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Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Die folgende Untersuchung wird die „vier Wände“ des Klassenzimmers nicht verlassen (vgl. Fälle 1-7 Breidenstein-Klassenräume), aber der Klassenraum, der uns zunächst die situative Einheit des Unterrichtsgeschehens zu verbürgen scheint, wird sich bei genauerer Analyse in eine Vielzahl einander überlagernder, sich durchdringender und überschneidender Räumlichkeiten auflösen.

Über die Differenzierung der visuellen Räume durch die Sitzordnung hinaus gibt es im Klassenzimmer eine Zone herausgehobener Sichtbarkeit: den Bereich an der Tafel.1 Die besondere Sichtbarkeit des Tafelbereichs ist schon durch die Ausrichtung der Gesichter dorthin gegeben (jedenfalls in frontalen Unterrichtssituationen) und wird verschärft durch den Wegfall jeglichen Sichtschutzes.
Wer an der Tafel steht, ist durch keinen Tisch und keinen Stuhl vor den Blicken des Publikums abgeschirmt. In der Situation des An-die-Tafel-gehens oder An- die-Tafel-geholt-werdens ist die Exponierung Einzelner vor dem Publikum der Schulklasse, die in der Struktur der Unterrichtskommunikation angelegt ist (vgl. Breidenstein/Kelle 2002), auch visuell umgesetzt.

Kathi muss an die Tafel, um einen Satz anzuschreiben. Dies tut sie auch relativ gelassen mit einer winzigen, aber koketten Hüft-Bewegung. Mehrere lachen über ihre große und etwas schiefe Schrift, die sich schräg über die ganze Tafel hinzieht. Als sie sich setzt, muss sie selber lächeln. Wieder zurück auf ihrem Platz empfängt ihre Nachbarin Alexandra sie herzlich mit einer kurzen Umarmung.

Die Betroffenen sind sich darüber im Klaren, dass alle Blicke auf sie gerichtet sind. Die gesteigerte Sichtbarkeit der eigenen Person kann hemmen und/oder zu besonderen  ‚performances‘ herausfordern. Kathi vollführt in dem zitierten Beispiel einen kleinen Hüftschwung, von dem sie sicher sein kann, dass nicht nur der Ethnograph ihn beobachtet. Sie zeigt, dass sie sich der allgemeinen Aufmerksamkeit bewusst ist. Auch die Begrüßungsgeste ihrer Freundin Alexandra, als sie wieder auf ihrem Platz ist, kündet von den erheblichen Risiken (aber auch Potentialen), die mit jener Zone gesteigerter Sichtbarkeit verbunden sind, aus der sie wohlbehalten in die „Normalität“ zurückkehrt. – Dabei dürften die Gefahren, die in den kritischen, urteilenden Blicken der Peers liegen, schwerer wiegen als das Risiko, die Aufgabe an der Tafel nicht lösen zu können. (Die an der Tafel zu vollbringende Aufgabe ist meist nicht sehr anspruchsvoll, das eigentliche Risiko liegt oft darin, dass man sich etwa mit einem missratenen Schriftbild dem allgemeinen Gelächter aussetzt!).
Neben der eigenen Positionierung im Raum, die durch einen Sitzplatz innerhalb der Sitzordnung bestimmt ist und durch das Mobiliar eine Ausrichtung erfährt, besteht die zweite entscheidende Strukturierung der Visualität im Klassenraum in dem Blickfeld der Lehrerin, das zwar ebenfalls eingeschränkt, aber beweglich ist. Die zentrale Rolle der Lehrerin in der unterrichtlichen Interaktion sichert ihrem Blick die raumstrukturierende Wirkung. Insoweit sie mit Sanktionsgewalt ausgestattet ist, gilt es, einiges ihren Blicken zu verbergen, was nicht Bestandteil des offiziellen Unterrichtsgeschäftes ist. Wer sich hingegen beteiligen und etwa das Rederecht zugeteilt bekommen möchte, muss ihren Blick erhaschen. Die beobachtete Stunde ist eine Klassenarbeit. Wenig Spektakuläres. Ein zentrales Problem, welches in dieser Stunde von einigen Schülern gelöst werden musste, war nicht nur die Klausur zu schreiben, sondern insbesondere Nachfragen zu stellen. Die Lehrerin las ihrerseits nämlich in Unterrichtsmaterialien und blickte nur gelegentlich auf und über die Klasse hinweg.

