Falldarstellung

10 Klassenstufe, 3. Stunde, Wahlpflicht Wirtschaft Gesamtschule in Brandenburg, März 2000

PIPPEL (Corinne) und CARLOS unterhalten sich während einer Gruppenarbeit (Erstellung einer Wandzeitung, Thema: Euro). Über das Thema „Führerschein/Autos“ kommen sie zum Thema „Liebe/Beziehung“. Der Freund von PIPPEL fährt BMW. PIT mischt sich in die Unterhaltung ein:

PIT: Bist Du mit dem BMW schon mal gefahren?

PIPPEL: Nein, mit dem noch nischt.

CARLOS: Sie kennt nur die Rücksitze.

PIPPEL: Quatsch, du Arsch.

PIT: Hast du noch nie gepoppt?

PIPPEL: Du hast ja nicht mal geküsst.

PIT: (mit erregter Stimme): Ich hab schon mal gepoppt.

PIPPEL: Ja mit wem denn? Wie heißt sie denn?

PIT: Kennst du eh nicht, die wohnt in Berlin.

PIPPEL: Sag doch den Namen, vielleicht kenn ich sie doch.

PIT antwortet nicht. PIPPEL wendet sich wieder CARLOS zu.

CARLOS: Hast du echt noch nie?

PIPPEL: (leise) Nein, ich warte noch.

Interpretation

„How to do things with words“ (J.L. Austin)

Die Frage von PIT an PIPPEL: Bist Du mit dem BMW schon mal gefahren? enthält im Kon­text des Themas „PIPPEL/Freund/BMW“ offensichtlich einen kritischen Unterton: Du hast zwar einen Freund, der einen BMW hat; aber selbst gefahren bist Du noch nicht. Dieser kritische Unterton ist angesichts der sozialpsychologischen Spannungen der Situation al­les andere als überraschend. Die Tatsache, dass PIPPEL einen Freund hat, der einen BMW besitzt, ist für PIT wie für alle anderen männlichen Mitschüler auch, latent kränkend. Nicht nur, dass der Freund schon qua Alter eine erhebliche Statusüberlegenheit genießt; offensichtlich verfügt er auch über finanzielle Ressourcen, die ihn nicht nur in die Lage versetzen, sich ein Auto leisten zu können; es handelt sich darüber hinaus um eine pres­tigeträchtige Automarke. Wenn diese Umstände aber Indizien dafür sind, in welcher sozia­len Gruppe PIPPEL sich bei ihrer Partnerwahl orientiert, dann heißt das, dass die Mitschü­ler für eine Partnerschaft von vornherein nicht in Frage kommen. In gewisser Weise er­klärt sich PIPPEL durch ihre Erzählung von ihrem BMW fahrenden Freund nicht nur aktuell, sondern prinzipiell als unerreichbar für PlT. Wenn dieser nun PIPPEL in Verlegenheit brin­gen will, antwortet er auf genau jene Kränkung der Unerreichbarkeit. Die Unterstellung, mit der sein Sprechakt operiert, ist Folgende: Es mag ja sein, dass Dein Freund einen BMW hat, aber selbst gefahren bist Du mit dem Auto noch nicht. Das wäre nun tatsächlich eine ziemlich unbequeme Behauptung, wenn das Autofahren und spezielle das BMW-fahren im Prestigefokus von PIPPEL Erzählung stünden. Würde etwa in einem Gespräch unter männlichen Jugendlichen der eine damit prahlen, dass sein Bru­der einen BMW fährt, dann wäre PlTS kritische Frage treffend: Was hast Du denn davon, dass Dein Bruder einen BMW besitzt, wenn Du selbst nicht damit fahren darfst. Der Pres­tigegewinn (Bruder mit BMW) wäre symbolisch unterhöhlt. Denn der zur Schau getragene Stolz wäre als derjenige des kleinen Bruders, der auf dem Beifahrersitz des BMW des großen Bruders sitzen darf, entlarvt; eine für Sechzehnjährige ausgesprochen peinliche Unterstellung.

