Falldarstellung

„Gefühlsschilderung vor dem ersten eigenen Unterricht“:

„Bevor es zu dem eigentlichen Unterricht kam, wurde ich schon mehr oder weniger nervös. Eine innere Checkliste wurde im Kopf erstellt. Das Ziel dieser inneren Liste war es natürlich, um jeden Preis Peinlichkeiten oder andere Missgeschicke schon im Voraus zu verhindern. Die Auflistung enthielt jedoch nicht nur, ob jedes Kleidungsstück am richtigen Ort sitzt, passt und sauber ist oder ob die alltägliche Körperhygiene Erfolg hatte oder nicht, sondern sie enthielt auch präventive Vorkehrungen für Notfälle im Unterricht. Etwas genauer gesagt spielte man einige Beispiele vor dem geistigen Auge ab; welche Fragen zu welchem Thema bzw. Aufgabe welcher Person gestellt werden könnten und die daraufhin richtige, lockere und sympathische Antwort der Lehrkraft, d. h. also von mir. Natürlich stellte sich 90 Minuten später heraus, dass man sich diese Arbeit hätte sparen können. Ganz besondere Aufmerksamkeit in der Vorbereitung erhielt die Planung einer gewissen Schlagfertigkeit, denn man möchte auf gar keinen Fall vor der Klasse untergehen, indem man auf Sprüche oder provozierende Fragen vor der Klasse verstummt.

Aber nicht nur das Bestehen vor der Klasse gehörte zu den Überlegungen, sondern auch das Zufriedenstellen des wahren, richtigen Lehrers. Natürlich hofft man, dass der Betreuer von dem eigenen Unterricht schlichtweg fasziniert ist, der „worst case“ wäre dementsprechend ein väterlicher Rat seitens der regulären Lehrkraft, man solle lieber das Studienfach wechseln. Es ist wohl natürlich, dass in der Natur des Anfängers der Gedanke an die schlimmste Möglichkeit überwiegt. Nach diesen umfangreichen Planspielen ging ich in die Klasse. Es war gut, hatte Spaß gemacht und überlebt hatte ich es auch.“

Interpretation

Da ist zum einen die Angst und Befürchtung, vor der Klasse nicht „zu bestehen“, vor der Klasse „unterzugehen“, die einen besonderen Aufwand an präventiven Maßnahmen provoziert. Da ist zum anderen als der „worst case“ die Missbilligung des „wahren, richtigen Lehrers“. Die Formulierungen spitzen die Problemlage ironisch zu: Die Urteilsinstanz Lehrer wird überhöht und die Konsequenz eines negativen Urteils wird übertrieben dargestellt. Aber trotz des ironischen Tons zeigt sich, wie fundamental die Ängste sind: die vorbeugende Selbstkontrolle bezieht sich nicht etwa auf eine gewissenhafte Unterrichtsvorbereitung, sondern auf Bereiche des Persönlichen und Intimen, wie Körperhygiene, und die Überprüfung, „ob jedes Kleidungsstück am richtigen Ort sitzt“, verweist unübersehbar auf die Angst, entblößt und nackt vor der Klasse zu stehen. Das Feed-back des Lehrers schließlich ist nicht einfach eine professionelle Rückmeldung, sondern es ist – fällt es negativ aus – der schlimmste Fall. Das ist eine Dramatisierung, der die abschließende Formulierung der Erleichterung in ihrer wörtlichen Bedeutung entspricht: „und überlebt hatte ich es auch“.

Damit erinnert die Schilderung an Kafkas Erzählung „Das Urteil“, (…), an das Todesurteil des Vaters, das der Sohn wie ferngesteuert vollzieht. Hier, (…), geht es zwar nicht um die leibliche Existenz, aber immerhin um die berufliche Identität.

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