Methode:
Fachdidaktik:

Die Videos sind erschienen auf der DVD „Handwerk des Lernens. Kamera-Ethnographische Studien zur verborgenen Kreativität im Klassenzimmer.“ (IWF-Wissen und Medien gGmbH 2007, Vertrieb: IVE Institut für Visuelle Ethnographie, info@ive-shop.de). Neben den kurzen kamera-ethnographischen Studien enthalten die Videos ein Angebot unterschiedlicher Kommentarperspektiven:

• Kommentare aus der ethnographischen Lernforschung (Jutta Wiesemann)

• Kommentare aus der Unterrichtspraxis in der untersuchten Klasse (Heike Schreyer)

• Ausführlicher Kommentar im separaten Text „Hände, Handeln, Händel“ (Jürgen Streeck), eine mikroanalytische Betrachtung von Interaktion.

Die Vorstellung, es gäbe das eine passende Wort zum Bild, kann getrost zu den Akten gelegt werden. Wie jede Kamera-Einstellung beim Drehen, ist später auch im Umgang mit dem Videomaterial das Reden und Schreiben eine Angelegenheit mit Perspektive: Von wo aus blicke ich wohin? Dieser unentrinnbare Aspekt jeder Thematisierung macht die Versuche, Videomaterial durch Transkription in einem kompletten Sinne zu erfassen, zu einem aussichtslosen Unterfangen, denn transkribiert werden können immer nur ausgewählte Aspekte. Audio-visuelles Forschen eröffnet daher ein schier unendliches Versuchsfeld der Entwicklung, Erprobung und Reflexion relevanter Perspektiven.

Im Kontext der Kamera-Ethnographie wird die zwangsläufige Selektivität von Blick und Wort zu einer Chance des Wahrnehmens und Zeigens. Jede einzelne Unterrichtsstunde bietet Selektionschancen, die mit einer ethnographisch beobachtenden Kameraführung genutzt werden können. Da soziale Situationen höchst komplex sind, können weder Menschen noch Kameras sie jemals total überblicken oder vollständig erfassen. Sie sind unübersichtlich.

Mit einer Kamera lassen sich Blickschneisen durch das „Dickicht“ der Situation schlagen – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Die Situation wird erkundet, abbilden lässt sie sich nicht. Die Kunst des Sehens und Zeigens ist immer auch eine Kunst des Weglassens und nicht Zeigens. Ethnographisches Forschen ist als ein Prozess angelegt, der sich zwischen noch nicht Gewusstem und neuen Wissensaspekten aufspannt (siehe Amann und Hirschauer 1997 und Griesecke 2001). Es geht um Bewegung im Kopf. Kamera-Ethnographische Studien haben einen hybriden Charakter: Sie stellen etwas fest und lösen doch etwas aus. Es lohnt sich, den Gebrauch einer Kamera einmal nicht vorrangig vom Festhalten sondern von Suchbewegungen aus zu denken: Es geht um Blickentwürfe. Aufgrund der intensiven Arbeit am Blick taugt Kamera-Ethnographie dazu, das Sehen selbst voranzutreiben und dabei ein dichtes Zeigen überhaupt erst zu ermöglichen (siehe Mohn 2002, 2008). Wie beim Drehen sind es auch beim Sichten und Schneiden des Materials selektive Strategien, die einen forschenden Blick ausmachen. Welche Antworten auf welche Fragen sind an diesen Bildern möglich? Das Material wird zerlegt, befragt, Videosequenzen zugeschnitten und versuchsweise arrangiert, beobachtet, verworfen. Interpretative Rahmen und Theorien werden erprobt.

Die beobachtenden Videosequenzen erweisen sich als ideale Ausgangspunkte für daran anknüpfendes Reden, Schreiben und Denken. Gerade weil sich Worte von Bildern unterscheiden liefert der Versuch, vor dem Video-Monitor Texte zu schreiben ein Evokationspotential: Die Suche nach Worten schärft das Erblicken der Bilder, die ihrerseits Wortfindungen hervorlocken. Die Worte der Forschenden vor dem Videomonitor bewegen sich mal an Bildoberflächen, mal durchs Bild hindurch in abwesende Situationen und mal entfernen sie sich auch von den Bildern, umkreisen sie aus großem Abstand oder fliegen schlichtweg davon. Selbst die Kamerablicke auf einzelne Hände lassen noch Raum für die verschiedensten Erkundungen, dies legen auch die Texte und Kommentare dieser DVD nahe. Bildfolgen setzen und Sätze bilden – zwei mediale Praktiken, deren Differenz und intermediales Potential verspielt würde, wenn man sie in eindimensionale Abbildungsbeziehungen zueinander zwingt oder versucht, die Dinge ein für allemal fest zu stellen. Der Entwurf interessanter Blicke und die Entdeckung spannender Aspekte des Feldes reifen stets aneinander (siehe auch Mohn und Amann 2006, DVD „Lernkörper“).

Dabei erhöht sich die Chance, etwas sehen und verstehen zu lernen, was zuvor noch nicht im Blick war und folglich auch in keinerlei Drehbuch oder Forschungsleitfaden hätte stehen können. Da es sich um Blickentwürfe handelt, nicht um ‚Mitschnitte‘, haben es kamera-ethnographische Video-Sequenzen niemals in einem ‚reinen‘ Sinne mit Daten zu tun, die weitere Arbeit am Material nicht in einem objektiven Sinn mit Auswertung. Anstelle eines Zweiphasenmodells der klaren Trennung in Daten hier und Analysen dort tritt die kontinuierliche Arbeit an materialisierten Blickspuren und den daraus erwachsenden Sichtweisen. Das Sehen und Forschen entwickelt sich dabei zirkulär über 6-Phasen hinweg (vgl. Mohn 2010):

1. Entwurf von Blickspuren mit der Kamera

2. Versuchsanordnungen im experimentellen Arrangement der Bilder

3. Dichtes Zeigen erarbeiteter Sichtweisen

4. Rezeption des Gezeigten

5. Reflektion von Medialität, Methodologie, Gezeigtem und nicht Gezeigtem

6. Anwendung als Laborphase der Praxisgestaltung

Der Alltag von Schülerinnen und Schülern ist Dreh- und Angelpunkt der kamera-ethnographischen Studien einer JÜL-Klasse (Jahrgänge 4, 5, und 6 einer Grundschule) in Berlin Wedding: Die kurzen Videos befassen sich mit den alltäglichen Praktiken der Schülerseite im Umgang mit Lernsituationen, Unterrichtsritualen und materiellen Arrangements im Klassenzimmer. Begleitend zu den Videos bietet die DVD kommentierende Texte aus unterschiedlichen Perspektiven an: ethnografiphische Lernforschung, angewandte Pädagogik und Mikroanalyse der Interaktion.

 

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