Umgekehrt speist sich das potentielle Prestige PIPPELS ja gerade nicht daraus, am Steuer eines BMW zu sitzen, sondern draus, auf dem Beifahrersitz eines männlichen Partners zu sitzen. Darin wird deutlich, dass PIT die Beziehungsdimension und erotische Konnotation des thematischen Zusammenhangs, in dem PIPPELS Erzählung steht, völlig verfehlt. Er antwortet nicht in der Logik gekränkter Männlichkeit (denkbar wäre etwa eine abfällige Bemerkung über PIPPELS Freund), also aus der Perspektive desjenigen, der PIPPEL einen solchen Beifahrersitz nicht zu bieten hat; er antwortet in der Logik gekränk­ter peer group- Solidarität. Er adressiert PIPPEL nicht als potentiell begehrenswerte, ge­gengeschlechtliche Partnerin, sondern als gleichgeschlechtlichen Freund; gleichsam als Kumpel, der etwas zu dick aufgetragen hat und den man deshalb ein bisschen in die Schranken weisen muss.

Interaktionslogisch schlägt er damit den Weg einer Desexualisierung des Gesprächs ein. Auch wenn das Motiv, selbst schon einmal am Steuer eines Autos gesessen zu haben, gerade in der Welt adoleszenter Autonomiebestrebungen in assoziativer Nähe zum eroti­schen Handlungskomplex steht, würde ein auf dieses Motiv gerichtetes Gespräch auf Dis­tanz zu erotischen Themen gehen. PIPPEL könnte nun z.B. erzählen, dass sie zwar noch nie mit einem Auto, aber schon mit Mofas und Mopeds gefahren sei, usw. Sie würde da­mit PlT’S implizitem Vorschlag einer Themenverlagerung folgen. Sie würde damit aber auch darauf verzichten, weiter über ihren Freund und dessen BMW zu sprechen. Sie wür­de diesbezüglich auf Imagepflege, auf „impression management“ (Goffman) verzichten.

Das tut sie nicht: Nein, mit dem noch nischt. Auf der inhaltlichen Ebene nimmt sie durch­aus PlT’S Vorschlag auf. Sie bleibt im thematischen Rahmen der Frage nach dem Auto­fahren, indem sie darlegt, dass sie mit dem BMW ihres Freundes noch nischt gefahren sei. In Kontrast zu einer einfachen Verneinung (nein bzw. nein, noch nicht) wird aber auch die deutliche erotische Anspielung ihrer Antwort sichtbar. Mit dem noch nischt; diese Aussage verweist auf den BMW des Freundes: mit d i e s e m BMW noch nicht. Auf der assertiven Ebene legt sie damit dar, sie sei zwar schon BMW gefahren, aber noch nicht mit dem BMW ihres Freundes. Das ist angesichts der Tatsache, dass sie noch keinen Führerschein besitzt, in sich eine fast absurde Aussage. Würde es ihrer Äußerung aber tatsächlich um die thematische Engführung von Autofahren auf BMW-fahren gehen; wür­de sie also PlT’S Thematisierungsangebot annehmen und spezifizieren, wären diesbezüg­liche Explikationen erwartbar: Mit dem BMW bin ich noch nicht gefahren, aber ich bin schon einmal mit einem andern BMW gefahren. Die Vermeidung dieser Explikation steht im Dienste der erotischen Anspielung: Mit dem noch nischt kann kaum anders verstanden werden als: Mit dem habe ich noch nicht geschlafen.

