Zu diesem Fall sind alternative bzw. kontroverse Interpretationen vorhanden – auf die im vorliegenden Dokument reagiert wird:

Falldarstellung

(…)

(Rede einer Lehrerin am Einschulungstag an einer Grundschule)

Nach einer Theateraufführung versammeln sich Schulneulinge, ihre Eltern und die Lehrerin im „neuen“ Klassenzimmer. Die Kinder haben schon Platz genommen, ihre Eltern stehen – es sind in der Mehrzahl Mütter – im Hintergrund des Raumes. Und so beginnt die Lehrerin:

„Und jetzt habt ihr eine Lehrerin gekriegt mit so einem komplizierten Namen (…) Aber das werdet ihr ganz schnell lernen und eure Eltern, die haben das schon gelesen auf dem Zettel. Die begrüß ich natürlich auch ganz herzlich, hier zu ihrem ersten Schultag, hier in der 1a. Und ich hoffe nur eins, dass es hier keinen gibt, der Angst hat, das braucht er nämlich überhaupt nicht. Ihr werdet sehen, wie schön das hier wird bei uns und wie lustig das wird. Dass man natürlich auch was lernen muss, das ist ja wohl klar. Denn man geht ja nicht dreizehn Jahre in den Kindergarten ( Lachen der Kinder). Und ihr wollt ja schlauer sein wie der Hase und wie der Igel in dem kleinen Stückchen da? Was wollt ihr denn eigentlich in der Schule, warum seid ihr denn hergekommen?“
Kind: „Weil wir lernen wollen.“
Lehrerin: „Ihr wollt lernen. Was wollt ihr denn lernen?“
Kinder: „Schreiben, Lesen.“
Lehrerin: „Noch was?“
Kind: „Rechnen, Computerspiele.“
Lehrein: „Rechnen. Ganz wichtig. Man kann ja nicht immer mit seinem Computer da rumlaufen. Das geht ja nicht (…) Und deshalb seid ihr hier hergekommen, weil ihr bei uns was lernen wollt. Wir sind also hier in der 1a siebenundzwanzig Kinder. (…) Jetzt will ich gucken, ob ihr auch wirklich alle da seid – nicht dass wir einen vergessen haben und der findet unsere Klasse nicht vor lauter Gedrängel. Wo ist denn die Jutta? Das ist die Jutta. Und der Martin…?“
(Alle Kinder werden mit Namen genannt.)
Lehrerin: „Und eins könnt ihr auf jeden Fall schon alle, ihr könnt schon ganz toll eure Finger strecken. Und wenn das so bleibt, sind wir glücklich. (…)“
An die Eltern gewendet: „Ich werde hier bis kurz vor 11 Uhr ein bisschen Schule machen“ (Lachen der Eltern), „damit sie sich so ganz langsam daran gewöhnen. Und ihr“ (Ansprache an die Kinder) „habt euch ja vielleicht einen ersten Schultag ausgesucht – Freitag – und dann gleich wieder zwei Tage frei. Das ist toll, aber das ist nicht jede Woche so. Aber das macht nichts, ihr werdet merken, wie schnell die ganze Woche herumgeht und wie schön das hier wird (…)”

Interpretation

Die „cultural anthropology“ als eine Rahmentheorie für eine Ethnographie der Schule und des Unterrichts

Arno Combe beschreibt anhand der Rede mit den Mitteln der objektiven Hermeneutik Strukturen. Er versteht die Rede als repräsentativ. In ihr spiegeln sich latente, deshalb umso wirksamere institutionelle und zivilisatorische Sozialisationsmuster, die das Individuum beschädigen. Eine, wie ich finde, starke und nachvollziehbare These durchzieht Combes Text. Das ist die These der Normenfalle:

Der Satz: „Und ich hoff nur eins, dass es keinen gibt, der Angst hat, das braucht er nämlich überhaupt nicht“ ist für Combe „eine Verbalisierung eines Double-bind: „Ich hoff nur eins, heißt so viel wie Wehe! Schande über jeden der … Es wird also gedroht. Der soll Angst haben, der sich untersteht Angst zu haben. Dies ist reines Double-bind, d.h. Begriffsverwirrung, zwecks Zerstörung der Interpretationsfähigkeiten des Opfers (Combe 1992, S. 172).

