigen stellt die Betrachtung von Lernprozessen im Spannungsfeld von schuli­scher Ordnung und Gleichaltrigenkultur eine Herausforderung und eine Chance zugleich dar. Die Herausforde­rung liegt sicherlich darin, von den eigenen Handlungserwartungen Abstand nehmen zu lernen und den Blick dafür zu öffnen, dass die Eigendynamik schulisch öffentlicher Gespräche zu anderen Lernprozessen führen kann als intendiert. Dies bedeutet, akzeptieren zu können, dass SchülerInnen gebotene Handlungsspielräume gegebe­nenfalls anders nutzen als geplant. Die Chance liegt darin, die SchülerInnen als Personen zu achten, die mitein­ander und voneinander lernen und gemeinsam Mittel und Wege finden, komplexere Fragestellungen zu beant­worten. Diese Haltung führt langfristig zu einer Handlungsentlastung der Lehrenden einerseits und andererseits möglicherweise zu einem verstärkten Interesse der SchülerInnen daran, im Unterricht an Entscheidungen, die sie betreffen, zu partizipieren.

In diesem Kontext machen die SchülerInnenhandlungen im vorliegenden Beispiel darauf aufmerksam, dass der Klassenrat als öffentliches Ritual für die Klärung interindividueller Konflikte nicht geeignet ist. Das schu­lisch gewünschte Handlungsmuster der öffentlichen Konfliktklärung wird deutlich von dem Interesse der Schü­lerInnen, ein konsistentes Image darzustellen, bestimmt. Gleichzeitig machen die Gesprächshandlungen der SchülerInnen darauf aufmerksam, dass sie in der Lage sind, ohne Interventionen der Lehrerin miteinander zu kommunizieren und dabei auf die in der Klasse etablierten Gesprächsregeln zurückgreifen zu können. Dies lenkt den Fokus auf den Inhalt der Gespräche und lässt vermuten, dass bei schulischen Themen, die für die Klasse als Gemeinschaft von Relevanz sind, ohne dass Einzelne in Gefahr geraten, vorgeführt oder beschämt zu werden, der öffentliche Klassenratsrahmen durchaus produktiv genutzt werden kann. Damit ist der Klassenrat geeignet, Schülern und Schülerinnen im schulischen Setting Raum und Zeit für die Erfahrung des diskursiven Aushan­delns von Fragen zu geben, die die Klasse als Gemeinschaft berühren.

Fußnoten:

1) Die Studie fand im Rahmen einer teilnehmenden Beobachtung einer Regelschulklasse vom ersten bis zum vierten Schuljahr statt. Im Sinne einer ethnografisch orientierten Feldforschung wurde die teilnehmende Beobachtung nicht nur auf Klassenratssitzungen beschränkt, sondern auf Projekttage, Klassenunterricht und pädagogische Tage ausgeweitet, um ein möglichst facettenreiches Bild von der Kultur des Feldes zu erhalten. Das Datenmaterial besteht aus 18 videographierten und analysierten Klassenratsstunden, 62 Klassenratsprotokollen aus vier Schul­jahren, Protokollen teilnehmender Beobachtung sowie einem Interview mit der Klassenlehrerin zum Klassenrat und einer anonymen, das vierte Schuljahr abschließenden, schriftlichen Befragung der Schülerinnen. Im Mittelpunkt der empirischen Analyse stehen neun ausgewähl­te videographierte Klassenratsszenen, die in Anlehnung an die ethnomethodologische Konversationsanalyse bearbeitet wurden. Die übrigen Daten fließen als ethnografisches Kontextwissen in die Analyse ein.

2) Dies zog die Konsequenz nach sich, dass der Klassenrat vor allem zum Gremium für die Aushandlung interindividueller Konflikte wurde.

3) (..) 2 Sek. Pause, (4) 4 Sek. Pause, pp sehr leise, f laut, ff sehr laut, < Überlappung der Äußerungen, gar nicht betont, da Wortabbruch.

4) Kelle und Breidenstein (2001, S. 325) arbeiten in ihrer Untersuchung die „doppelte Adressierung“ von Schüleräußerungen heraus, indem sie den Gehalt einer Aussage im Hinblick auf den Hinweis für die MitschülerInnen als Publikum und als Hinweis zur Distanzierung von der Lehrperson aufzeigen.

5) Bruner verbindet mit dem Begriff „Format“ die Vorstellung von Lernen als schrittweise zunehmende Handlungsautonomie im Rahmen standardisierter Interaktionsmuster (vgl. Bruner 1983, S. 120). Autonomiezuwachs dokumentiert sich hier in der Rollenverschiebung der beteiligten Personen innerhalb stabiler Interaktionsstrukturen.

6) Die Analyse weiterer Szenen zeigte, dass es wiederholt zu kollektiven Argumentationen kam, die weit über die bloße Zusammenfassung individueller Argumente hinausgingen und sich erst in der Dynamik des Interaktionsprozesses entfaltet hatten (vgl. de Boer 2006)

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