Das thematische Desexualisierungsangebot von PIT beantwortet PIPPEL mit Resexualisierung. Das Prestige des „going steady“ („fest miteinander gehen“), zumal mit einem Part­ner mit Alters- und Ressourcenvorsprung, will sie sich in der Interaktion nicht nehmen las­sen. Aber statt dieses Prestige mit einer Hervorkehrung und Betonung dieser Beziehung zu realisieren, stellt sie, jedenfalls auf der Ebene des symbolischen Selbstentwurfs, ab auf einen beziehungsindifferenten und insofern beziehungslosen Vorsprung der sexuellen Er­fahrung. Das ist insofern irritierend, als das adoleszente Hauptthema des perspektivisch- lebenspraktischen Übergangs von der Herkunfts- zur Gründungsfamilie auf Sexualität verkürzt und der Beziehungsdimension beraubt wird. Aus dem Ich habe (schon) einen Freund, das auf eine Paarbeziehung und ihre erotischen Komponente verweist, wird ein Ich habe sexuelle Erfahrungen, aber nicht mit dem aktuellen Partner. Damit gerät PIPPEL in ihrem impression management in einen eigentümlichen Verwerfungszusammenhang. Was ihre aktuelle Paarbeziehung anbelangt, praktiziert sie Enthaltsamkeit. Überraschen­derweise erscheint die Paarbeziehung mit dem aktuellen Freund nicht als Ausweis sexu­eller Erfahrung. Im Gegenteil: ausgerechnet aus der Beziehung zu derjenigen Person, mit der sie gerade liiert ist, will sie kein erotisches Selbststilisierungskapital schlagen. Dabei klingt in dem noch nischt die Möglichkeit an, dass eine sexuelle Beziehung zu ihrem aktu­ellen Freund das Ende der Partnerschaft bedeuten könnte. Hinter der offensiven erotischen Selbstdarstellung (Mit meinem Freund nicht; aber vorher mit anderen schon), in der sie als sexuell erfahrene junge Frau gesehen werden will, verbirgt sich ein Motiv der Un­vereinbarkeit von Bindung und Sexualität, das unmittelbar an das Inzesttabu erinnert. So scheint die „gespielte“ Fortschrittlichkeit ihrer psycho-sozialen Entwicklung auf das Ge­genteil zu verweisen: eine ödipale Hemmung, die PIPPEL bei aller Anstrengung eine in ei­ne sozio-emotionale Bindung integrierte Sexualität verunmöglicht. In der Verschleierung dieser Problemlage nimmt sie die Zuschreibung, ein „leichtes Mädchen“ zu sein, in Kauf. In der relativen (noch nicht) Abtrennung von Sexualität und Paarbeziehung erscheint die Freundschaft mit dem BMW-Fahrer in neuem Licht. Für die Mitschüler unerreichbar bleibt die Aussicht, eine Paarbeziehung mit PIPPEL einzugehen. Dazu müsste „man“ älter sein und einen BMW besitzen. Weniger unerreichbar scheint das bloße erotische Abenteuer. Aber in diesem Kontext ist PIPPEL eben kein Beziehungspartner, sondern reines, bezie­hungsindifferentes und beziehungsausschließendes Sexualobjekt.

Mit der Äußerung Sie kennt nur die Rücksitze, führt CARLOS die Interaktion fort. Den Weg der Resexualisierung der Interaktion, den PIPPEL eingeschlagen hat, setzt CARLOS nun fort. Die sexuelle Anspielung erscheint nun unverhohlen: Dass PIPPEL einen Freund hat, der BMW fährt, ist nur aus einem einzigen Grund interessant: das Auto ist nichts weiter als ein den Geschlechtsverkehr ermöglichender Ort.

Die Logik dieses Einwurfs lässt sich an den Platzpositionen im Auto ablesen. PIT hatte mit seiner Frage PIPPEL symbolisch auf dem Fahrerplatz positioniert. In diesem Sinnhorizont eines geschlechtsindifferenten Autonomieentwurfs (Autofahren) hat PIPPEL sich thema­tisch nicht verortet. Sie ist aber auch nicht der Logik der Paarbeziehung gefolgt, indem sie symbolisch den Beifahrersitz für sich reklamiert hätte. CARLOS verweist sie darauf hin auf die Rücksitze. Was die „sexuelle Reputation“ anbelangt, traut er PIPPEL damit mehr zu, als sie selbst ins Feld führt. Sie hatte ja deutlich zu verstehen gegeben, dass sie den Rücksitz des BMW ihres Freundes gerade nicht kennt. Dagegen unterstreicht er den Aspekt der Beziehungslosigkeit. PIPPELS Welt ist die der Rücksitze; eine Welt jenseits der Paarkonstitution (Fahrer- und Beifahrersitz). Die Verächtlichkeit dieser Äußerung zeigt sich auch gerade darin, dass sie sich gegenüber der Frage der aktuellen Beziehung PIPPELS indifferent verhält. Auch an dem neuen Freund und seinem BMW interessieren nur die Rücksitze.

Die Verächtlichkeit setzt sich darin fort, dass die Rücksitze die Assoziation zu Straßen­prostitution ebnen; eine Assoziation, in der PIPPEL nicht nur als Prostituierte erscheint, sondern in der ihr zugleich die potentielle Auratisierung, die mit dieser Zuschreibung ein­her gehen könnte, genommen wird. PIPPEL ist nicht nur eine moralisch fragwürdige Er­scheinung, sie ist auch „billig“.

