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Falldarstellung

[zitiert nach Clyne, M.B. (1969): Schulkrank? Schulverweigern als Folge psychischer Störungen. Stuttgart]

Lilian WA, 6 Jahre alt. Frau WA suchte mich mit ihrer Tochter Lilian auf und sagte, Lilian habe über Leibschmerzen geklagt, weigere sich zu essen und weine in letzter Zeit viel (an dieser Stelle fing Lilian zu weinen an). Frau WA fügte hinzu, der Hauptgrund, warum sie Lilian zu mir bringe, sei der, daß Lilian nicht zur Schule gehen wolle. Lilian war mit einer kleinen Freundin zur Schule gegangen. Vor ein paar Tagen aber, als ihre Abneigung gegen den Schulbesuch stärker geworden war, hatte Frau WA Lilian zur Schule gebracht: Am Schultor hatte Lilian zu weinen angefangen und konnte nur mit viel gutem Zureden so weit gebracht werden, die Schule zu betreten. Als Lilian nach der Schule heimkam, sagte sie zu ihrer Mutter: „Es war gut, daß du mich hingebracht hast; ich fand es trotz allem ganz nett.“
Unser Gespräch ging um die Schwierigkeiten, die Kinder haben, wenn sie ihre Mütter verlassen müssen.
Ungefähr acht Monate nach dem ersten Gespräch bekam Frau WA ein Baby. Lilians Schul­schwierigkeit muß zur Zeit der Konzeption dieses Kindes entstanden sein (eine nicht seltene Beobachtung). Hätte ich damals an die Möglichkeit einer Schwangerschaft bei der Mutter gedacht, hätte ich ganz bestimmt das Baby-Thema zur Sprache gebracht und gefragt, wie Lilian darüber denke. Ich war erstaunt gewesen, warum Lilians Schulverweigern gerade zu diesem Zeitpunkt einsetzte. Schließlich war sie ein Jahr lang ohne Schwierigkeiten zur Schule gegangen. Aber wie das so oft passiert, weder Mutter noch Kind gaben ihre Geheimnisse preis. Alles, was Frau WA mir gesagt hatte, war, daß sie selbst in letzter Zeit deprimiert und reizbar gewesen sei. Jedenfalls schien unser Gespräch über die Ängste von Müttern und Kindern vor dem, was dem anderen passieren könnte, während sie voneinander getrennt sind, und die Beruhigung, die Lilian dadurch empfand, daß sie ihre Ängste offenbaren konnte, hilfreich gewesen zu sein.“

Interpretation

Wie dieses Beispiel zeigt, müssen wir bei der Schulverweigerung zunächst eine Beziehungsstörung vermuten, die oft durch die Angst um das Wohlergehen des anderen ausgelöst wird. Lilian hatte Angst um ihre Mutter bei der Trennung vor der Schule. Diese Angst konnte ausgelöst worden sein, durch die Schwangerschaft ihrer Mutter. Damit kann auch die Angst vor einem Verlust der eigenen Rangordnung in der Familie zusammenhängen: Lilian könnte glauben, dass sie nicht mehr so viel gelte, wenn ein Geschwisterchen da ist. Wenn Clyne in dem Beispiel den Grund seines Erfolgs bei Lilian in der Möglichkeit, die Ängste zu offenbaren, sah, dann scheint mir das ein bisschen wenig zu sein. In Wirklichkeit geschah nämlich in diesen Gesprächen wesentlich mehr: es wurde der Geist des Mädchens angesprochen, es wurde ihm ein Ausweg gezeigt, wie es wieder zu sinnvollen, werterfülltem Leben finden könnte. Mit Hilfe dieses Ausblicks konnte sie die Situationen nach dem Gespräch meistern: die Entbindung, die Aufnahme des Kindes in der Familie und die Bereitschaft, wieder in die Schule zu gehen.

