Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Demokratie, so hat es Adorno einst formuliert, sei schlechterdings nur als eine Gesellschaft von Mündigen vorstellbar.[1] So muss sich eine Erziehung zur Demokratie in besonderem Maße auf die klassische pädagogische Denk­form besinnen, nach der Erziehung von Beginn an auf die Mündigkeit des Edukanden gerichtet ist. Eine Erziehung zur Mündigkeit als der Anleitung zum unangeleiteten Denken erscheint an sich schon paradox. Sie kann nicht am Gängelband erfolgen, vielmehr muss der Erzieher den Heranwachsenden kontrafaktisch als einen mündigen Menschen behandeln, zu dem er sich durch sein erzieherisches Einwirken zugleich doch erst entwickeln soll. Poli­tische Mündigkeit als die Fähigkeit in einen politischen Diskurs unter poten­tiell Freien und Gleichen einzutreten, setzt die Fähigkeit und Bereitschaft voraus, sich auch gegenüber einer bestehenden Ordnung mündig zu setzen, und diese selbst zum Gegenstand der Reflexion zu machen, d.h. aufgrund eines rationalen Urteils einer Kritik zu unterziehen. In der Schule aber hat der Lehrer eben jene Ordnung als gut und gerecht zu legitimieren. So richtet sich an den „mündigen“ Schüler die Erwartung der freiwilligen Erfüllung des strukturell Vorgesehenen. Er macht sowohl die Erfahrung, mitbestimmen zu dürfen, als auch jene, sich zu den gegebenen Verhältnissen nur adaptiv und gerade nicht eigensinnig verhalten zu können.

(…)

Zur Beantwortung der oben formulierten Fragestellung wurden je 12 Schüle­rinnen und Schülern zweier kontrastiver Sekundärschulen beide Szenarien vorgelegt. Es handelt sich einerseits um eine integrierte Gesamtschule, zu de­ren Selbstverständnis als Reform- und anerkannte Modellschule auch und in besonderem Maße die Verwirklichung einer demokratischen Alltagskultur gehört und andererseits um eine kooperative Gesamtschule ohne ausgewiese­nes reformpädagogisches Profil, die als staatliche Regelschule eine gewisse „schulische Normalität“ erwarten lässt. In kurzen Leitfadeninterviews sind die Probanden aufgefordert, die ihnen vorgestellte Situation aus verschiede­nen Perspektiven zu beurteilen (etwa: Wie hat sich der Lehrer in der Situation verhalten? Wie hätte er sich anders verhalten können?), sich selbst in die Si­tuation hineinzuversetzen (etwa: Wie würdest du dich verhalten?) und zuletzt die Idee einer besseren Praxis jenseits der herrschenden Bedingungen mitzu­teilen (etwa: Würdest du die Situation gerne verändern?). Es geht hierbei um die Frage, ob die Heranwachsenden den Widerspruch als solchen überhaupt wahrnehmen, ob sie ihn praktisch bearbeiten oder als einen immanent nicht auflösbaren Widerspruch reflektieren.

An den Reaktionen auf den ersten Konflikt lässt sich beobachten, wie es den Heranwachsenden gelingt, die der pädagogischen Norm entgegenstehen­de funktionale Erwartung in ihre moralischen Urteile zu integrieren.

(1) Die regelkonformen Reaktionen

Einige Probanden verspüren zwar ein Unbehagen gegenüber der herrschen­den Praxis, doch nehmen sie den Widerspruch nicht als solchen wahr. Ihre Reaktion liegt gleichsam noch vor einer Widerspruchserfahrung. Zwar zeigen sie sich enttäuscht, dass sie zunächst nach ihren Wünschen gefragt werden, diese dann aber nicht zur Umsetzung kommen. Doch wissen sie zugleich, dass ihre Vorschläge die Erwartung des Lehrers nicht erfüllen. Um den dar­aus resultierenden Konflikt zu vermeiden, schlagen einige von ihnen vor, der Lehrer möge den Schülern im Voraus seine Vorstellung einer sinnvollen Wandertagsgestaltung mitteilen. So könnten die Schüler entscheiden, was der Lehrer sich so vorstellt. Doch der Lehrer des Szenarios unterlässt, was die Probanden sich von ihm erhoffen. Denn er erwartet, dass die Schüler wissen, was von ihnen verlangt wird, ohne dass er es ihnen immer und immer wieder sagen müsste. Zur Vermeidung dieser Redundanz üben sich andere in funk­tionaler Mündigkeit. „Eigentlich“ – so formuliert es einer der Probanden – „hätte den Schülern klar sein müssen, dass man am Wandertag nicht auf ein Popkonzert gehen kann. So hätten sie die Sache etwas ernsthaft angehen können und überlegen, wo man hinwandern könnte.“ Wir sprechen hier von regelkonformen Reaktionen.