Aber nicht nur inhaltlich sondern auch interaktionslogisch schreibt CARLOS die Reduktion PIPPELS auf ein Sexualobjekt fort. Die Äußerung ist nämlich an PIT adressiert. Eigentlich spricht CARLOS über eine Frau. Damit unterstreicht er deren Objektcharakter. Das würde im Kontext einer Interaktion unter Männern eine inhaltliche, aber keine pragmatische Her­abwürdigung darstellen. Umgekehrt stellte der an PIPPEL gerichtete Sprechakt, Du kennst nur die Rücksitze, ebenfalls keine Herabwürdigung, sondern einen Vorwurf dar. Erst der Umstand, dass CARLOS in Anwesenheit von PIPPEL zu PIT über sie spricht, macht aus dem Sprechakt eine Entwürdigung. Es wird nicht nur etwas Entwürdigendes gesagt; CARLOS vollzieht die Entwürdigung PIPPELS.

PIPPEL wehrt sich: Quatsch, Du Arsch. In derben Worten weist sie die Herabwürdigung zurück. Sie beschämt CARLOS ihrerseits und zahlt ihm mit gleicher Münze zurück. Den Vorwurf, ein „Flittchen“ zu sein, beantwortet sie mit der Qualifikation CARLOS’ als Arsch. Soweit bewegt sich die Interaktion in den Bahnen eines nicht untypischen verbalen Schlagabtauschs im adoleszenten Milieu. Allerdings verweist das Quatsch darauf, dass die Empörung nur gespielt ist. Die Widerrede, die durch Quatsch eingeleitet wird, impliziert nämlich eine den Protest begleitende, heimliche Zustimmung. Die Abwehr einer eindeutig unzutreffenden Unterstellung würde man kaum mit Quatsch einleiten. Um es an einem drastischen Fall zu plausibilisieren: Würde ein Staatsanwalt im Rahmen einer strafrechtli­chen Gerichtsverhandlung den Beschuldigten mit dem Sprechakt: Sie haben die Tat be­gangen, konfrontieren, würde die Antwort: Quatsch (das stimmt nicht) kaum zur Entlastung taugen. Diese Antwort würde bezüglich eines prinzipiell eindeutig feststellbaren Sachver­halts geradezu als Vermeidung eines nein aufgefasst werden müssen. Wer Quatsch sagt, sagt nicht nein. Umgekehrt ist die Verneinung durch den Sprechakt Quatsch dort anzutref­fen, wo es nicht um die Feststellung, sondern um die Deutung eines Sachverhalts geht. Wenn etwa eine Person auf den Vorwurf, immer geht es nach Dir, mit Quatsch antwortet, dann ist in der Antwort ein Zugeständnis hinsichtlich des Sachverhalts enthalten. Immer­hin konzedierte der Adressat des Vorwurfs, dass es auf den ersten Blick so aussehen könnte, als sei der Vorwurf berechtigt. Würden etwa die Freizeitaktivitäten der letzten Zeit immer entlang der Vorschläge der den Vorwurf aussprechenden Person unternommen worden sein, würde der Vorwurf mit einem überraschten wie kommst Du denn darauf be­antwortet werden.

Im Lichte dieser Interpretation heißt PIPPELS Quatsch also nichts anderes, als dass sie den „sachverhaltlichen“ Implikationen von CARLOS Äußerung (Sie kennt nur die Rücksitze) zu­stimmt. Sie will diesen Sachverhalt nur anders gedeutet wissen. Die Zurückweisung, die sie vornimmt, will die in der Herabwürdigung durch CARLOS enthaltene Promiskuitätsunterstellung nicht verneinen. So entwürdigend und ehrabschneidend seine Äußerung auch sein mag; auf das vermeintliche Prestige der erotischen Versiertheit will PIPPEL in ihrer Selbstdarstellung nicht verzichten. Aber die Unterstellung, dass dies bedeute, ein „leich­tes, billiges Mädchen“ zu sein (statt Du Arsch hätte sie ja auch klar, was meinst Du denn antworten können), will sie auch nicht gelten lassen. Entlang der bisherigen Interpretation ist das auch folgerichtig und verständlich. Danach stünde ihre Sexualität ja nicht im Zei­chen einer sexualmoralischen Enthemmung bezüglich des Monogamiegebots, sondern im Zeichen einer sexuellen Versagung im Sinne des Fortwirkens des Inzestverbots auf die je konkrete, partnerschaftliche Bindung; und nur auf diese. Das Quatsch im Sinne eines das stimmt nicht im Sinne eines es ist alles ganz anders als Du denkst, hätte darin seine sachliche Berechtigung.

