Autor/in:
Schulform:
Schlagworte:

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Die Schulklasse begrenzt die Möglichkeit des Unterrichts, die individuellen Aneignungsprozesse von Schülern aufzugreifen, nicht ohne Grund, sondern trägt damit zu einer wesentlichen Sozialisationsleistung des Unterrichts bei. Sie erzeugt dadurch die Struktur eines Unterrichtsgesprächs, das Schüler mit der Anforderung konfrontiert, sich grundsätzlich unter Einnahme einer am Allgemeinen orientierten Haltung ausschließlich auf einen für alle Schüler gleichen, vorgegebenen Themenfokus zu beziehen anstatt individuelle Interessen klassenöffentlich zu thematisieren. Indem Schüler diese Forderung verinnerlichen, lernen sie, sich angemessen gegenüber einer Allgemeinheit zu positionieren und eine Haltung einzunehmen, die eine allgemeine Voraussetzung für die Teilnahme an öffentlichen Diskursen ist.

Dies soll im Folgenden durch eine Analyse von Ausschnitten aus Unterrichtsprotokollen der 1. Klasse, der 4. Klasse und von Ausschnitten aus Unterrichtsprotokollen ab der 5. Klasse aufgezeigt werden (1). Es soll rekonstruiert werden, wie sich die Anforderung an Schüler, sich im Unterricht allgemein zu einem vorgegebenen Unterrichtsgegenstand zu äußern, im Laufe der Schulzeit durchsetzt, und wie die Verinnerlichung dieser Anforderung dazu beiträgt, Schüler in ein öffentliches Verhalten einzusozialisieren.

Die Ausschnitte, die für diese Rekonstruktion herangezogen werden, sind dabei solche, an denen die Entwicklung der Geltung der Regel, dass ein Wortbeitrag im klassenöffentlichen Unterricht mit einer Meldung angezeigt werden muss, abgelesen werden kann. Der Grund für die Wahl dieses empirischen Zugangs liegt darin, dass die unterrichtliche Melderegel der zentrale Mechanismus ist, durch den die Anforderung, dass im Unterricht nur allgemein zur Sache gesprochen werden darf, durchgesetzt wird.

Der nachstehende Ausschnitt aus einem Unterrichtstranskript einer 1. Klasse zeigt eine für diese Klassenstufe typische Interaktionsproblematik, an der sich erkennen lässt, dass die Geltung der Melderegel zu Beginn der Schulzeit noch äußerst instabil ist. Anstatt sich allgemein auf einen gemeinsamen Gegenstand zu beziehen, sind die Schüler vor allem mit ihren individuellen Anliegen und Gedanken beschäftigt, die sie immer wieder versuchen, spontan gegenüber ihren Lehrern zu äußern.

(A)
Lw: … gibt es noch eine Frage dazu /
Wayne: (unverständlich)
Marina meldet sich; Julian steht von seinem Platz auf und geht zur Lehrerin.
Lw: das ist ganz unterschiedlich \ achtet bitte sehr darauf wenn ihr euch das holt \ Julian setzt dich hin wenn eine Frage gibt zeig auf \
Franzi: aber ich hab doch nicht noch nicht den fünften fertig
Lw: Leute / wer ne Frage hat zeigt bitte auf \ Nicole \
Marina: nimmt den Arm wieder runter