Also: wir müssen unser Augenmerk auf Wege lenken, die dem schulverweigernden Kind zeigen, wie es in seiner eingegrenzten Beziehungsfähigkeit dennoch Sinn findet. Clyne hat mit seinem Gespräch „Glück“ gehabt; Lilian hätte aber genauso gut weiterhin die Schule verweigern können.
Für Lehrer, die wesentlich intensiver mit dem Kind in Kontakt treten können als der Arzt (z.B. Clyne), lassen sich die folgenden Anmerkungen machen. Ich wähle aus dem Leitfaden (Punkt 6) nur die zentralen Aspekte aus, weil er im vorigen Beispiel ausführlich konkretisiert worden ist.

Da ich bereits die wichtigsten Eingrenzungen Lilians in Anlehnung an Clyne genannt habe, möchte ich sie bewerten. Aus der Sicht der Mutter sind die Eingrenzungen (Lösung von Mutter; Geburt eines Geschwisterchens) unumgänglich und sinnvoll.
Aus der Sicht des Kindes jedoch ist die Lösung von der Mutter zunächst sinnlos und wird erst später – rational nachvollzogen – als sinnvoll deklariert. Dem Kind erscheint es sinnlos, eine Beziehung zu dem Geschwisterchen aufnehmen zu müssen, obwohl es das Geschwisterchen nicht wollte. Die durch die Schwangerschaft der Mutter verur­sachten Eingrenzungen des Kindes sind jedoch unumgänglich.
Die vom Kind erlebten Eingrenzungen wirken sich vor allem in der emotionalen Dimension aus: Lilian hat Angst, die Liebe der Mutter zu verlieren. Die erwähnten Symptome haben die Funktion, die Mutter an sich zu binden.
Die Eingrenzungen in der emotionalen Dimension wirken auf die geistige Dimension. Das Kind hat Mühe, Sinn- und Wertverwirklichungsmöglichkeiten zu sehen. Seine Schuldgefühle können sich zu einer Neurose auswachsen. In der kognitiven Dimen­sion können sich Wissenslücken einstellen, weil sich das Kind mit vielen anderen Problemen beschäftigen muss. Unsicherheit, Angst, Sorgen und Erregungen wirken sich belastend in der emotionalen Dimension aus. Und in der physischen Dimension sind Essensstörungen genannt worden, die zu Abmagerung, diese wiederum zum Kräfteschwund, zu Müdigkeit und rascher Erschöpfung führen.

Welche gezielten Hilfen stehen dem Lehrer zur Verfügung?
Da die Eingrenzungen nicht ungeschehen gemacht werden können, sind sie zu ertragen. Die vom Kind geäußerten Befürchtungen jedoch werden ausgeräumt. So kann der Mutter angeraten werden, dass sie ihr Kind in die Arme nimmt, es beachtet, sich um es kümmert, bei seinen Hausaufgaben hilft u.a.m. Damit erlebt es, dass die Liebe der Mutter zu ihm trotz der Schwangerschaft nicht geringer wird. Zu diesem Zweck sollte der Lehrer erlauben, das Kind einige Tage zu Hause zu belassen. Hierbei muss er jedoch sicherstellen, dass daraus dem Kind keine schulischen Nachtei­le erwachsen: es wird von Klassenkameraden unterrichtet, darüber was durchgenom­men wurde, wie die Hausaufgabe lautet. Auch der Lehrer kann sich gelegentlich um das Kind kümmern. Damit das Kind sein Schicksal ertragen lernt – und insofern Einstellungswerte verwirklicht – wird vom Lehrer eine Existenzanalyse durchgeführt. (Vgl. Frankl) Hier wird dem Kind klar gemacht, welche Möglichkeiten es hat, in seinem eingegrenzten Leben Sinn zu finden. Der Lehrer wird ihm mitteilen, dass es im Leben darauf ankommt, auch einmal nachzugeben, Unabänderliches zuzulassen, Ja zum Geschwisterchen zu sagen; denn dieses werde ja auch nicht gefragt, ob es kommen möchte oder nicht. Und das Baby braucht Hilfe, die es ihm gewähren kann. In den ersten Tagen nach der Entbindung kann auch die Mutter Unterstützung durch ihr großes Kind gebrauchen. Schließlich kann der Lehrer noch darauf hinweisen, dass es bestimmt gut schlafen kann, wenn es kräftig geholfen hat. Dem Kind werden hier Wertmöglichkeiten gezeigt, die es ergreifen kann.

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