Nun meldet PIT sich wieder zu Wort: Hast Du noch nie gepoppt?

Die Gestaltsymmetrie zu seiner ersten Frage ist auffällig: Bist Du mit dem BMW schon mal gefahren? Hier wie da geht es ihm um eine Auskunft über einen Sachverhalt in PIPPELS Leben. Und abermals liegt seine Frage eigentümlich quer zur situativen Relevanz der Interaktion. Oben haben wir schon darauf hingewiesen, dass die Frage, ob PIPPEL schon einmal mit dem BMW gefahren sei, außerhalb des thematischen Fokus des Ge­sprächs liegt. Wir haben dort von einer Desexualisierung der Interaktion durch PIT ge­sprochen. Nun wirft er die Frage auf, ob PIPPEL überhaupt schon einmal Geschlechtsver­kehr gehabt habe. Inhaltlich beruht diese Frage auf einer geradezu naiven Interpretation PIPPELS vorangegangener Äußerung. Dass das Quatsch, Du Arsch nicht etwa ein Aus­druck sexueller Abstinenz, sondern Ausdruck sexueller Versiertheit ist, entgeht ihm völlig. Viel wichtiger als die inhaltliche scheint uns aber die interaktionsdynamische Komponente zu sein. Die Logik des kurzen, sprachlichen Schlagabtauschs zwischen CARLOS und PIPPEL bestand ja nicht darin, sich über Sachverhalte der erotischen Handlungssphäre aus­zutauschen. In der ziemlich derben Frotzelei realisiert sich vielmehr ein Sprachspiel, in dem Fremd- und Selbstdeutungen an erotisierten Semantiken vorgenommen werden. Dieses Sprachspiel entspricht der adoleszenten Problematik der Entwicklung von Selbst­entwürfen und Geschlechtsrollenidentitäten, die nicht mit Modus der (selbst-) reflexiven Erschließung von Erfahrungssachverhalten gewonnen werden, sondern die sich am Aus­tausch von polemischen und prägnanten Ad-hoc-Deutungen vollziehen. Sie kennt nur die Rücksitze ist ja kein Sprechakt, der an der Aufklärung empirischer Sachverhalte orientiert ist. Es ist eine Fremddeutung PIPPELS im Sinne der Zuschreibung eines kondensierten, geschlechtsrollenfokussierten Identitätsentwurfs. Umgekehrt stellt PIPPELS Antwort in nuce einen Gegenentwurf des Selbst dar. Dabei handelt es sich nicht um verbindliche Kon­struktionen des Selbst, sondern um das spielerische Ausloten von Deutungsoptionen und Deutungsalternativen. Gleichzeitig verweist der interaktionspragmatische Sinn dieser Deutungen darauf, dass Erotik nicht nur den propositionalen Bezugspunkt für die Interak­tion liefert, sondern dass die Interaktion selbst eine erotische Funktion erfüllt. Die Frotzelei zwischen CARLOS und PIPPEL basiert auf hypothetischen Selbstentwürfen, die zugleich da­zu dienen, spezifische Geschlechtsrollen in der Interaktion zu realisieren und eine Bear­beitung der Geschlechterspannung in der Interaktion unmittelbar vorzunehmen. CARLOS und PIPPEL nehmen nicht nur spezifisch von ihnen konturierte Geschlechtsrollen ein; in der Artikulation dieser Geschlechtsrollen agieren sie auch im Rahmen einer wechselseiti­gen Bezugnahme.

Von einem Interaktionsspiel dürfen wir deshalb sprechen, weil sich der symbolische Aus­tausch nicht im Modus einer folgenreichen und verbindlichen Interaktion vollzieht. Natür­lich setzt eine Äußerung, wie die von CARLOS, eine gewisse Aggressivität und Enthemmt­heit voraus und stellt eine spezifische Interpretation einer männlichen Geschlechtsrollen­identität dar. Aber wir können sie nicht als Protokoll stabilen, von CARLOS schon einge­nommenen Geschlechtsrollenidentität interpretieren.