(2) Die operativen Reaktionen

Von diesen Reaktionen lässt sich eine zweite Reaktionsform unterscheiden: die operativen Reaktionen. Diese Probanden wissen ebenso um die Erwar­tung des Lehrers an die funktionale Mündigkeit der Schüler. So vermutet Tanja, der Lehrer habe wohl „darauf gewartet, dass ein Vorschlag kommt, so was wie, was er wollte oder.. was er geplant hatte“. Doch was die Probanden mit regelkonformer Reaktion noch als praktikable Möglichkeit der Konflikt­vermeidung vorschlugen, erscheint ihnen als falsche Praxis. Denn – so for­muliert es Marian – „wenn der Lehrer nicht an den Vorschlägen oder an den Wünschen der Schüler vorbeiplanen will, dann muss er eben damit rechnen [- nämlich mit dem Eigensinn der Schüler, C.L.] und wenn er […] seine Vor­schläge eben durchsetzen will, dann darf er halt nicht… diese extreme Frei­heit geben.“Sie erkennen also einen Widerspruch zwischen Norm und Funk­tion, den sie nicht einfach hinnehmen, sondern zu dem sie sich bewusst ver­halten wollen. Doch auf paradoxe Weise scheint die Erfahrung des Wider­spruchs sie dazu zu veranlassen, diesen zu heilen, das Disparate miteinander zu vereinen. Systematisch suchen sie nach Möglichkeiten, sowohl den nor­mativen Erwartungen als auch den funktionalen Erfordernissen gerecht zu werden. So gelingt es ihnen, den Widerspruch aufzulösen, dies aber freilich nur subjektiv. Dass er objektiv dennoch bestehen bleibt, kommt ihnen dage­gen nicht zu Bewusstsein. Sie suchen und finden Strategien, mit denen ihnen das eigene widersprüchliche Handeln nicht mehr als widersprüchlich erschei­nen muss. So steigt etwa Marian fallweise aus den widersprüchlichen Struk­turen aus, indem er erklärt, der Lehrer könne durchaus seiner Ankündigung folgen und die Schülervorschläge gelten lassen, nämlich dann, wenn diese zuvor viel gemacht und viel gelernt hätten: wenn sie brave Schüler waren. Dabei konstruiert er Mündigkeit als möglichen Ausnahmefall, der sich als Gratifikation für affirmatives Verhalten im Regelfall legitimieren ließe.

(3) Die reflexiven Reaktionen

Manche Probanden aber erkennen im Durchdenken der möglichen Hand­lungsalternativen, dass jeder immanente Lösungsversuch letztlich unbefriedi­gend bleiben muss. Denn durch die Einsicht in die immanente Unauflösbar­keit des Widerspruchs wird ihnen bewusst, dass jeder Versuch einer prakti­schen Bearbeitung des Konflikts letztlich gegenüber der Norm defizitär blei­ben muss. Doch die Reflexion des Widerspruchs entbindet sie freilich nicht vom praktischen Zwang, sich unter den gegebenen Verhältnissen zum Kon­flikt verhalten zu müssen. Manche Probanden führt das zur resignativen Ein­sicht, sich gegen besseres Wissen den pragmatischen Handlungsanforderun­gen anpassen zu müssen. Im Wissen darum sehen sie keine Alternative, als die widersprüchliche Praxis so hinzunehmen, wie sie ist. Andere Probanden dagegen sind nicht bereit, sich einer falschen Praxis widerstandslos unter­zuordnen. Sie üben Kritik am strukturell Widersprüchlichen, begehren auf gegen eine Praxis, die das normativ Verlangte systematisch unterbietet und wissen zugleich, dass sie unter den gegebenen Umständen keine Lösung werden herbeiführen können. Auch Nicolas benennt deutlich den Wider­spruch, indem er die „leere Versprechung“ des Lehrers paraphrasiert: „also jetzt könnt ihr auch mal was sagen aber wenn ihr (lacht) dann nicht das Richtige sagt, dann entscheide ich doch selber, also … komische Sache, aber eigentlich ist es ein guter Ansatz /hmhm/ vom Lehrer. Wenn er ’s denn durch­zieht. … Also wenn er die Schüler auch wirklich komplett selbst entscheiden lässt. Passiert nicht. Schön ist es natürlich, aber …er ist der Lehrer.“

In der Sprache der Theorie nennen wir diese die reflexiven Reaktionen.

