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Falldarstellung

Thomas Fischer(1) hat Musik und ein philologisches Fach studiert und ist heute als Studienrat an einem Gymnasium tätig. Über seine Einsozialisierung in die traditionelle Welt der Musik erzählt er folgendes:

Da ich selbst also auch vom Elternhaus eigentlich nich’ eh’ im Bereich der ernsten Musik vorbelastet bin, und auch während des Studiums da eigentlich kaum Zugang zu gehabt hab; auch nie eigentlich in Sinfoniekonzerte, geschweige denn in die Oper gegangen bin, abgesehen von vereinzelten eh’ eh’ Kon- Ereignissen, wo man halt mitgeschleppt worden is’, ja, ehm (.) war das für mich eigentlich schon auch nich’ so das Hauptthema (7, 25ff).

Als jugendlicher interessierte er sich hauptsächlich für Rock- und Popmusik. Das Fach Englisch, das er nach dem Abitur zum Studium der Schulmusik hinzunimmt, verweist auf seine Musikpräferenzen, die sich vor allem an anglo-amerikanischen Musikstilen orientieren. Nach dem Ersten Staatsexamen ist er zunächst unsicher, ob der Schuldienst überhaupt die richtige Berufswahl für ihn darstellt. Er versucht, eine Karriere als Rockmusiker zu starten, kauft sich von ererbtem Geld Musikinstrumente und Studiogeräte, schreibt Songs und macht Musikaufnahmen. Da es ihm aber nicht gelingt, auf dem Musikmarkt Fuß zu fassen (Der Durchbruch hat irgendwie net sein sollen, 4, 12)(2), schließt er nach längerer Unterbrechung doch noch sein Lehrerstudium mit dem Referendariat ab und wird kurze Zeit später einem Traditionsgymnasium zugewiesen.

Auch die Lehrerin Regina Nau – sie unterrichtet die Fächer Musik und Englisch an einer Gesamtschule – ist schon von Kindheit an mit dem Genre der Schlager- und Popmusik vertraut. Als Mitglied einer Rockmusik-Band hat sie seit ihrer Studienzeit umfangreiche Erfahrungen bei Bühnenauftritten gesammelt (In ’ner Rockband zu spielen und auf ’ner Bühne zu sein, war eigentlich mein Traum). Auch heute ist es für sie immer noch ein Erlebnis, auf einer Bühne zu stehen und das Publikum durch ihre Musik zu beeinflussen (Wenn man ‚was Schnelles spielt, fangen sie an zu toben, wenn man was Romantisches spielt, dann werden de alle ganz sentimental. 15, 33 f.). Diese Gegenerfahrung zu ihrer Rolle als Schulmusiklehrerin möchte sie nicht missen, weil sie das Gefühl hat, auf diese Weise ihr Selbstbewußtsein zu stärken und im Unterricht lockerer und lustiger sein zu können:

Vorher war ich so ein bißchen gedrückt manchmal und hatte das Gefühl es läuft alles nicht, und ich habe es schleifen lassen … Durch diese Band habe ich mich etwas verändert und da hatte ich irgendwie bessere Ideen, so. Die flogen mir dann zu, ne‘. (876 ff.)

Beide Musiklehrkräfte bemühen sich in ihrem Unterrichtsalltag, auf ihre Adressaten einzustellen und deren jeweils besondere Situation zu berücksichtigen. So konstatiert Thomas Fischer, daß seine SchülerInnen auch manchmal ihren Streß haben oder aus anderen Gründen einmal nicht in der Lage sind, sich über ’n längeren Zeitraum zu konzentrieren, weil sie bspw. vorher ’ne Arbeit geschrieben [haben] oder so (8, 26 ff.); und Regina Nau erprobte sich schon während ihrer Referendarsausbildung in Strategien schülerorientierender Perspektivenübernahme, indem sie beispielsweise ein ihr vorgegebenes Lehrprobenthema folgendermaßen hinterfragte:

Die Zeiten hatten sich geändert, und da war’n bißchen was los an den Schulen. Und da kannte man eigentlich nich‘ mehr so, wie in [Name der Musikhochschule] gearbeitet wurde, so ganz konservative Inhalte bringen, hab‘ ich mir gedacht, das is‘ völlig unmöglich, das kannst du nich‘ machen. (6, 20 ff.)