Genau diese Logik des kommunikativen Austauschs verlässt PIT abermals; und genau in diesem Sinne setzt sich die Logik der Desexualisierung fort; dieses Mal nicht in thematischer, sondern in interaktionslogischer Hinsicht. An dem erotisch aufgeladenen Sprach­spiel zwischen PIPPEL und CARLOS kann er sich nur scheinbar beteiligen. Seine themati­sche Direktheit stellt zugleich die Transformation der spannungsgeladenen und spannungsbearbeitenden Interaktion unter gegengeschlechtlichen Jugendlichen in eine thema­tisch vielleicht in diesem Sinne interessante, interaktionslogisch aber ent-spannte Frage dar.

PIPPEL beantwortet die Frage nicht. Alleine schon darin zeigt sich, dass sie den interakti­onslogischen Perspektivenwechsel nicht mitmachen will. Sie will keine Auskunft erteilen. Sie bringt nun ihrerseits PIT in Bedrängnis: Du hast ja nicht mal geküsst. Gleich einem Gegenangriff auf dem Feld der erotischen Ehre interpretiert PIPPEL die Frage von PIT als Infragestellung ihres erotischen Status und kontert diese mit einer disqualifikatorischen Behauptung. PIT kann nicht mitreden. Die Wucht dieser Disqualifikation speist sich dar­aus, dass PIPPEL den Kuss als erotisch zentrales Transformationsthema einführt. Natür­lich hat PIT schon oft geküsst und ist noch viel öfter geküsst worden. Aber das waren zärt­liche Küsse, wie sie in der Eltern-Kind-Beziehung ausgetauscht werden oder als Begrüßungs- und Verabschiedungsküsse unter Freunden und Verwandten. Den Schritt zum sinnlichen, penetrierenden Zungenkuss habe PIT, so PIPPEL, aber (noch) nicht vollzogen. Das ist auch insofern peinlich, als dieser aus erotischer Perspektive initiale Schritt prag­matisch so einfach zu vollziehen ist. Es braucht dafür keine Behausung, keinen intimen Handlungsraum (sei es eine Wohnung, seien es die Rücksitze) und es braucht nicht die Überwindung der ängstlichen Scham, den Blicken des anderen nackt und ausgeliefert zu sein. Man kann sich einfach irgendwo auf dem Schulhof, auf irgendeiner Parkbank, in ir­gendeiner Kneipe, im Bus oder auf der Straße küssen. Man braucht dafür auch keinen Partner, der einen BMW besitzt. Man muss es einfach nur tun. PIPPEL’S Gegenangriff be­ruht also darauf, dass sie das Thema des erotischen Prestiges auf die Frage der inneren Bereitschaft verlagert. Wer noch nicht geküsst hat, kann sich nicht auf äußere Umstände berufen.

Allerdings nimmt sie für diesen Gegenangriff auch eine Schwächung der eigenen Position in Kauf. Indem sie nämlich behauptet, PIT hätte noch nicht einmal geküsst, gesteht sie in­direkt ein, dass sie noch keinen Geschlechtsverkehr gehabt hat. Sie reagiert so, als hätte PIT nicht gefragt, sondern behauptet: Du hast noch nie gepoppt. Entsprechend könnte PIT PIPPEL’S Behauptung, er hätte noch nie geküsst, nun seinerseits kontern: Wie, Du hast wirklich noch nie gepoppt? Dazu müsste er aber das Spiel spielen und dürfte sich durch PIPPELS Unterstellung nicht in Verlegenheit bringen lassen.

Mit der nun folgenden Behauptung: Ich hab schon mal gepoppt, nimmt PIT gegenüber PIPPEL’S Unterstellung eine defensive Haltung ein. Statt sie selbst in Verlegenheit zu brin­gen, versucht er sich aus der Verlegenheit, in die PIPPEL ihn gebracht hat, herauszuwinden. Schon alleine dadurch, dass er sich verteidigt, statt anzugreifen, begibt er sich in ei­ne prekäre Interaktionssituation.