Nun interessiert die Frage, welche Bedeutung der je individuellen Widerspruchserfahrung dem politischen Lernen beigemessen werden kann, wie sich diese also in der Bearbeitung des politischen Konflikts niederschlägt. Dabei geht es nicht allein um eine Wirkung von Schule, sondern um eine Folge der je individuellen Erfahrung und Verarbeitung eines gesamtgesellschaftlichen Widerspruchs, der in der schulischen Sozialisation für heranwachsende Men­schen besonders deutlich zutage tritt. Entgegen der Erwartung, dass es den Schülern im zweiten Szenario aufgrund seiner Konstruktion ungleich leichter fallen sollte, ihre Rechte emphatisch einzuklagen, d.h. unter Rückgriff auf die Vereinbarung, ihre AG auch gegen den Willen der Lehrer durchzuführen, er­gibt die komparative Analyse der Interviews den Befund, dass sich eine sol­che Position nur unter jenen Probanden findet, die den Widerspruch als einen immanent nicht auflösbaren reflektieren.

Wie die Widerspruchserfahrung in der Bearbeitung des politischen Kon­flikts virulent wird, lässt sich beispielhaft am Interview mit Tanja beobach­ten. Aufgrund der regelhaften Erfahrung, dass die Schüler zur Beteiligung aufgefordert werden, obwohl die Sache bereits ex ante entschieden ist, geht Tanja im politischen Konflikt wie selbstverständlich davon aus: „wenn die einfach so sagen, ihr dürft entscheiden, dann ist das ja nicht so, also dass die das so ernst gemeint haben“.

Mündigkeit stellt sich für sie nicht als ein zu erkämpfendes und Kraft der rationalen Urteilsfähigkeit in Anspruch zu nehmendes, sondern als ein im Einzelfall von einer Autorität zu gewährendes Gut dar. Würden die Lehrer al­so ernst machen, dann müssten sie in der Logik der Schülerargumentation al­les erlauben, was die Schüler entscheiden. Die Verweigerung dieser Erlaub­nis aber bringt diese in eine ohnmächtige Lage. Aus ihrer Arbeit in der Schü­lervertretung kennt sie Situationen, „wo wir überlegt haben .. und dann be­schlossen haben, da haben wir‘ s doch dann noch mal überlegt, wenn ’n Leh­rer irgendwas gesagt hat, ja dann nehmen wir‘ s doch lieber zurück oder so“.

Zugleich wird ihr Unbehagen spürbar, mit der bedingungslosen Unter­ordnung die Norm der Mündigkeit eklatant zu unterbieten. So würde sie zu­nächst versuchen, die Lehrer von der guten Sache zu überzeugen und

P[roband]: Wenn die das nicht einsehen, würd ich ’n Kompromiss finden, der wahrscheinlich lauten würde, wir lassen die Islam-AG, also wir hörn auf mit der.

I[nterviewer]: Und?

P: Und, äh, machen dafür so weiter wie vorher.

Kurzerhand würde sie so die eigene Kapitulation als individuellen Verhand­lungserfolg verbuchen.

Dass eine Rechtsnorm unbrauchbar ist, wenn sie im Anwendungsfall wirkungslos bleibt, kommt aber erst jenen Probanden zu Bewusstsein, die schon im ersten Szenario den Widerspruch zwischen Mündigkeitsnorm und Legitimationsfunktion als einen immanent nicht aufzulösenden reflektiert ha­ben. Dennis etwa konstatiert, gäbe man die AG auf, dann bringe „die ganze Abstimmung absolut gar nichts und .. dann ist das andere vorher einfach nur gebilligt, weil es vielleicht einfach nicht als Gefahr gesehen wird von der Schulleitung.“

Schließlich habe man weitaus mehr zu verlieren als nur die AG. So müs­se man das Recht anwenden und sich durchsetzen.