Joseph meldet sich, wartet, guckt zu der Lehrerin hinüber, gibt es irgendwann auf. Seine Unterlassung des Meldens ist von einer Erkenntnisgeste (Finger an Stirn, dann daran hoch fahrend) begleitet. (Michael Meier)

Ein wenig überraschend vielleicht, dass es ausgerechnet in einer Klassenarbeitssituation, in der man den kontrollierenden Blick der Lehrerin erwartet, so schwer ist, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Doch die Lehrerin nutzt die „Aufsicht“, eine ausgesprochen langweilige Aufgabe, um selbst zu arbeiten und hält den Blick auf die Materialien vor sich auf dem Pult gerichtet: ihr Blickfeld beschränkt sich auf ca. 1 m2 Tischfläche direkt vor ihr.
Das Gesichtsfeld der Lehrerin unterliegt den üblichen Einschränkungen: ca. ein 150 Grad Winkel. Aber es ist mobil. Die Lehrerin kann schon durch ein leichtes Drehen ihres Kopfes das Gesichtsfeld entscheidend verschieben und sie kann darüber hinaus durch eine Veränderung ihres Standortes auch bis dahin uneinsichtige Winkel mit ihren Blicken ,ausleuchten‘. Will man nun, anders als in dem eben zitierten Beispiel, nicht die Blicke der Lehrerin auf sich ziehen, sondern etwas verbergen, dann ist ihr Blickverhalten (erst recht) genau zu beobachten:

Franny hält ihren Zettel noch immer in der Hand und versucht diesen an Leonie zu geben, was relativ schwierig ist. Sie beobachtet die Lehrerin genau und passt einen guten Moment ab. Nein! Das wäre beinahe schief gegangen. Sie zieht ihre Hand zurück. Etwas später schiebt sie sie langsam wieder zu Leonie. Diesmal dient der in der Mitte liegende MD-Player als Sichtschutz. Leonie übernimmt. Geschafft! (Hedda Bennewitz)

Die Blicke der Lehrerin lassen sich kontrollieren. Anhand der Beobachtung ihrer Kopfhaltung lässt sich ihr Gesichtsfeld recht genau abschätzen – man weiß also, ob man sich innerhalb oder außerhalb ihres Blickfeldes befindet. Bei den kontrollierenden Blicken der Lehrerin handelt es sich nicht um das Panoptikum Benthams, das vor allem durch die Beschreibungen Foucaults (1976) berühmt geworden ist und als Metapher für allgegenwärtige Beobachtung dient. Denn im Panoptikum ist der Beobachter den Blicken der Beobachteten verborgen und insofern immer zu fürchten. Demgegenüber ist die kontrollierende Beobachtung durch die Lehrerin selbst wiederum beobachtend kontrollierbar.
Es gibt im Klassenzimmer verschiedene Formen von Sichtschutz, hinter denen Aktivitäten vor den Augen der Lehrerin verborgen werden können. Die größte Sicherheit bietet jedoch die Synchronisierung des eigenen Verhaltens mit dem Blickverhalten der Lehrerin, d.h. den Zeitpunkt zu nutzen, zu dem man sich außerhalb ihres Blickfeldes befindet. Verbergen kann man auf diesem Wege allerdings, angesichts der angesprochenen Mobilität der Lehrerin, nur rasche kleine Aktivitäten wie etwa das Weitergeben eines Zettels, eine rasche Geste der Verständigung oder einige Worte in Fingersprache. Diese Aktivitäten tragen oft weniger subversiven als spielerisch-sportlichen Charakter. Es handelt sich um eine Art Räuber-und-Gendarm-Spiel. Es geht darum, die eigene Geschicklichkeit im Unterlaufen der kontrollierenden Blicke unter Beweis zu stellen.
Im folgenden Beispiel wird der Ethnograph als Sichtschutz einbezogen:

Jens meint: „Sie geben mir gute Deckung!“ und holt durch mich verdeckt etwas zu essen aus seiner Tasche. Die Lehrerin kündigt an, sie wolle jetzt die Aufgaben kontrollieren, Jens wählt aus seiner Brotdose ein Stück Apfel, er habe Hunger, kommentiert er halblaut.

Dass Jens hier mit „Deckung“ eine Metapher aus dem Bereich des Militärischen benutzt, ist nicht ganz zufällig: Das Spiel um das Verbergen, um Sichtbarkeit und Sichtschutz folgt einer Freund-Feind-Logik, die gerade den spezifischen Reiz des Spiels ausmacht.2

Fußnoten

(1) Vgl. zur „rituellen Bedeutung“ des Tafelbereiches Göhlich/Wagner-Willi (2001).

(2) Schülerverhalten in dieser Konstellation wurde als „Taktiken der versteckten Abwehr“ und als subversive Form der Selbsterhaltung in der „Zwangssituation“ des Unterrichts (Heinze 1976, S. 11) charakterisiert. Dieser Aspekt soll hier auch nicht in Abrede gestellt werden, die Beispiele dokumentieren jedoch durchaus auch den Spaß an der strategischen Ausweitung des Spiel-Raumes.

Literatur

Breidenstein, G./Kelle, H.: Die Schulklasse als Publikum. Zum Verhältnis von Peer Culture und Unterricht. In: Die Deutsche Schule 94 (2002), Heft 3, S. 318-329.

Foucault, M.: Überwachen und Strafen. Frankfurt a. M. 1976.

Heinze, T.: Untericht als soziale Situation. Zur Interaktion von Schülern und Lehrern. München 1976.

Göhlich, M. /Wagner-Willi, M.: Rituelle Übergänge im Schulalltag. In: Wulf, C. u.a. (Hrsg.): Das Soziale als Ritual. Zur performativen Bildung von Gemeinschaften. Opladen 2001, S. 119-204.

Mit freundlicher Genehmigung des Budrich Verlages.
http://www.budrich-journals.de/index.php/zqf

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