Die Defensivität setzt sich im Inhalt der Behauptung fort. Auf der Ebene eines erotischen Rechenschaftsberichts verzeichnet er gegenüber PIPPEL einen Punktgewinn. Nicht nur ist ihre Behauptung, er habe noch nie geküsst, jedenfalls in der Logik eines kumulativen Fortschritts der Sexualpraktiken (es ist ja sachlich nicht ausgeschlossen, Erfahrungen im Geschlechtsverkehrt gesammelt zu haben, ohne dabei geküsst zu haben), widerlegt; sei­ne Behauptung weist ihn auch potentielle als PIPPEL, sollte sie wirklich noch ohne sexuel­le Erfahrung sein, überlegen aus. Gleichwohl spiegelt sich in der Behauptung eine Hilflo­sigkeit. Wieder gelingt es PIT nicht, auf der Ebene einer erotisch anspielungsreichen In­teraktion zu antworten. Wieder geht es ihm, gleichsam buchhalterisch, um die Feststel­lung von erotischen Sachverhalten. Dabei verweist die Behauptung, es schon einmal ge­tan zu haben, in ihrer sprachlichen Form auf das Gegenteil von Veralltäglichung. Unge­wollt gibt PIT seine Unerfahrenheit zu verstehen. Er hat zwar auf dem Gebiet der Erotik schon einmal eine Erfahrung gemacht. Aber mag diese Erfahrung von noch so großer ini­tialen, biografischen Bedeutung, so steht sie doch weder als Ausweis für innere Gelas­senheit noch erotische Versiertheit.

Ja mit wem denn? Wie heißt sie denn? PIPPEL wechselt jetzt ihrerseits in den Modus einer tatsachenorientierten, „peinlichen Befragung“. PIT soll die Zeugin seiner erotischen Initia­lerfahrung nennen. Die Frage reproduziert das Image-Problem, in dem PIT steckt. Denn durch einen namentlichen Nachweis gewinnt die Behauptung, es schon einmal getan zu haben, vielleicht an Glaubwürdigkeit; die Initialerfahrung behält aber das Stigma, eher ei­ne sexuelle Mutprobe gewesen zu sein.

Wie an den anderen, bisher interpretierten Sequenzpositionen auch, könnte PIT den Stil der Interaktion hin zu erotisch aufgeladenen Anspielungen und Andeutungen wechseln (das wüsstest Du wohl gerne, usw.). Es kann uns aber nach der bisherigen Interpretation auch nicht überraschen, dass ihm dies nicht gelingt.

Er wählt die Variante, den Namen zu verschweigen: Kennst Du eh nicht, die wohnt in Ber­lin. Tatsächlich hat es für eine Beweisführung wenig Sinn, nun den Namen einer Person zu nennen, die PIPPEL nicht kennt. Prompt käme die Antwort: das kann ja jeder sagen. Auch wenn PIT noch einmal versucht, wenigstens durch den Hinweis auf Berlin sich Aner­kennung zu verschaffen – er hätte es ja auch bei einem die wohnt nicht hier bewenden lassen können -, scheint er zu resignieren. Es hat eh keinen Sinn. Und als PIPPEL nach­hakt: Sag doch den Namen, vielleicht kenn ich sie doch, bricht er schließlich das Ge­spräch ab.

Mit dem vielleicht kenn ich sie doch gibt PIPPEL zu verstehen, dass immerhin überhaupt eine Chance besteht, die fragliche Person zu kennen. Damit ist auch PITS letzter Versuch des Prestigegewinns gescheitert. Denn natürlich zielt der Hinweis auf Berlin nicht auf die statistische Wahrscheinlichkeit des Kennens (die Wahrscheinlichkeit, eine bestimmte Per­son zu kennen, die in Berlin wohnt, wächst kaum dadurch, selbst in Berlin zu wohnen), sondern auf einen Erfahrungs- und Prestigevorsprung gegenüber PIPPEL: Mir ist Berlin vertraut, für Dich ist es terra incognita. Dem gegenüber ist PIPPELS Antwort geradezu er­schreckend. Die Exklusivität, die PIT ins Spiel zu bringen versucht hat, ist dahin. Sein Ich kenne jemand in Berlin wird beantwortet mit der Unterstellung so viele Menschen in Berlin zu kennen, dass die Nachfrage nach dem Namen nicht von vornherein unsinnig ist. Nicht PlT, sondern PIPPEL erweist sich als „intime“ Berlinkennerin. PIT kann machen was er will; er kann mit PIPPEL nicht mithalten.

Diese Unterlegenheit konstituiert sich qua Interaktion. PITS Interesse – in den an PIPPEL gerichteten Fragen – gilt der präpositionalen Welt. Diese liegt aber gleichsam jenseits der konkreten Interaktionsituation und Interaktionspraxis. Gleich einem performativen Selbst­widerspruch versucht er seine Erfahrenheit zu behaupten, statt sie als Gesprächspartner qua Interaktionsvollzug, also qua Sprechakt, unter Beweis zu stellen. PIPPELS Interakti­onsstrategie gleicht dabei dem „hic rhodos, hic salta!“: Zeig hier und jetzt, was Du kannst; und das heißt: zeig Dich in der Interaktion als versiert.