Der Aspekt, auf den es hier in dieser keinesfalls außergewöhnlichen, sondern eher typischen Unterrichtsszene vor allem ankommt, besteht in einer eigentümlichen Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Situationsdefinitionen der Schüler und der Lehrerin, die zu einem Konflikt um ein spezifisches Merkmal des unterrichtlichen Interaktionsraums führt – nämlich der Frage der Legitimität des spontanen, also unangemeldeten Ergreifens des Rederechts im Unterricht .(2) Die Lehrerin adressiert die Schüler so, als sei das Prinzip, dass eine klassenöffentliche Äußerung nur dann erlaubt ist, wenn ein Schüler sich zuvor gemeldet hat und „drangenommen“ wurde, bereits allgemein akzeptiert – der Ausruf Leute stellt ja lediglich eine Erinnerung, nicht eine Einführung der Melderegel dar. Die Schüler dagegen befolgen die Melderegel tatsächlich noch äußerst instabil. In dem Protokollausschnitt zeigt sich dies besonders deutlich bei dem Schüler Julian, der in einer Unterrichtssituation, in der die Lehrerin offenkundig eine Meldung erwartet, einfach aufsteht und wegen eines individuellen Anliegens zu ihr geht. Aber auch die Schülerin Franzi, die sich spontan, ohne vorher drangenommen worden zu sein, äußert, hält sich nicht an die kurz zuvor noch einmal gegenüber Julian bekräftige Melderegel und ruft dementsprechend sofort eine etwas entnervte allgemeine Ermahnung der Lehrerin an die Schüler hervor, sich vor einer Wortmeldung doch bitte zu melden. Die Schülerin Marina dagegen befolgt die von der Lehrerin erwartete Melderegel – allerdings um den Preis, dass nicht sie, sondern ihre Mitschülerin Nicole ihr Anliegen vorbringen darf.

Auf theoriesprachlicher Ebene können die unterschiedlichen Erwartungen der Lehrerin und der Schüler als ein Aufeinanderprallen einer universalistisch-institutionellen Handlungsorientierung auf Seiten der Lehrerin und einer partikular-familialen Handlungsorientierung auf Seiten der Schüler verstanden werden. Versucht die an universalistischen Handlungsprinzipien orientierte Lehrerin (Leute / wer ne Frage hat zeigt bitte auf \) qua Melderegel das Prinzip der Gleichbehandlung aller Schüler im Unterricht durchzusetzen, versuchen die Schüler noch mit ihrem partikular-familialen Handlungsrepertoire die Aufmerksamkeit der Lehrerin auf sich zu ziehen. (3)

Der zentrale Konflikt bezüglich der Frage der Geltung der Melderegel besteht in der 1. Klasse nun genau darin, dass es Lehrern überhaupt erst einmal gelingen muss, die Melderegel durchzusetzen, um so dem Ansturm der nach partikular-familialen Muster vorgebrachten individuellen Anliegen der Schüler Herr zu werden. Dement- sprechend finden sich in Unterrichtsprotokollen der 1. Klasse beständig Ermahnungen der Lehrer an die Schüler, sich zu melden. Hier drei Beispiele solcher Ermahnungen aus drei unterschiedlichen Unterrichtsprotokollen der 1. Klasse:

B)
Lw: Leute / wer ne Frage hat zeigt bitte auf \
{Gemurmel in der Klasse, einzelne Schüler reden durcheinander}
Lw: Bitte nur mit melden sprechen (.) so (.) fangen wir mit dem an, was wir
gestern gemacht haben (.) SwE

C)
Lw: Genau. Könnt ihr noch mal aufzählen? Was war zuerst da?
S?“ [()]
Lw: Pssst. Bitte melden. SwS?
SwS: Zwei Äpfel.

D)
Sm3: Wie schreibt man noch Angst /

Pw(4): Was kommt denn nach dem A /(..) Was kommt nach dem A /
Sm3: F wie bei Feder
Pw: Nee, bei Angst / {Zu einem anderen Schüler, der auf sie zugeht} >Setz Dich mal bitte hin und melde Dich< (..) A-n-g-s-t

Die Durchsetzung der Melderegel im Unterricht ist nun deshalb ein fundamental notwendiger Vorgang, weil ein klassenförmiger schulischer Unterricht eine soziale Praxis ist, die durch ein für alle verbindliches Aufmerksamkeitszentrum gekennzeichnet ist. Und eine soziale Praxis, die von den an ihr Beteiligten verlangt, ihre Aufmerksamkeit auf eine kollektiv verbindliche thematische Mitte zu fokussieren, kommt ab einer gewissen Gruppengröße nicht umhin, die Regeln des natürlichen Turn-Takings durch ein geregeltes Verfahren der Rederechterteilung zu ersetzen – und eben dies leistet im schulischen Unterricht die Melderegel. (5)