Ähnliches lässt sich für den Widerspruch sagen, der zwischen den Botschaften der Lehrerin besteht, wenn sie einerseits sagt, wie schön es in der Schule werden wird und dass sich die Kinder darüber freuen dürfen, dass erst einmal schulfrei ist.

Wilfried Lippitz fasst das Programm Arno Combes so zusammen:

„Kinder werden zu Schülern in der Institution Schule gemacht, die tendenziell wie jede machtförmige Institution in der modernen Gesellschaft funktioniert. Die Rede der Lehrerin selbst als Ereignis des Sagens, in dem Neues und noch nicht Bekanntes zur Sprache kommt und in der aktuellen Situation überhaupt erst verfertigt wird, verschwindet in der theoretischen Deutungsperspektive: Das Sagen wird zum Gesagten. Anders ausgedrückt: In der theoretischen Deutungsperspektive gibt es schon die fraglose Ordnung, in die die zukünftigen Mitspieler eingeführt werden, damit sie funktionieren und der Schulanfang mit der Rede der Lehrerin exekutiert diese Ordnung von Anfang an.“ (Lippitz 2000, S. 53)

Ich denke, Arno Combe könnte – abgesehen von der Polemik – mit der Beschreibung seines Anliegens mit Lippitz übereinstimmen.

Lippitz eigenes Anliegen, als das der Phänomenologie beschreibt er so: „Sie (die Phänomenologie) ist von einem idealistischen Subjekt- und Handlungsverständnis abgerückt und gibt dezentrierenden, anonymen Strukturzusammenhängen im menschlichen Zusammenleben einen größeren Raum, in die leiblich-sozial und geschichtlich situierte Subjekte miteinander verstrickt sind.“ (Lippitz 2000, S. 54)

Lippitz thematisiert die Szene als Bearbeitung von Fremdheit im Sinne einer responsiven Rationalität. Sie thematisiert Fremdheit als Moment der sozialen, geschichtlichen und leiblichen Existenz. Er richtet von daher den Blick auf den Umgang der Lehrerin mit einem notwendigen Prozeß: „In diesem Sinne wäre die Lehrerin im Zusammenspiel mit ihren zukünftigen Schülern diejenige, die den Schulanfang als eine sich erst konstitutierende Ordnung zwischen noch Fremden zu bewältigen hat.“ (Lippitz 2000, S. 55) Die Rede ist für ihn nicht fertig, sondern ein sich entwickelndes Ereignis.

Die Differenz zu Combe wird in dem folgenden Satz deutlich: „Dabei huldige ich keinem interaktionistischem Spontaneismus und beziehe durchaus in meine Deutungen ein, dass eine routinierte und erfahrene Lehrerin als Vertreterin ihrer Institution auf mehr oder wenige eingefleischte Wissen- und Verhaltensmuster zurückgreifen kann und muss, um diese neue Situation bewältigen zu können. Nur – ich wiederhole – ich deute diese Bewältigung nicht subsumtionslogisch als subjektferne routinemäßige Exekuktion institutioneller Praktiken, sondern als konkret zu bewältigende, ja immer wieder neu zu bewältigende Aufgabe.“ (Lippitz 2000, S. 55)

Aus dieser Sicht ist die Beurteilung der Lehrerin weitaus freundlicher als bei Combe. Lippitz deutet an, dass sie durchaus erfolgreich Attitüden und Muster einer unverbindlichen Kommunikation realisiert hat „die zwischen Fremden zur Aufrechterhaltung von sozialer Interaktion nötig sind, ohne dass man ihnen schon Tiefen- und Langzeitwirkung unterstellen darf. Die Rede der Lehrerin interpretiere ich als mehr oder weniger geschickten Antwortversuch auf die situativen Ansprüche des ersten Schultages.“ (Lippitz 2000, S. 56)

Ich fasse beide Ansätze etwas holzschnittartig zusammen. Bei Combe spricht die Vertreterin einer Institution, bei Lippitz ein lebendiges, vor allem auch leibbestimmtes menschliches Wesen.