Um ein lebendiges und lernintensives Klima herzustellen, versucht sie, an die musikalischen Ausdrucksformen ihrer SchülerInnen anzuknüpfen und sie dazu an[zu]halten, irgendwelche kleinen Sachen [zu] produzieren, Stücke oder Tonreihen oder ein Bild oder irgendwas, daß sie was zu tun haben(1081 f.). Obwohl sie offensichtlich über ein breites Repertoire handlungsorientierter Unterrichtsansätze verfügt (,PlaybackSingen‘ oder pantomimischer Nachvollzug des Auftritts von Rockmusikgruppen) und sich bei der Auswahl der Musikstücke wirklich Mühe gebe – bspw. so mit Sisteract, so ’n paar Sachen oder aus Cats Memory – sei sie sich jedoch nie sicher, ob sie bei ihren SchülerInnen auf Zustimmung stoße. In ihrem Kurs ‚Rock- und Popmusik’, der nach ihrer Erfahrung eigentlich immer ganz, gut geht, habe sie sich kürzlich sogar Schülerkommentare folgender Art anhören müssen:

„Öh, können wir nicht mal was anderes machen als immer dieses öde Zeug was Sie hier, spielen, dieses uralte von vor hundert Jahren?“ (382 f.)

Auch Thomas Fischer hat seine ursprüngliche Annahme, SchülerInnen mit der Behandlung von Rock- und Popmusik einen Gefallen zu tun, inzwischen revidiert:

Ich hab‘ im Unterricht immer (.) Rock und Pop als Thema der achten Klasse, weil das ja so’n Alter is’, wo sie doch ziemlich schwierig sind, weil die Jungs net mehr so gut singen können wegen Stimmbruch, und da ham’ wir also Bluesschema und eh’ verschiedene, Instrumente, Schlagzeug, Rockpatterns, auch’n bißchen praktisch das gemacht (Mhm). Aber das hat man dann, das hab‘ ich dann drei, vier Ma‘ durchgekaut, ja, und da hab‘ ich, hatt’s mir selbst irgendwie gelangt immer. Und (.) hab’ auch so’n bißchen die Erfahrung gemacht, daß eh’ das eigentlich ’n Thema is’, wo die Schüler eh‘ schon Experten sin’,ne. Jetzt sagen manche gehässigen Kollegen, wo sie glauben, sie seien Experten. Mag sein, aber die sind alle net so dran interessiert, ihre Lieblingsmusik dann da größer auseinander Zu nehmen; ich denk’, das muß auch net sein (7, 22 f.).

In den Erzählungen beider Lehrkräfte deutet sich an, daß ihnen die inhaltliche Ausrichtung des Musikunterrichts an der Herstellung geordneter Sinnzusammenhänge, der Analyse und Strukturierung von Musikstücken, der Behandlung der Instrumente oder eines bestimmten Sounds etc. nicht ausreicht; anscheinend sind für sie ästhetische Erlebnisdimensionen nicht ohne weiteres didaktisierbar. Statt dessen versuchen sie, den Medienarrangements ihrer SchülerInnen im Musikunterricht breiten Raum zu geben und ihnen Möglichkeiten zum gemeinsamen Musizieren im Klassenverband oder in einem Schulensemble einzuräumen. Thomas Fischer macht dabei folgende Erfahrungen:

Bin ich da als Sänger eingestiegen. Und als deren Gitarrist dann gegangen ist, da hab’ ich dann die Gitarre übernommen. Hab‘ gesungen und Gitarre gespielt, aber hab’ das wohl alles auch ein bißchen sehr dominiert und (.) mit dem Ergebnis, daß nach zwei sehr erfolgreichen ehm Konzerten in der Schule und einer Teilnahme an nem Nachwuchswettbewerb, bei dem wir -zumindest in die Endausscheidung gekommen sind, aber den Hauptpreis ham’ wir net gemacht. Aber immerhin, ne. Schon ganz schön eigentlich, aber de ham’ mich halt dann irgendwie, dann doch mir gesagt, daß ihnen mein Gesang nich‘ gut genug erscheint und sollt’ nur noch Gitarre spielen. Sag’ [ich]: „Entweder ich sing‘ und spiel‘ Gitarre oder mach‘ gar nichts bei euch“. Bin ich dann gegang’. Na ja, und dann war das erst mal gegessen (7,1 ff.).

