Hinweis – der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Sprache kann also nach unterschiedlichen Konzepten unterschiedliche Rollen im bilingualen Unterricht spielen, je nachdem, wie bedeutsam das Element gemacht wird und welche Sprachkompetenzen im Unterricht gefordert werden. Unabhängig von dem Umfang der geforderten Sprachkompetenz findet jedoch in jedem bilingualen Unterricht eine Bewertung der erbrachten Leistung statt. Durch die Sprache kommt im bilingualen Unterricht also dauerhaft eine weitere Korrekturebene hinzu, auf der sich die Lernenden zusätzlich beweisen müssen. Es gibt hier verschiedene Fehlermöglichkeiten:

• Ein Beitrag kann physikalisch und sprachlich falsch sein, dann wird er als falsch bewertet.

• Ein Beitrag kann physikalisch falsch sein, sprachlich aber korrekt, dann wird er vermutlich – der Prämisse folgend, dass fachliche Inhalte im Vordergrund stehen – korrigiert, also als falsch bewertet.

• Ein Beitrag kann physikalisch korrekt, sprachlich jedoch falsch ausgedrückt sein, dann greifen mehr Optionen: Es bleibt das Risiko, dass der richtige Inhalt missverständlich formuliert wird oder – je nach sprachlichem Misslingen – auch gar nicht als inhaltlich korrekt verstanden wird. Möglicherweise erfolgt ausschließlich eine sprachlich korrigierende Reaktion, der inhaltliche Beitrag bleibt unberücksichtigt. Oder die sprachliche Ebene wird ignoriert und die Antwort somit als richtig eingestuft. Diese Wahrscheinlichkeit ist relativ gering. Eher noch erfolgt eine differenzierende Reaktion, die Sprache wird korrigiert, der Inhalt als richtig gewertet, damit wäre zumindest ein Teil korrekt.

• Um sicher eine positive Bewertung zu bekommen, müssen sowohl physikalischer Inhalt als auch sprachliche Formulierung richtig sein. Damit sind die Korrekturrisiken im bilingualen Physikunterricht deutlich höher als im monolingualen Physikunterricht, da sprachliche Korrekturen hier in aller Regel selten oder gar nicht erfolgen. Sprache bildet hier also ein Ausschlusskriterium, welches zusätzlich zu physikalisch-inhaltlichem Ausschluss gilt.

Wie gehen die Akteurinnen und Akteure nun aber praktisch mit dem Element Fremdsprache und der damit zusammenhängenden Bewertungspraxis im bilingualen Unterricht um? Wo entstehen möglicherweise konzeptionelle Freiräume, wie werden diese genutzt? Hierzu möchte ich zunächst die Positionen der Lehrkräfte, dann die der Lernenden untereinander und abschließend die gemeinsamen Praktiken der Lernenden und Lehrenden darstellen.

Schüler und Schülerinnen untereinander

Generell lässt sich beobachten, dass die etwas ungeklärten Anforderungen hinsichtlich der erwünschten Sprache, welche für das offizielle Unterrichtsgespräch gelten, sich nicht auf die Phasen der Gruppenarbeit bzw. von Experimenten übertragen lassen. In diesen Situationen, in denen die Lernenden untereinander interagieren, sprechen die Lernenden ausschließlich Deutsch miteinander. Vokabelklärungen werden somit v. a. nötig, wenn es um das gemeinsame Frontal-Unterrichtsgespräch bzw. um die adäquate Bearbeitung eines Gruppenarbeitsauftrags geht. Während an keiner Stelle protokolliert ist, dass die Schüler und Schülerinnen sich gegenseitig auf der sprachlichen Ebene vor der Klassenöffentlichkeit, also auf der Vorderbühne, korrigieren würden, nehmen sie sich jedoch untereinander für Vokabelklärungen gegenseitig in Anspruch (vgl. z. B. Bp01004d, Bp01208v), Hilfestellungen bei sprachlichen Unsicherheiten werden also wann immer möglich auf der Hinterbühne verhandelt. Auch wenn die Gemeinschaft nicht zu einer gemeinsamen Klärung der Frage kommt, wird die Lehrkraft nicht herangezogen:

Yutaka arbeitet weiter und fragt kurze Zeit später: „Joe, was ist noch mal „tension“?“ Knut äfft im Spaß nach: „Attention, attention.“ Joe antwortet: „Druck oder so.“ Knut wirft ernsthaft ein: „Ne, Druck ist doch „friction“!“. Frederik erwidert: „Ne, Druck ist doch „pressure“!“. Knut antwortet achselzuckend: „Ach, was weiß ich, ey.“ (Bp01208v)

Die Lernenden verlagern damit die sprachliche Komponente des Unterrichts auf eine Ebene, auf welche die Lehrkräfte nicht für eine Bewertung zugreifen können. Deutlich zeigt sich an dieser Taktik, dass die Schüler und Schülerinnen durchaus reflektiert mit Sprache im bilingualen Unterricht umgehen: Da es für besonders gute englische Äußerungen selten explizit Anerkennung auf der sprachlichen Ebene gibt, Deutsch als Unterrichtssprache jedoch wesentlich weniger Fehlerpotenzial birgt und das Ausweichen auf Deutsch nicht oder nur in Ausnahmen sanktioniert wird, greifen die Lernenden so oft wie möglich auf die weniger fehlerriskante Sprache Deutsch zurück. Offen bleibt, ob sich auch die Unterrichtsbeteiligung aufgrund der sprachlichen Anforderungen verändert. Diese Frage lässt sich aus unseren Daten heraus nicht beantworten.

Dass sich das doing student auch auf der inhaltlichen Ebene findet, zeigt die Feststellung der Schülerin Nina, welche aufzeigt, dass es zwischen einer zum Verstehen ausreichenden Sprachkompetenz und dem inhaltlichen Verstehen nicht notwendigerweise Verbindungen geben muss:

Nina meint etwas süffisant: „Selbst wenn man weiß, dass es „T-Energy“ (ich kann das Wort immer noch nicht akustisch verstehen, D. G.) heißt, dann weiß man immer noch nicht, was das eigentlich ist.“ Marianne guckt auf das Arbeitsblatt und liest vor: „Energie der Lage.“ Nina zuckt etwas mit den Schultern und es wirkt, als könne sie damit nicht viel anfangen, obwohl sie daran interessiert scheint, was es eigentlich mit dieser Energie auf sich hat. (Bp01004d)

Auch in diesem Fall wird die Lehrkraft nicht zur Klärung herangezogen, die Schülerinnen verbleiben eher mit der Wissenslücke, als dass sie sich öffentlich vor der Lehrkraft und der Klassengemeinschaft als Nicht-Wissende outen.

Mit freundlicher Genehmigung des transcript Verlages
http://www.transcript-verlag.de/978-3-89942-688-5/schulische-fachkulturen-und-geschlecht

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