Pit antwortet nicht. Pippel wendet sich wieder Carlos zu.

Carlos: Hast du echt noch nie?

Pippel: (leise) Nein, ich warte noch.

PIT ist aus dem Spiel: PIPPEL wendet sich CARLOS zu. Dieser scheint doch irgendwie be­eindruckt von der Interaktion, die er verfolgt hat. Einerseits greift er PIT’S Thema auf. Auch er will nun wissen, wie es um die sexuelle Erfahrenheit von PIPPEL bestellt ist. Anderer­seits drückt sich in seiner Frage geradezu ein besorgtes Staunen aus: echt noch nie? Im Gegensatz zu seiner ersten Äußerung (Sie kennt nur die Rücksitze) ist CARLOS nun ziem­lich kleinlaut geworden. Es scheint, als habe es ihm die Sprache der locker-derben Frot­zelei verschlagen. Mit dem ernst zu nehmenden Verdacht der sexuellen Enthaltsamkeit PIPPEL’S ist für CARLOS der Bogen des Sprachspiels überspannt: das ist nicht mehr witzig. Wie sehr er von diesem Verdacht beeindruckt ist, zeigt sich auch darin, dass er darauf verzichtet, an die Interaktion zwischen PIT und PIPPEL anzuknüpfen und PIT weiter in Be­drängnis zu bringen. CARLOS wirkt geradezu erschüttert.

Diese Erschütterung kann als Irritation eines Identitätsentwurfs gesehen werden, der sich an einem spezifischen Bild von PIPPEL orientiert. Und dieses Vorbild ist durch die Interak­tion zwischen PIT und PIPPEL ins Wanken geraten. Anders als bei PIT (Hast Du noch nie gepoppt?) steht für CARLOS nicht ein Sachverhalt in Frage, sondern ein Fremdentwurf: „Bist Du diejenige, für die ich Dich die ganze Zeit gehalten habe?“; und damit indirekt auch ein Selbstentwurf.

PIPPEL scheint die schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen: Nein, ich warte noch. Offen und explizit gesteht sie nun ihre sexuelle Unerfahrenheit ein.

Allerdings versieht sie dieses Eingeständnis mit einem offensiven Motiv. Ihre Abstinenz gründet weder auf ängstlicher Scheu noch auf einem Mangel an Gelegenheit. Zugleich zeigt PIPPEL sich unbeeindruckt von dem auf der Adoleszenz lastenden Druck, durch erste sexuelle Erfahrungen sich selbst und anderen gegenüber etwas beweisen zu müssen. Damit konterkariert sie das den bisherigen Interaktionsverlauf leitende Prestigemotiv erotischer Versiertheit und be­kräftigt CARLOS’ Irritation. Von Sie kennt nur die Rücksitze kann keine Rede mehr sein. Auffällig ist aber auch, dass PIPPEL sich eines Klischees bedient, wie es schnulzenhafter kaum sein könnte, so dass der propositionale Gehalt ihrer Äußerung mit einem Augen­zwinkern versehen ist, das die Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit ihrer Auskunft fraglich werden lässt. Diese Spannung schreibt sich interaktionslogisch fort. Das Ich warte noch verweist ja unausgesprochen auf das Motiv, auf den Richtigen zu warten. Und dieses Mo­tiv ist in der unmittelbaren Interaktion mit CARLOS ausgesprochen anspielungsreich. Der BMW fahrende Freund ist wohl nicht „der Richtige“. Zwar kann CARLOS nicht mit einem BMW dienen; aber vielleicht ist er ja derjenige, auf den PIPPEL wartet. So verhält sich PIPPELS Keuschheitsgeständnis in völliger Komplementarität zu PIT’S Be­hauptung, sexuell erfahren zu sein. Während er Erotik sprachlich reklamiert, vollzieht sie sprachlich diese Erotik; paradoxer Weise gerade dadurch, dass sie Enthaltsamkeit be­hauptet.

Fußnote:

[1] Vergleichbar dem Mechanismus der „psychischen Impotenz“.

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