Insofern nun das Melden – nicht nur im schulischen Kontext – unmittelbar auf eine soziale Praxis mit einer Mitte verweist, bedeutet die Einforderung der Melderegel von Schülern in der 1. Klasse, von diesen eine Haltung zu verlangen, die ihre bisherige familiäre soziale Orientierung übersteigt. Denn das diffuse Interaktionsgeschehen in Familien kennt kein für alle Familienmitglieder verbindliches thematisches Zentrum. Das soziale Arrangement der Schulklasse führt also im Zusammenhang mit der Melderegel eine neuartige Anforderung für die Schüler auf der Ebene der Organisation ihrer Aufmerksamkeit ein. Die Ermahnungen in Richtung der Schüler, sich zu melden, bevor sie etwas äußern, fordern also nicht einfach Disziplin um seiner selbst willen ein, sondern markieren den Beginn eines schulischen Sozialisationsprozesses, in dem von Schülern permanent verlangt wird, sich an einem vorgegebenen Gegenstand und nicht etwa an dem, was sie gerade individuell beschäftigt, zu orientieren. Der Zentriertheit des sozialen Arrangements der Schulklasse entspricht im individuellen Schüler einer Orientierung am Allgemeinen des Unterrichts, die es im Laufe der Schulzeit zu verinnerlichen gilt.

Selbstverständlich stellt die Forderung, die Aufmerksamkeit im Unterricht aus- schließlich auf einen kollektiv vorgegebenen Gegenstand zu richten, in der 1. Klasse noch eine systematische Überforderung dar, weshalb es eine wahre Sysiphusarbeit für Grundschullehrer darstellt, die Melderegel gegenüber spontan sich mit individuellen Einfällen zu Wort meldenden Schülern immer wieder aufs Neue anzumahnen. Und selbst wenn Schüler sich schließlich an die Melderegel halten, wodurch als Teilsieg erreicht wird, dass immerhin zu einem Zeitpunkt immer nur ein Schüler einer Klasse im Unterricht zu hören ist, bedeutet dies noch lange nicht, dass die anderen Schüler dessen Ausführungen tatsächlich zuhören. Im Gegenteil: Der erste Erfolg der Durchsetzung der Melderegel ist nicht die Etablierung eines allgemeinverbindlichen thematischen Fokus, sondern einfach eine lange Kette nicht aufeinander bezugnehmender Schüleräußerungen. Dies zeigt sich eindrucksvoll in sogenannten Erzählkreisen, in denen Schüler, ohne aufeinander Bezug zu nehmen, von sie persönlich besonders beeindruckenden Erlebnissen berichten. Zwar versuchen Lehrer in diesen Erzählkreisen häufig Aspekte der Geschichten der Schüler auf eine allgemein bedeutsamere Ebene zu heben, doch ziehen die Schüler dabei noch nicht mit. Das Allgemeine des Unterrichtsthemas wird von den Schülern vielmehr einfach an ihre egozentrische Weltsicht assimiliert, und damit eben seines allgemeinen Charakters beraubt.

Doch auch wenn von einer inhaltlichen Orientierung an einem Allgemeinen in der 1. Klasse noch keine Rede sein kann, wird immerhin mit der Durchsetzung der Melderegel schon einmal das formale Gerüst einer Interaktionsstruktur geschaffen, die durch ein an einem allgemeinverbindlichen Thema orientierten Unterrichtsgespräch gefüllt werden kann und in höheren Klassenstufen, wie noch zu zeigen sein wird, auch gefüllt wird. Indem Lehrer die Einhaltung der Melderegel einklagen, eröffnen sie mitten im Durcheinander der thematisch unverbundenen Wortbeiträge der Schüler den Raum für ein kollektives Aufmerksamkeitszentrum. Das durch die Melderegel erzwungene Schweigen der Klasse hebt die Äußerungen des jeweils „drangenommenen“ Schülers, wenn zwar noch nicht als thematisch verbindliches Zentrum, so doch zumindest als akustisches Aufmerksamkeitszentrum der Klasse hervor. Das durch die unverbunden vorgebrachten individuellen Anliegen entstehende Kommunikationschaos weicht so langsam einem geordneten Unterrichtsgespräch zwischen einem Lehrer und jeweils einem legitimiert sprechenden Schüler, an dem alle jeweils nicht drangenommenen Schüler qua erzwungener Zuhörerschaft teilnehmen.