Im Rückblick gesteht er zwar selbstkritisch ein, damals wohl alles auch ’n bißchen sehr dominiert zu haben (7, 3 f.). Ob sein Gesang möglicherweise den Gewinn des Hauptpreises verhinderte, und die SchülerInnen seine Rolle in der Band zurecht auf las Instrumentalspiel beschränkten, sei dahingestellt. Wichtiger erscheint mir vielmehr, daß sich infolge des ‚verpaßten Sieges’ die Kritik der SchülerInnen auf den Lehrer konzentrierte und seine musikalischen (Gesangs-) Beiträge anscheinend als teilweise deviant zu ihrem eigenen ästhetischen Musikempfinden interpretiert wurden.

Unter dieser Prämisse verweist der Ausstieg von Thomas Fischer aus der Schülerband zugleich auf das Kernproblem der paradoxalen Interaktionsbeziehung im schulischen Musikunterricht, dem auch Regina Nau begegnet. Sie erzählt, daß sie als Leiterin einer Schulband von ihren SchülerInnen, die halt selber ihre genauen Vorstellungen haben, gerade noch als Organisatorin geduldet werde, um die Instrumente bereitzustellen:

„Na ja“, habe ich gesagt. Und dann habe ich dann… Ich habe sie dann in Ruhe gelassen, habe ich gesagt: „Dann macht ihr alleine. Ich mach‘ gar nichts, ich setze mich da hinten hin, lese Zeitung, ihr übt. Ich bin hier nur als Aufsicht.“ (269 ff.)

Generationsüberbrückende musikalische Sinnhorizonte lassen sich selbst im außerunterrichtlichen AG-Bereich nur bedingt herstellen; die Toleranzschwelle der SchülerInnen wird offensichtlich schnell überschritten und das Angebot ihrer Lehrkräfte zur gemeinsamen musikalischen Betätigung weitgehend abgewehrt. Frau Nau führt diese Interaktionsprobleme auf den Gegenstand Musik als ein hochgradig affektiv besetztes Medium zurück, das sich insbesondere im schulischen Kontext kaum für den Aufbau eines kooperativen Arbeitsbündnisses zwischen LehrerInnen und SchülerInnen zu eignen scheint:

Musik is’n Fach, wo du deine Gefühle äußern kannst, wo du deine Emotionen loslassen kannst, wo du einfach auch en‘ bißchen eh‘ offener rangeben kannst, ja und deswegen kriegt man auch, wenn man das nich‘ geschickt anpackt, kriegt man manchmal da unheimlich Probleme mit, ne‘. Weil, man muß ja auch trotzdem auf der andern Seite in seiner Lehrerrolle noch bleiben, ja, also man darf ja nich’ eh die Grenzen überschreiten in Richtung Kumpanei mit Schülern, wie das auch viele machen. Also, die Schüler dann so quasi benutzen, ja, jetzt spielt mal schön, wir ham‘ en’ Konzert.

Ich fasse zusammen: Offensichtlich können LehrerInnen, die sich darum bemühen, eine Verbindung zu den musikalischen Handlungs- und Aneignungsmustem heutiger Schülergenerationen und ihren je individuellen Medienarrangements herzustellen, aufgrund der unabsehbaren und nicht planbaren Interaktionsdynamik im Spannungsfeld pluraler Sinnwelten und kultureller Wandlungsprozesse nie zuverlässig vorhersagen, ob ihre unterrichtlichen Angebote bei den SchülerInnen ,ankommen’.

Vor dem Hintergrund des Habitus-Konzepts von Bourdieu, nach welchem der Musikgeschmack „eine der am tiefsten verwurzelten Geschmacksformen“ ist und deshalb auch eine hervorragende Stellung bei der Etablierung von „Abneigung gegenüber anderen Lebensstilen“ (Bourdieu 1993, S. 148) erhält, deuten sich hier weitreichende Konsequenzen für das Musiklernen in der Schule an, denen an dieser Stelle jedoch lediglich mit einigen Hinweisen auf mögliche Bearbeitungsstrategien auf Seiten der Lehrkräfte nachgegangen werden kann.

Bearbeitungsstrategien und professionstheoretische Überlegungen

Die im vorhergehenden Abschnitt aufgezeigten paradoxalen Interaktionsbeziehungen, denen Lehrkräfte begegnen, wenn sie die Öffnung ihres Unterrichts zu den individual-spezifischen Sinnwelten ihrer SchülerInnen anstreben, werden von ihnen in ganz unterschiedlicher Weise bearbeitet.