Für eine demokratisch sich verstehende Gesellschaft muss der Befund be­unruhigend sein, dass bei einer deutlichen Mehrheit der befragten Schüler die Erfahrung der Beteiligung als nicht eingelöstes Versprechen einhergeht mit der Überzeugung, dass selbst klare Vereinbarungen, die einen rechtlichen Rahmen darstellen, die faktischen Machtverhältnisse nicht auflösen können. Das wird aber nicht als problematisch, sondern als selbstverständlich erlebt. Das Gesetz stellt für diese Probanden keine Gegenmacht dar, vielmehr ist es gegen die Macht wirkungslos. Die Mächtigen, so scheint es, können mit dem Gesetz nicht in Konflikt geraten, wohl aber das Gesetz mit der Macht. So würden sie Geset­ze erlassen, die sich an die Machtverhältnisse anschmiegen und damit schlicht überflüssig wären. Obwohl sie ihre Rechte kennen, haben sie keinen Zweifel, dass sie nicht zu ihrem Recht kommen werden. Doch erleben sie sich nicht ver­zweifelt in einer ohnmächtigen Lage, sondern passen sich realitätstüchtig den Gegebenheiten an. Augenscheinlich leben sie recht zufrieden in einer Demokratie, die keine ist, solange sie vorgibt, eine zu sein, denn keiner von ihnen schlägt vor, den Lehrern offiziell die Leitung für das Schülercafé zu übergeben.

Während sich im Hinblick auf die Verteilung der Reaktionsformen sowie den Zusammenhang zwischen Widerspruchsreflexion und der kämpferischen Verteidigung demokratischer Rechte zunächst keine auffälligen Differenzen zwischen den Schulen ergeben, führen die komparativen Analysen dennoch zu einem überraschenden Befund, der einen Einfluss des Settings doch zu­mindest nahelegt. Mit der reformpädagogisch motivierten Praxis des Demokratie-Lernens verbindet sich die Hoffnung, eine gewisse Sensibilität für die Wirksamkeit demokratischer Strukturen zu entwickeln, demokratische Hand­lungskompetenz mit der Bereitschaft zu koppeln, auf die Lebenswirklichkeit Einfluss zu nehmen. Die Interviews geben einen deutlichen Hinweis, dass die pädagogischen Bemühungen Wirkung zeigen. Während sieben von zwölf Probanden der Reformschule die Möglichkeit der Schüler, bei der Planung des Wandertages mitzuwirken, explizit benennen und positiv bewerten, ist dies bei nur einem Schüler der Vergleichsschule der Fall. Zu erwarten wäre, dass das emphatisch vorgetragene demokratische Bekenntnis zur ebenso emphatischen Anklage führt, dass der demokratische Anspruch in der schuli­schen Praxis nicht eingelöst wird. Das Gegenteil aber scheint der Fall zu sein. Während alle anderen Probanden schon im ersten Statement das Konflikthaf­te der Situation benennen,[2] bleibt dies in jenen Fällen gleichsam ausgeblen­det.[3] Die intendierte Erziehung zu Mündigkeit und Demokratie in der Re­formschule schlägt sich offenbar in den Interviews derart nieder, dass die Schüler gleichsam reflexartig auf ein demokratisches Setting reagieren, in­dem sie zunächst nicht eine Bewertung des Mündigkeitskonflikts, sondern der vom Lehrer angekündigten Möglichkeit zur inhaltlichen Beteiligung vor­nehmen. Es bleibt ein inhaltlicher Dissens, den sie selbstverständlich demo­kratisch zu lösen versuchen. Die demokratischen Verfahren aber führen nicht zur demokratischen Konfliktlösung, sondern legitimieren lediglich die Unter­ordnung der Schülerinteressen unter die funktionalen Ansprüche der Institu­tion. Wie selbstverständlich bedeutet für sie Mitbestimmung, mitdiskutieren, aber nicht mitentscheiden zu können. Was alle anderen als Unrecht wahr­nehmen, dem sie sich ohnmächtig ausgeliefert fühlen, scheinen diese Schüler als normative Erwartung an eine gute demokratische Praxis internalisiert zu haben. So wird eine Beteiligungspraxis, die aufgrund ihrer Wirkungslosigkeit den übrigen Probanden als defizitär erscheinen muss, zu einem Wert an sich. Ein Befund, der m.E. im Hinblick auf die Debatte um ein alltägliches Demo­kratie-Lernen durch verstärkte Partizipationserfahrungen nachdenklich stim­men sollte. Am Beispiel von Caroline lässt sich nachvollziehen, wie die Er­wartung sich entwickelt, dass die den Schülern zugestandene Freiheit, selbst zu entscheiden, nicht mit der Verantwortung verbunden ist, (sich) wirklich entscheiden zu müssen.