Diese Interaktionsstruktur ist der Ausgangspunkt dafür, dass die Anforderung, dass Wortbeiträge sich im Unterricht auf einen kollektiv vorgegebenen Gegenstand zu beziehen haben, sich in den folgenden Klassenstufen durchsetzen kann.

Fußnoten:

(1) Die für die vorgestellte Untersuchung analysierten Unterrichtstranskripte wurden sämtlich aus dem von Prof. Andreas Gruschka an der Universität Frankfurt am Main ins Leben gerufenen APAEK-Archiv bezogen. Dieses Archiv enthält eine umfangreiche Sammlung von verschiedensten Protokollen der schulischen und unterrichtlicher Realität, die der rekonstruktionslogisch orientierten Schul- und Unterrichtsforschung als Datenbank zur Verfügung gestellt wird. Für die außerordentlich großzügige Zugriffsmöglichkeit auf dieses Archiv sei Herrn Gruschka an dieser Stelle herzlich gedankt!

(2) Typologisch interessant ist selbstverständlich nicht der konkrete oberflächliche Verlauf der Interaktion, sondern die sich in den unangemeldeten Wortbeiträgen ausdrückende Haltung der Schüler zum klassenöffentlichen Unterrichtsgespräch. Dies gilt auch für alle im Folgenden präsentierten Ausschnitte aus Unterrichtstranskripten, die nicht unbedingt typisch sind, was ihre Oberflächengestalt anbelangt. Vielmehr dient die selektive Auswahl an Ausschnitten dazu, strukturell Typologisches der jeweiligen Klassenstufen herauszuarbeiten und zu veranschaulichen.

(3) In einem gewissen Sinne kann der Unterrichtsausschnitt damit als eine empirische Konkretion des von Andreas Wernet in Anschluss an Talcott Parsons herausgearbeiteten gegensinnig konstellierten Musters der Handlungsorientierung in Familie und Schule verstanden werden (Wernet 2003: 93).

(4) Bei Pw handelt es sich um eine Praktikantin.

(5) Hier soll natürlich nicht die Existenz so genannter „offener“ Unterrichtformen geleugnet werden. Der Grund, weshalb diese dezentrierten unterrichtlichen Settings jedoch nicht in diese Betrachtung mit einbezogen werden, liegt daran, dass ein offener Unterricht, genau genommen, das soziale Arrangement der Schulklasse überflüssig macht, es sich also nicht um einen klassenförmigen Unterricht im engeren Sinne handelt. Von einer Schulklasse kann in offenen Unterrichtssituationen ja nur in einem organisatorisch-bürokratischen Sinne gesprochen werden, nicht aber im Sinne einer spezifischen Gemeinschaft von Schülern, die zur Ausbildung einer Klassenöffentlichkeit fähig ist. Die angemesseneren Bezeichnungen für die sozialen Arrangements dezentrierter bzw. „offener“ Unterrichtssituationen, die an die Stelle der Schulklasse treten, sind dementsprechend eher z.B. die sogenannten „Lernbüros“ oder „Lernwerkstätten“.

Literaturangabe:

Wernet, A. (2003): Pädagogische Permissivität, Opladen

Nutzungsbedingungen:
Das vorliegende Dokument ist ausschließlich für den persönlichen, bzw. nicht-kommerziellen Gebrauch bestimmt – es darf nicht für öffentliche und/oder kommerzielle Zwecke außerhalb der Lehre vervielfältigt, bzw. vertrieben oder aufgeführt werden. Kopien dieses Dokuments müssen immer mit allen Urheberrechtshinweisen und Quellenangaben versehen bleiben. Mit der Nutzung des Dokuments werden keine Eigentumsrechte übertragen. Mit der Verwendung dieses Dokuments erkennen Sie die Nutzungsbedingungen an.