In meiner Variante spricht die Vertreterin einer bestimmten Form der kulturellen Bewältigung der Unterscheidung von Kind und Erwachsenen. In meinem Ansatz sind die Probleme, die Combe aufführt, dadurch zu erklären, dass aus bestimmten Gründen die Kultur, der die Lehrerin angehört, Schwierigkeiten hat, die Unterscheidung klar zu denken und auszudrücken. Vor etwa 10 Jahren – noch stärker als heute – war die Frage, wozu es denn eigentlich eine Schule geben sollte, nicht mehr leicht zu beantworten. Die Eltern, die ich auch befragt habe, stellten zwei Ansprüche: Die Schule soll Spaß machen, es sollte keinen Zwang geben – so zumindest am Anfang. Aber lernen sollten die Kinder durchaus etwas. Und sie hatten dabei durchaus den Übergang auf die weiterführende Schule im Blick. Angekommen war bei den Eltern die Vorstellung, dass Kinder spielen müssen, damit sie lernen können. Ich sage nicht: Spielen dürfen.

Das Generationenverständnis hatte sich so weit geändert, dass eine klare Ordnung der Unterscheidung von Kind und Erwachsenen brüchig geworden war. Eine der Konsequenzen daraus war die Bedeutung von Kindheit als eigenständige Spielphase, wobei das Spiel der Kinder funktionalisiert gedacht wurde für deren Leistung im Schulsystem. Das ist eine etwas komplizierte Figur. Ihr Gegenbild ist einfacher. Das war die Sonntagsschule bei Mark Twain. Auf der Straße am Fluss, das wussten die Erwachsenen, sind die Kinder wild und verdorben. Deshalb braucht man die Sonntagsschule, um sie zu zivilisieren. Das Kindheitskonzept der neunziger Jahre hat eine freundliche Sonntagsschule geschaffen, die nun aber in der ganzen Woche besucht werden muss.

Die Lehrerin versucht aus meiner Sicht die widersprüchlichen Ansprüche ihrer Kultur, die sie sich auch selbst zu eigen gemacht hat, gewissermaßen unter einen Hut zu bringen. In der Rede ist m.E. auch der Kontext erkennbar, auf den sie sich bezieht. Wenn sie von „ein bißchen Schule machen“ spricht, dann weiß sie, dass die Eltern die Schule nicht mehr so wollen, wie sie selbst erleben haben, aber auch nicht ganz anders. Der gleitende Übergang als angedeutete Lösung verweist ebenfalls auf eine geltende kulturelle Übereinkunft. Die Rede der Lehrerin wendet sich nicht primär an die Kinder, sondern an die Eltern. Sie lässt sich lesen als der Versuch, eine Lebensform als Einheit zu präsentieren, die sich nicht mehr einheitlich präsentieren lässt. Was die ältere Generation von der jüngeren will, ist fragwürdig geworden. Dies ist das eine Ergebnis der Analyse. Weitere Analyseschritte würden zeigen, mit welchen Mitteln die Lehrerin versucht, mit dem Problem umzugehen. Hier schneiden sich dann sicher biographische mit institutionellen, sowie trivialisierten wissenschaftlichen z.B. pädagogischen und didaktischen Diskursen. Die Ursachen des Problems, dessen Bewältigung die Lehrerin versucht, ist damit nicht geklärt. Hingewiesen habe ich allerdings auf ein zentrale Bedeutung von Schule und Unterricht in der Gegenwart.

Ich stimme also mit Combe darin überein, dass sich hier Strukturen finden lassen und mit Lippitz darin, dass es sich um eine Rede handelt, die responsiv ist. Die Strukturen sind Bedeutungsstrukturen und responsiv ist die Rede insofern, als die Lehrerin versucht durch Verweise auf kulturelle Bestände und durch ihre Interpretation dieser Bestände mit den Eltern einen gemeinsam Kontext herzustellen, auf den sie sich in Zukunft beziehen kann. Kontextualisiert wird die Kultur einer Klasse. Die zukünftigen didaktischen und methodischen Arrangements, die kommunikativen und sozialen Handlungen der Lehrerin werden weiterhin auf diesen Kontext verweisen, ihn ausdifferenzieren und modifizieren. Das bedeutet anders herum gesehen, dass didaktische und methodische Arrangements, kommunikative und soziale Handlungen der Lehrerin ohne Kenntnis des Kontextes nicht zu entziffern sind.

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