So versucht Frau Nau eine professionelle Distanz zu ihren SchülerInnen aufzubauen (Man muß ja auch trotzdem auf der andern Seite in seiner Lehrerrolle noch bleiben), die den Grenzen der Öffnung von Unterricht Rechnung trägt und in den Aufgaben des Lehrermandats und der damit korrelierenden Asymmetrie des Lehrer-Schüler-Verhältnisses begründet ist. Die Balanceakte zwischen ihrem hoheitsstaatlichen Auftrag zur Erfüllung der Lehrpläne einerseits und der Förderung eigenständiger Lemprozesse und musikalischer Kompetenzen der Heranwachsenden auf der anderen Seite sind für sie mit aufwendigen Anstrengungen verbunden, denen sie sich – trotz der Dynamik globalisierter Musikkulturen, die sich als Symbolfiguren der fortgeschrittenen Moderne fast unbegrenzt steigern – offenbar immer wieder unterzieht:

[Musik-] Stücke suchen, durchhören, mit ihnen durchhören; gucken, was geht, was ist machbar? Was können sie? Was vollen sie gern, aber können sie nicht? Was können sie, aber hört sich nicht gut an? Was hört sich gut an und können sie? (256)

Auch für den Lehrer Thomas Fischer ist immer alles sehr ambivalent, was er in seinem Musikunterricht erlebt: Einerseits versucht er, durch kleinschrittige Planung und forcierte Unterrichtsgestaltung gute Stunden zu halten, wobei er offenbar berücksichtigt, daß die Schüler nich’ wollen (Das is ja grad’ der Trick dabei, ne, daß man die methodisch halt packt, ne). Andererseits hat er das Gefühl, daß Unterricht auch ein bißchen eben Glücksache ist (hängt‚’en bißchen von der Tagesform ab, wenn man halt gut drauf is’, wie die Schüler drauf sind, das kommt auch noch mit hinzu, 6, 14 ff.). Die hier aufscheinende Paradoxie birgt die Chance in sich, daß Herr Fischer durch methodische Tricks und durch seine persönliche Ausstrahlung das Ruder immer wieder herumwerfen kann; jede erneute Begegnung von Lehrer und SchülerInnen beinhaltet auch die Chance der Neugesaltung der Beziehungs- und Unterrichtsarbeit. Unter dieser Prämisse scheint Thomas Fischer Erwartungsdiskrepanzen und Frustrationserlebnisse in seinem Schulalltag besser aushalten zu können. Darüber hinaus hat er eine von institutionellen und fachspezifischen Zwängen befreite Vision entwickelt, die zugleich als Trosthandlungs-Schema und Leitmotiv für seinen Unterricht fungiert:

Der Mensch lebt ja net nur vom Brot allein, auch net nur von der Wissenschaft; sondern die Kunst gehört halt auch mit dazu, einfach, um halt auch eh den Horizont mal in ,ne ganz andere Richtung Zu öffnen, ne. … Man muß halt auch das Genießen lernen, denk‘ ich, und das is‘ halt somit ’ne Aufgabe des Musikunterrichts. (96, 5ff.)

Die Öffnung des Musikunterrichts in eine von vornherein nicht bestimmbare, emergenzträchtige Zielrichtung führt – wie wir gesehen haben – zu Problemstellungen, die vielfältige Balanceakte von den betroffenen Lehrerinnen erfordern. Dazu gehören u. a.:

– das Zulassen pluraler Sinnwelten innerhalb institutionsbedingter Grenzen;

– die Aneignung eines breit gefächerten Handlungsrepertoires, das entsprechend der situativen Gegebenheiten flexibel variiert werden kann;

– die Entwicklung eines soziologischen Blicks auf die eigene Lehrerrolle und auf das damit verbundene Mandat;

– das Kennenlernen der eigenen Grenzen und ein dementsprechend transparentes Lehrerhandeln bei gleichzeitiger Zulassung entgrenzter Phantasien über individuelle Ansprüche an die eigene Lehrerrolle und die Symbolgehalte des eigenen Fachs;

– der notwendige Rückhalt im Kollegium (Aufbau kollegialer Stützsysteme), um stets einen Neubeginn und damit auch eine Neudefinition des eigenen Rollenprofils wagen zu können.

Fußnoten:

(1) Die Namen wurden aus Anonymitätsgründen maskiert.

(2) Die kursiv gesetzten Teile sind Zitate aus den erhobenen Interviews; die Ziffern verweisen auf die entsprechenden Seiten und Zeilen.

Literaturangabe:

Bourdieu, P. (1982): Die feinen Unterschiede. Frankfurt/M

Mit freundlicher Genehmigung des Leipziger Universitätsverlages
http://www.univerlag-leipzig.de/article.html;article_id,353

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