Caroline, 15 Jahre, Schülerin der Reformschule:

„Ja, also ich find’s auf jeden Fall schön, dass ähm . dass das den Schülern so freigestellt wird, was gemacht wird /‘.. ähm . ja . also find ich auch gut, dass man sich selber drüber Gedanken machen soll und .. das passt nämlich auch so wie zum Klassenrat, dass man dann halt auch so in der Gruppe ent­scheidet, was für Ideen man dann zur näheren Wahl ähm . weitergibt und so…“

Die Formulierung, es werde den Schülern freigestellt, was am Wandertag „ge­macht wird“, suggeriert, die Schüler könnten tatsächlich frei über den Wander­tag bestimmen. Was die Schüler entscheiden, wird gemacht. Dass der Lehrer dieser Erwartung zuwiderhandelt, indem er doch den eigenen Vorschlag durch­zusetzen versucht, daran sollte sich der Protest der Probanden entzünden. Für Caroline aber scheint kein Anlass zum Protest gegeben zu sein. Warum das so ist, zeigt sich in ihren weiteren Ausführungen. Sie findet es „schön“, dass den Schülern das „so“ freigestellt wird, so nämlich, wie ihr das Verfahren aus der Praxis des Klassenrates vertraut ist. Das erklärt auch ihr ästhetisches anstelle eines normativen Urteils. Schön findet sie, dass auch andere Schüler die ge­meinsamen Angelegenheiten so demokratisch regeln, wie sie das im Klassenrat zu tun pflegen. Ziel dieser Form der Mitbestimmung ist es, „sich selber drüber Gedanken [zu] machen“. Die Gruppe aber fällt ihre Entscheidung nicht da­rüber, „was gemacht wird“, sondern welche Vorschläge sie „zur näheren Wahl“ weitergeben wollen. Ob sich nach ihrer Erfahrung daran ein mehrheits­demokratisches Abstimmungsverfahren anschließt oder ob die Vorschläge zur näheren Wahl dem Lehrer übergeben werden, lässt sie offen. Entscheidend ist die Klärung dieser Alternative nicht. Denn wenig später mutmaßt Caroline überraschend, es habe sich bei dem Lehrer im Szenario womöglich um einen neuen und damit noch unerfahrenen Lehrer gehandelt, der den ungewöhnlichen Entschluss gefasst habe: „ja .. ich probier mal was, also ich schau jetzt mal, was die Klasse dazu sagt“. Die Freiheit der Schüler, über den Wandertag zu entscheiden, die sie gerade noch als Äquivalent zur vertrauten Praxis des Klas­senrates erkannt hat, erscheint nun als naives Experiment eines unerfahrenen Lehrers. Diese Paradoxie lässt sich im Kontext des Interviews aufklären. Die Probandin äußert ihre Vermutung auf den Hinweis des Interviewers, der Lehrer habe an den Schülern nicht vorbeiplanen wollen und daher nach deren Wün­schen gefragt. Der Hinweis des Interviewers seinerseits wurde notwendig, weil Caroline zuvor erklärte, „dass ja ein Wandertag .. nicht unbedingt so was für ne Popgruppe ist oder so, sondern heißt ja Wandertag, ich mein .. spazieren gehen oder so“. Auch wenn die Schüler das „vielleicht als Zeitverschwendung“ sähen und lieber ins Schwimmbad gingen, sei das dann ja kein Wandertag mehr, denn ihr sei klar, dass am Wandertag gewandert werde.

Schön findet sie, dass die Schüler das vertraute Verfahren anwenden, sich Gedanken machen, Vorschläge formulieren und über diese womöglich zuletzt abstimmen. Was aber wird dort eigentlich verhandelt? Um die Wün­sche der Schüler kann es nicht gehen. Verhandelbar sind nur die Vorschläge, die ins Programm passen und nur so passt die freie Entscheidung der Schüler zum Klassenrat. Unter diesen Bedingungen die Schüler explizit nach ihren Wünschen zu fragen, ist schlechterdings naiv und ließe sich nur so erklären, dass der Lehrer sich „das vielleicht anders vorgestellt“ hat. Vermutlich habe er erst zu spät bemerkt, „dass die [Schüler] eher auf, ähm, auf dem Weg Freizeit gehen als auf dem Weg Gemeinschaft und Fortbildung“. Problema­tisch ist nun, „wie der Lehrer das wieder grade macht“, die Schüler wieder auf den Pfad der Tugend zurückführt. Objektiv besehen erscheint der Klas­senrat in Carolines Schilderung als eine Übung in funktionaler Mündigkeit, doch als institutionalisiertes Gremium schulischer Mitbestimmung ist für sie diese mit jener identisch. So bietet die freie Entscheidung als die freiwillige für das Vorgesehene für Caroline keinen Anlass zu Protest. Der Verfahrens­fehler des Lehrers liegt für sie darin, dass dieser nach den Wünschen der Schüler fragt, obwohl diese gar nicht gefragt sind. So bringt er sich in die missliche Lage, die Schüler enttäuschen zu müssen, indem er ihnen gesteht, einen falschen Eindruck erweckt zu haben.

In der Reaktion auf den politischen Konflikt findet sie zunächst wieder „total super, dass die Kinder allein entscheiden dürfen“, doch ist die Entschei­dungsfreiheit der Schüler diesmal nicht auf Vorschläge für einen Wandertag beschränkt, sondern erstreckt sich auf alle Angelegenheiten, die den Betrieb des Cafés betreffen und so bemerkt sie einschränkend, es sei dochsehr viel, was sie entscheiden dürfen“. Während einerseits die Erlaubnis allein, also ohne jede Vormundschaft entscheiden zu dürfen, auf ihre volle Zustimmung trifft, hält sie andererseits die Entscheidungsbefugnisse der Schüler für zu weitrei­chend. Diese Bewertung liest sich als Plädoyer für eine Einschränkung dieser Befugnisse zur Seite der Gegenstände, auf die das Alleinentscheidungsrecht anzuwenden ist. Das Privileg, allein entscheiden zu dürfen, sieht sie also zu­gleich als Zumutung, womöglich gar als Überforderung der „Kinder“. Denn sie stellt fest, es sei schwer, mit 15 Leuten „so genaue Fragen zu diskutieren“. Für solche Fragen gibt sie Beispiele: „wann’s aufgemacht wird oder was es da ge­ben soll und so“. Diese „genauen Fragen“, die „schwer“ zu diskutieren sind, entpuppen sich als organisatorische Entscheidungen (Öffnungszeiten und Sor­timent), die gemessen am zentralen Konflikt um die Islam-AG geradezu mar­ginal wirken. Die Inszenierung solcher Alltagsentscheidungen als diffizile De­tailfragen, die schwer zu diskutieren sind, stellt zugleich den Islam-Konflikt als jene Überforderung dar, die die Freiheit, allein entscheiden zu dürfen, als übermäßige Zumutung erscheinen lässt. Schwierig sind solche Entscheidungen für sie deshalb, „[w]eil immer welche sind, die was anderes sagen oder noch mehr dazu sagen und irgendwann ist ja auch ein Limit erreicht“, denn „man kann ja nicht alles verkaufen, nur weil der das will, der das und die andern […] auch noch was anderes“. Neben der Vielzahl der Gegenstände, über die zu befinden ist, wird nun auch die inhaltliche Freiheit, dies zu tun, virulent. Während sie den Weg zum wahren Wandertag kennt und nur noch beschreiten muss, lässt sich eine heteronome Erwartung an die Gestaltung eines Schülercafés, an der man sich orientieren könnte, nicht ausmachen. Ihre Überforderung liegt offenbar in der Vorstellung einer grenzenlosen Freiheit begründet, die doch irgendwo eine Grenze finden muss, denn man kann nicht alles verkaufen, doch alles wäre möglich. Hinzu kommt ein methodisches Problem, denn sie findet es grundsätzlich schwierig, Detailfragen in einer Gruppe zu diskutieren. Schwierig ist also die Einigung, die letztlich eine gemeinsame Entscheidung begründet. Eine solche wird mit zunehmender Zahl der Beteiligten schwieriger („[…] es sind nur 15 Leute? […] aber.. trotzdem auch bei 15 Leuten, ich den­ke es ist schwer“). In ihrer Beschreibung des problematischen Entscheidungsprozesses aber ist auf paradoxe Weise eine Entscheidung letztlich gar nicht vorgesehen. Eine Vielzahl von beteiligten Individuen bedingt eine Vielzahl verschiedener Vorschläge, die nicht die Grundlage einer Entscheidung bilden, sondern alle in vollem Umfang umgesetzt werden sollen. Da stößt man natur­gemäß rasch an Grenzen. Schwer ist also nicht „was sie entscheiden dürfen“, sondern dass sie (sich) überhaupt entscheiden müssen. Durch diese paradoxe Konstruktion erzeugt die Probandin die Illusion schwerer Entscheidungen, die die Schüler „schon am Anfang“ zu treffen haben. Umso mehr verdient es Anerkennung, dass sie dieser Aufgabe trotz ihres hohen Schwierigkeitsgrades gewachsen sind {„Doch! Wie’s aussieht können sie das [sich einigen, C.L.] […] aber trotzdem ist es, denk ich, zum Teil sehr .. schwer auch.“). Und sie fährt fort: „Ja, also .. ansonsten find‘ ich’s ne schöne Idee.“ Abgesehen von der Tatsache, dass die Schüler tatsächlich gezwungen sind, Entscheidungen zu treffen, sich also wirklich zu entscheiden, findet sie es eine schöne Idee, die Kinder einmal entscheiden zu lassen. Ihre Bewertung der Situation gipfelt also in der Paradoxie, es für eine schöne Idee zu halten, ein Schülercafé einzurich­ten, in dem die Schüler allein entscheiden dürfen, mit Ausnahme der Tatsache, dass dieses Privileg ihnen die Last der Entscheidung auferlegt.

Doch auch bei den Reformschülern mit reflexiven Reaktionen auf den politischen Konflikt lässt sich eine auffällige Differenz beobachten. Die Schüler der Regelschule benennen alle den Rechtsbruch der Lehrer, würden ausnahmslos auf dem ihnen zugestandenen Recht beharren und sind mehr­heitlich der Überzeugung, sich durch die Anwendung des Rechts auch gegen den Willen der Lehrer durchsetzen zu können, insbesondere weil kein sachli­ches Argument im Sinne eines Arguments gegen die Sache erkennbar ist. Die Reaktionen der Reformschüler setzen sich wiederum kontrastiv von diesem dominanten Muster ab: Sie verbleiben im demokratischen Pessimismus. Ohnmächtig würden sie den als skandalös empfundenen Akt geschehen las­sen und anschließend gegen das erlittene Unrecht protestieren.

Eine so verstandene Demokratieerziehung, so scheint es, erreicht das Gegenteil von dem, was sie erreichen will, denn sie erzeugt nicht streitbare Demokraten, sondern Schüler, die in zweifacher Hinsicht nicht mehr für die Demokratie streiten, weil die einen die vielerorts diagnostizierte Scheinparti­zipation aufgrund ihrer alltäglichen Erfahrungen wie selbstverständlich als die normativ geforderte demokratische Lebensform akzeptiert haben und die anderen aufgrund ihrer Reflexion, dass augenscheinlich allgemein für demo­kratisch gehalten wird, was so offensichtlich nicht demokratisch ist, an die Durchsetzung der Norm nicht mehr glauben wollen und entweder strategisch oder ohnmächtig sich unterordnen oder allenfalls nicht weniger ohnmächtig gegen das erlittene Unrecht protestieren.

Ohnmächtig ist auch dieser Protest, weil das Handeln der Lehrer nicht wegen des Verstoßes gegen das Selbstbestimmungsrecht der Schüler als Skandal taugt, sondern einzig wegen der irrationalen Weigerung gegen die zweifellos gute Sache. Für jene, die den Widerspruch zwischen Mündigkeits­norm und Legitimationsfunktion als einen immanent nicht aufzulösenden re­flektieren, besteht die Chance, die Schule aufgrund ihrer funktionalen Ver­einnahmung für einen Ort missratener demokratischer Praxis zu halten. Diese Chance impliziert die Möglichkeit, sich jenseits der Institution für eine besse­re einzusetzen. Die in der Reformschule vorherrschende Verbürgung eines idealen Selbstbildes durch eine nur symbolische Praxis aber nötigt die Schü­ler, sich zum Defizitären zu bekennen oder mit der Reflexion dieses Gewalt­verhältnisses zur ohnmächtigen Hinnahme oder zum ohnmächtigen Protest. Somit wäre gegen den inflationären Gebrauch des Demokratiebegriffs und für einen selbstreflexiven Umgang mit dem emphatischen, aber doch syste­misch begrenzten Bemühen um eine demokratische Schulkultur zu plädieren.

Der staatlichen Schule kann freilich nicht die Aufgabe zugesprochen wer­den, Aufklärung über einen Widerspruch zu betreiben, in den sie selbst unlös­bar verstrickt ist. Doch nichts spricht dagegen, die Spielwiese als solche zu be­nennen, sie nicht kontrafaktisch zur erschöpfenden demokratischen Praxis zu erklären, sondern der Forderung einiger Probanden nachzukommen, mit offe­nen Karten zu spielen. Autoritativ gesetzte Normen entziehen sich naturgemäß demokratischer Aushandlung. Dieser letzte Realitätssinn eröffnet erst die Mög­lichkeit einer Demokratisierung als emanzipatorischen Prozess. Nichts spricht aber auch dagegen, den Schülern andererseits Räume konsequent vollzogener mündiger Selbstbestimmung zur Verfügung zu stellen. Im Sinne des Demokra- tie-Lernens wäre geboten, die Planung des Wandertages in die Verantwortung des rationalen und symmetrischen Diskurses zwischen Schülern und Lehrer zu geben, der einen Kompromiss nur zum Ausgleich partikularer Interessen zulässt, aber einen Konsens über die unbedingte Geltung universalistischer de­mokratischer Prinzipien, wie die diskursive Klärung eines für alle relevanten Sachverhaltes und die bindende Wirkung eines auf dieser Grundlage mehr­heitsdemokratisch legitimierten Beschlusses, voraussetzt. Jenseits wie diesseits einer solchen fallweisen Übung in konsequent demokratischer Praxis scheint es auf paradoxe Weise notwendig, dass grundsätzlich die demokratisch ambitionierte Praxis einer fortschrittlichen Schule als eine falsche denkbar bleibt.

Fußnoten:

1) Vgl. Adorno, Theodor W.: Erziehung Wozu? In: Ders: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969, Frankfurt am Main 1972, S. 107.

2) Einige Probanden stellen sofort kritisch fest, dass der Lehrer nicht hält, was er verspricht, andere sehen zunächst nur eine Meinungsverschiedenheit oder das Aufeinandertreffen differenter Interessen, das ihnen problematisch erscheint.

3) Es lässt sich sogar feststellen, dass je stärker die Probanden auf den Mitbestimmungsgedanken reagieren, desto weniger wird der Konflikt zwischen Lehrer und Schülern überhaupt wahrge­nommen. Deutlich wird das daran, dass Jeanette, die zuerst den Konflikt zwischen Schülern und Lehrer erwähnt, bevor sie, sich korrigierend, auf den Mitbestimmungsgedanken zu spre­chen kommt, vergleichsweise am stärksten die vorfindliche Praxis als eine falsche erfährt.

Mit freundlicher Genehmigung von Budrich UniPress
http://www.budrich-journals.de/index.php/pk

Nutzungsbedingungen:
Das vorliegende Dokument ist ausschließlich für den persönlichen, bzw. nicht-kommerziellen Gebrauch bestimmt – es darf nicht für öffentliche und/oder kommerzielle Zwecke außerhalb der Lehre vervielfältigt, bzw. vertrieben oder aufgeführt werden. Kopien dieses Dokuments müssen immer mit allen Urheberrechtshinweisen und Quellenangaben versehen bleiben. Mit der Nutzung des Dokuments werden keine Eigentumsrechte übertragen. Mit der Verwendung dieses Dokuments erkennen Sie die Nutzungsbedingungen an.